Ein Trauerspiel nach Art der NRW-Landesregierung:
Bürger schutzlos Politischer Gewalt aus geliefert
Nachdem mich einer meiner Söhne Anfang März 2017 danach fragte, warum ich mich angesichts der drohenden Gewalt nicht schlichtweg verzogen hätte, erläuterte ich, dass ich angesichts der Tatsache, dass unser jüdischer Vorfahr Lindemann 1944 in Berlin als Holocaustopfer verreckt war nicht bereit war, mich staatlich geduldeter Politischer Gewalt zu unterwerfen. Nach der Nazidiktatur bestehe ich darauf, dass Deutschland ein Rechtstaat bleibt, ohne wenn und ohne aber!

Dann kann es doch nicht an gehen, dass die Polizei nach schwerer Politischer Gewalt zwar einen Rettungswagen kommen lässt, aber jede Ermittlung unterlässt, so dass die politische Öffentlichkeit dauerhaft nicht reagieren kann.

Erst mal muß ich den nächsten Krankenhausaufenthalt hinter mich bringen, bevor ich das genauer auf diese Punkte ein gehen kann,

Dies ist ein sehr politischer Bericht über die Folgen der Duldung Politischer Gewalt. Viele meiner grundlegenden Aussagen hierzu finden Sie in "Ex und Hopp...", z. B. zu den volkswirtschaftlichen Konsequenzen; Hintergrundinfos zu den zerschlagenen Möglichkeiten, Arbeitsplätze zu retten, im Nachwort.

In diesem Bericht erhalten Sie einen Überblick über den tätsächlichen Geschehensablauf von auf Beschluss unser Landesregierung geduldeter Politischer Gewalt und ihre Folgen, den ich erst im Jahre 2010, etwa siebzehn Jahre nach meiner Verletzung, zusammen zu stellen vermochte. Oh ja, die Folgen. Hoffentlich wird ihnen klar, warum in Deutschland ein paar hunderttausend Arbeitsplätze verloren gegangen sind. Unnötig verloren gegangen. Für ihren Erhalt wäre nicht mehr notwendig gewesen, als grundlegende Rechte auch konsequent zu schützen!

Die Formulierungen in ihm sind teilweise aktuell (Stand 2010), teilweise älter - bis Stand 1997. Meine noch älteren Anläufe waren als Folge meiner Verletzung schlicht nicht lesbar.    

Selbst die hier eingefügten älteren Text-Partien weisen in erschreckender Deutlichkeit auf die schweren geistig / seelischen Folgen meiner Verletzung hin, die ich erst in hartnäckiger, jahrelanger Arbeit überwinden konnte; und ihre Verwendung lässt eine Veröffentlichung meines Berichtes auf durchgehend neuem, viel besseren Stande bei einem Verlage in gedruckter Weise offen.
 
Schwerverletzt und traumatisiert in der Reha-Tongruppe geformt

Bilden Sie sich ihr Urteil:
 

Haben hier bekannte Politiker grundlegende Pflichten verletzt? Sind hunderttausende, ja (über all die Jahre seit 1993) Millionen Arbeitplätze verloren gegangen? Hat unsere Presse, die ja immer für die Menschenrechte eintritt, adäquat berichtet? Die bundespolitischen Korrespondenten der Redaktionen hatten schon persönliche Presseerklärungen erhalten.
 
Diesen ganzen Irrsinn und den volkswirtschaftlich sehr teuren Skandal seiner öffentlichen Duldung zahlen Sie und alle Bürger. Von einem, der ihn nur knapp überlebte, und ich war psychich noch schwer traumatisiert und ohne Emotionen, als mir dies Kunststück links im Bild gelang.

Meine persönlich Erinnerung  an die geduldete Gewalt habe ich in diesem selbst produzierten Musikstück verarbeitet: Alles so gut.

Nennen Sie mich einfach Reinhard Gamme
Titelbild - Vorschlag des Autors: Tonfigur von Reinhard Gamme, gefertigt 1994 in der Tongruppe des Neurologischen Rehabilitationszentrums Godeshöhe, Photo: Vera Gamme

 

INHALT - alle Kapitel und längere Kapitelteile auf neuem Stand können Sie bald mit einem Klick erreichen:

Vorwort (allerneuester, wohl endgültiger Stand)
Auf der B1 - ein Erwachen (Stand ´09)
Ex und hopp, oder: Antifaschisten schlagen zu
Schachmatt
Er sitzt
Durchstart
In der Übungswohnung
Abflug, oder: Ein Lebenslänglicher wird entlassen
Du feine (Stand ´09)
Ohne Hakenkreuz?
Auf der Schäl Sick
Reha-Wiedersehen (Gegen Ende Stand ´09)
Schlußwort (allerneuester, wohl endgültiger Stand)
Wirtschaftspolitische und Erfahrungen als Autor

 

<Vorwort (allerneuester, wohl endgültiger Stand)

Es hat sich viel geändert seitdem. Seitdem ich die ersten Versuche machte, nicht nur von Tag zu Tag über die Runden zu kommen, sondern diesen ganzen Wahnsinn im Zusammenhang nieder zu schreiben. Denn wenn ich ihn nicht voll ab bekommen hatte... wer dann?

Lassen sie mich nun damit beginnen, wie mein Entschluss zu diesem Bericht zustande kam. Mitten in der Nacht; es war jetzt schon früher Morgen. Ich hörte ein leises Lachen und spürte ein sanftes Beben in meinem Körper. Mann, ist das lange her.

In einer Mischung von schlaftrunken und aufgekratzt lag ich in meinem Bett. Vorsichtig lauschte ich den Atemzügen meines Zimmernachbarn. Gott sei Dank. Er schlief tief und fest. Auch wenn mich die Fülle von Ideen, die mir jetzt durch den Kopf schoss, fast elektrisierte, wollte ich ihn keinesfalls wecken. Ich würde also das Buch schreiben.

Dabei war das nicht mal meine eigene Idee gewesen. Ich war damals schon froh, wenn ich gut in meinen Rollstuhl und wieder raus kam, alle Zimmer der Klinik fand, in denen ich zu tun hatte, mir die Namen wenigstens der für mich wichtigsten Leute merken konnte, und halbwegs richtig machte, was Tag zu Tag von mir erwartet wurde. Nun, eine Tante und eine Cousine, die beide wussten, dass ich Erfahrung als Redakteur hatte, hatten es mir vor geschlagen. Warum ich mich dann auf so etwas einließ?

Natürlich auch, weil ich diesem Thema in den Schoß gefallen war, vor allem aber wegen meiner Sehnenscheidenentzündung. Nur schade, dass der Schoß des Themas so hart gewesen war. Auf so eine Landung hätte ich wirklich gerne verzichtet.

Dann auch noch meine Sehnenscheiden. Sonst hätte Gitarre üben absoluten Vorrang gehabt. Verkrüppelt und neben der Kappe, wie ich nun war, wollte ich jede kleine Chance nutzen, aus meinem Leben doch noch ein bisschen Sinn heraus zu holen. Freude - was war das noch?

In der Scheiße steckte ich ja schon bis oben hin. Da machte es mir etwas Mut, dass ich mehr als fünf Jahre erfolgreich vom Schreiben gelebt hatte; Zeitungsartikel, Jahrbücher, Presseerklärungen und und und... - mir war einfach nicht klar, dass meine Verletzung das jetzt fast unmöglich machen würde.

Dabei hatte alles ganz harmlos angefangen. In verschiedene Richtungen war aufgefallen, dass ich, ein junger Vater und Musiker, der für einen Verband mittelständischer Unternehmen arbeitete, dies vernünftig und wirksam tat. Wie viel Wert ich auf eine gründliche Durchforstung unseres Rechtsdschungels legte - und schwupp, schon hatte mich ein Landesjustizminister als Geschäftsführer eines rechtspolitischen Verbandes eingestellt. Ach ja, Jurist war ich ja auch.

Denn ich war zwar parteilos, hatte aber begriffen, welche Gewohnheiten und Interessen hinter dem Dickicht unserer Gesetze und anderer Vorschriften stecken, und bewiesen, dass ich durchaus wirkungsvoll auf eine Entbürokratisierung hin arbeiten konnte. Unsere Bürokratie vernichtet allein in Deutschland weit mehr als eine Million Arbeitsplätze.

Oh ja, ich kam genau aus der Gruppe der Interessenvertreter (der bösen Lobbyisten), die alle gegen die Bürokratie sind, nur dass in neuen Gesetzten regelmäßig ein paar kleine Vorschriften fehlen und unbedingt ergänzt werden müssen. "Meinem" Minister wurde schnell klar, dass ich das politische Spiel beherrschte. 1992 hatte ich damit endlich einen durchschlagskräftigen Apparat hinter mir, um z. B. zahlreiche Arbeitsplätze zu retten. Es hat sich viel geändert seitdem.

Zum besseren Verständnis meines gleich geschilderten Vorgehens im Angesicht der Gewalt will ich schon hier voran stellen, daß ich mit dem Auftrag meiner Eltern aufgewachsen war, jedem Angriff auf unsere Demokratie energisch entgegen zu treten. Meine Familie hatte genug unter dem Rassismus der Nazis gelitten. Wir waren sicher gewesen, dass so etwas mit der Demokratie vorbei war.

Schließlich war die Bundesrepublik Deutschland doch ein Rechtsstaat; davon war ich überzeugt. Viel hat sich geändert seitdem, verdammt viel.

Außer dem fühlte ich, dass meine Erfahrungen mir auch Verantwortung aufbürdeten. Beide waren politisch, die Erfahrungen, und meine Verantwortung auch. Denn ganz so von alleine war ich ja nicht in der Scheiße gelandet. Dazu gehören die, die mich da hineingeworfen hatten; immer voll der edelsten Ziele, und von höchsten Stellen geduldet. Beide waren der Ansicht, die Bewohner dieses Landes müssten nicht mit genauso viel Rücksicht behandelt werden, wie "Ausländer".

Die Konsequenzen? Ich bin erwerbsloser Krüppel, und in diesem Lande gingen hunderttausende, möglicherweise Millionen Arbeitsplätze verloren. Und genau davon handelt dieses Buch.

Vom Eia-Popeia in Fragen der inneren Sicherheit. Grade hier habe ich ja meine Erfahrungen gemacht, und so trage ich auch ein Stück Verantwortung in dieser Sache. Wie lange sollen Leute, die gewalttätige politische Gruppierungen über viele Jahre hinweg herum randalieren lassen, Ministerpräsidenten - oder mehr - bleiben? Das sollte Sie als zahlende Bürger schon interessieren, auch wenn die in meinem Fall versagenden Spitzenpolitiker inzwischen tot oder im politischen Ruhestand sind.

War doch die ganze Tragödie, die geduldete Gewalt, die verlorenen Arbeitsplätze, und das Unglück meiner selbst und meiner Familie nicht etwa ein nicht vermeidbarer Einzelfall, sondern früher oder später logische Konsequenz einer jahrelangen, unverantwortlichen Politik aus dem sicheren Wolkenkuckucksheim.

Den meisten Raum in diesem Bericht nehmen die Folgen der Politischen Gewalt für die unmittelbaren Opfer, in diesem Falle für mich und für meine Familie ein. Für meine ganze Familie - denn ich möchte schon klar machen, wie unmenschlich auch Politische Gewalt und ihre Duldung sind. Ich möchte erreichen, dass sich nach Lektüre dieses Berichtes einige Bürger unseres Landes genauer überlegen, ob sie politische Ziele mit Gewalt durchsetzen wollen - und Politiker, ob sie ihre Mitbürger dieser Gewalt gegenüber wirklich im Regen stehen lassen wollen.

Natürlich hätte ich jetzt endlich weiter schlafen sollen, aber dazu ging mir einfach zu viel durch den Kopf. Als ich schließlich doch eindöste, bildete ich mir ein, ich hätte mein Buch grundsätzlich fertig, und hell wurde es auch langsam.

Dieses Buch habe ich seither viele Male verbessert, überarbeitet, neu getippt, erweitert, umbenannt, und noch viel unvollkommener veröffentlicht. Was war ich naiv.

Versuchte, mir an Erfolgsautoren wie z.B. Ephraim Kishon, Karl May, aber auch Werken wie "Sämtliche Maghrebinische Geschichten" und "IGNAZ oder Die Verschwörung der Idioten" ein Vorbild zu nehmen. Grade der letzte Titel passte, fand ich, ganz gut zum Thema. Leider war ich viel zu schwer verletzt, um literarisch damit zu spielen.

Aber Menschenrechte und Freiheit sind immer aktuell. Darum gab ich nie endgültig auf, gegen ein, wie ich es empfinde, politisches Schweigekartell vor zu gehen.

Aber auch hierbei versuche ich, real existierende Personen durch die Verwendung eines anderen Namens zu schützen. Sollten also Sie, liebe real existierende Person, annehmen, so wie dargestellt seien Sie gar nicht als so edel zu erkennen, wie Sie in Wirklichkeit sind... Nun ja, es ist ja schon möglich, dass ich nicht nur bei den Namen das eine oder andere falsch verstanden habe. Sollten Sie sich jedoch als grob falsch dargestellt, ja geradezu als finsteres Gespenst karikiert empfinden, seien Sie nicht besorgt. Sie kann ich mit so etwas wirklich nicht gemeint haben.

Übrigens habe ich nicht vor, Leichen zu schützen. Die kriegen keine Decknamen. Das gleiche gilt für Personen im Lichte der Öffentlichkeit und für Organisationen, die nicht zu nahe auf geschützte Personen hinweisen. Sie werden insoweit Leichen gleichgestellt. Genauso gilt dies auch für etliche Angehörige meiner Familie. Wer es schafft, längere Zeit mit mir zu überleben, wird gewiss auch das verkraften.

An dieser Stelle habe ich ganz sicher vielen Helfern und Helferinnen zu danken. Oder wäre heute doch HelferInnen angebracht und zeitgemässer? Denn ohne ihre und deine (ja, ich meine Dich!) Hilfe hätte ich wohl kaum zehn Seiten zustande gebracht, dafür war mein Gedächtnis lange Zeit nach meiner Verletzung einfach zu schlecht.

Eines jedoch möchte ich wirklich versichern: Mir ist ja klar, dass einige in diesem Bericht gemachten Angaben nicht gerade alltäglich sind. Gerade in solchen Fällen bin ich besonders vorsichtig vorgegangen. Ich bin daher der Überzeugung, dass meine Aussagen auch und gerade hier stimmen.

Also rein in den Bericht:

 

Zurück auf den Boden - ein Erwachen (neuer Stand)

Dieser Himmel… weit, gradezu unendlich weit und blau ist er. An ihm prangt eine strahlende Sonne, die ihr Licht entschieden, fast brutal auf die Wälder wirft. Die Sonne strahlt von rechts, etwas vor mir.

Dort, wo keine Bäume stehen, glänzt der Schnee unter mir so hell, dass es bald unangenehm für meine Augen wird, und ich lieber in Richtungen schaue, wo der Schnee nicht so strahlt. In dem gleißenden Licht sieht man die Bäume und ihre Schatten wie ein schwarzes Muster auf dem weiten Land. Ein paar gewundene Flüsse und Seen gibt es da auch, weit weg. Und sehe ich nicht auch Häuser da unten?

Auch die Weite des Landes dort unten fällt mir von hier oben sofort ins Auge. Viele spitze, grüne Baumwipfel leuchten im Sonnenlicht; dazwischen scharf abgegrenzte Schatten. Auch wachsen die Wälder nicht in so regelmäßigen, geradegezogenen Reihen und nicht so gleichmäßig dicht wie bei uns. Der unregelmäßige Wuchs - es sieht ja ganz so aus, als ob die Bäume in den Waldstücken gar nicht alle gleich alt sind, außerdem sind die Waldstücke nicht rechteckig - lässt schnell deutlich werden, dass das keine deutschen Wälder sein können.

Dass wir nicht in Deutschland sind, macht schon der Schnee deutlich, der auf diesem riesigen Land überall herum liegt, auf den Bäumen und dazwischen. Nein, so einen Winter gibt es bei uns nur in den Alpen, eine Art von vernünftigen Bergen muss es dazu schon mindestens sein. Hier aber ist es hier höchstens leicht hügelig, und soviel Platz gibt es bei uns auch nicht. Wahrscheinlich sind wir hier irgendwo im Norden, aber wie Schweden oder Dänemark sieht das hier auch nicht aus. Und Norwegen kann das da unten schon gar nicht sein, dazu fehlen hier einfach die Fjorde.

Es ist Russland. Ziemlich weit und nördlich. Weit ist das Land, aber nicht sehr weit weg. Es sieht auch gar nicht so aus, wie ich mir Sibirien vorstelle. Dies gilt zumindest für die Städte und Dörfer hier.

Sibirien aber wäre auch hunderte Kilometer weiter östlich. Los geflogen bin ich von St. Petersburg, einer Stadt, die ihre Rolle viele Jahre als Leningrad gespielt hat und die sogar in einem Lied der Rolling Stones vorkommt. Ich fliege also lange Richtung Süden und sehe schließlich die Krim auftauchen, tief unter mir.

Diese große Wasserfläche da unten, mit ihren vielen kleinen Wellen, die in der Sonne glitzern, ist also das Schwarze Meer. Am Ufer viele Städte und Dörfer. Hübsch und romantisch sieht das aus von hier oben.

Und da unten, ist das vielleicht eine Art Baustelle? Aber irgend wie seltsam, jedenfalls ganz anders als Baustellen normalerweise. Und was ist das eigentlich da in der Mitte? Wie eine Art Riesenschlauch mit runden Enden. Dunkel ist er, und nicht wie aus Gummi. Sehr groß und sehr massiv wirkt das Ding von hier oben. Drumherum eine Art Gerüst.

Und die Leute da unten, winzig wie sie sind - komisch, wie Bauarbeiter kommen sie mir auch nicht vor. Aber, das ist doch Wahnsinn! Ein U-Boot, ein deutsches U-Boot aus dem zweiten Weltkrieg! Das haben sie da unten, in der Nähe des Ufers, gefunden, und jetzt wird es untersucht.

Dass ich das von hier aus sehen kann, ein U-Boot aus einem Düsenjäger! Dieser Düsenjäger ist sehr neu und modern, er ist noch kein Serienmodell. In Serie eingeführt soll er erst dann werden, wenn die Russen genug Geld dazu haben. Aufregend schön ist es, und spannend, all diese Länder und das Meer betrachten zu können, von so weit oben. Und der Sonnenschein überall.

Und dort, hinter ein bisschen blauem Meer, taucht schon die nächste Küste auf. Berge gibt es auch dort. Keine Riesenberge, aber immerhin. Und genau jetzt dringen mir Stimmen ins Cockpit.

Es sind die üblichen; ich höre auch nicht genau hin. Ich will doch weiterfliegen; dabei darf ich mich nicht um sie kümmern. Ist will gar nicht wissen, was sie diesmal wieder wollen. Ob da irgendwas weggewischt werden muss, ganz dringend, oder ob die notwendigen Medikamente schon bestellt, und wann sie zu erwarten sind. Sollen die Schwestern mal alleine klären, habe ich ohnehin nichts mit zu tun.

Ich höre weg und konzentriere mich auf den Flug. Betrachte auch das Land da unten, denn das Schwarze Meer habe ich jetzt schon hinter mir gelassen. Nun zieht eine Landschaft voller Berge und Täler unter mir dahin. Diese Berge werden höher und schroffer, je weiter wir ins Land hinein kommen. Das dort unten ist die Türkei, der Osten der Türkei. Und das glitzernde Wasser da unten war ja wohl der Vansee.

Langsam verändert sich auch die Vegetaton in den Bergen unter mir, und die werden noch steiler. Pflanzen wachsen da jetzt nicht mehr so viele. Meist bestimmen verschiedene Brauntöne das Bild, von Beige bis Rotbraun. Richtig steil und hoch sind die Berge unter mir jetzt. Schließlich habe ich auch die höchsten Kämme und Berge überquert und bin also über dem Irak.

Allmählich wird das Land weniger zerklüftet; die Flüsse dort unten sind Tigris und Euphrat. Sogar aus weiter Entfernung sind riesige Ausgrabungen zu erkennen; ein paar tausend Jahre alt sind diese Klamotten da unten bestimmt. Ihre Farbe passt gut zur Umgebung, sie fallen eigentlich gar nicht so sehr auf. Gut zu sehen sind sie vor allem wegen der harten Schatten, die sie in diesem Licht werfen.

Weiter stromabwärts treffen sich die beiden großen Flüsse. Der Strom da unten ist jetzt von beeindruckender Breite. Ich überfliege also ein Gebiet, in dem die Iraker und Iraner lange erbittert gegeneinander gekämpft haben. Das ist noch gar nicht so ewig her. Zuletzt gab es hier dazu noch eine Runde Golfkrieg.

Fast hätte ich diese Gegend kennen gelernt, ich habe sie nur knapp verfehlt. Von hier war ich gar nicht weit weg, damals, auf unserer großen Türkei-Reise. Es war heiß, und der Bus hatte Schwierigkeiten, am Tigris entlang weiter zu kommen. Von Hakkari aus liegt der Irak dann fast schon hinter der nächsten Bergkette. Auffällig ist da unten die jetzt noch dünnere Pflanzendecke. Aus dem Nebenzimmer höre ich die Stimme einer Krankenschwester.

Nie werde ich vergessen, wie unser Bus hier, tief in Kurdistan, vom Militär angehalten und die Insassen kontrolliert wurden. Ein junger Soldat, wahrscheinlich ein Wehrpflichtiger, befahl mir aufgeregt, meinen Rucksack auszupacken. Ich öffnete den Reißverschluss und hielt die Rasiercreme in die Höhe. Dem Soldaten sah ich tief in die Augen, bis schließlich immer mehr Fahrgäste zu lachen anfingen und mir sein Vorgesetzter, ein Offizier, hastig befahl, den Rucksack wieder zuzumachen.

Aber auch St. Petersburg, wo ich vorhin los geflogen bin, ist mir wirklich nicht egal. Schon oft habe ich Briefe von da bekommen und auch dorthin geschrieben; auch, wenn ich noch nie dort war. Was ich mit St. Petersburg zu tun habe? Familie.

Mein Urgroßvater kam aus Coburg. Alte Geschichten, für die ich mich nie übermäßig interessiert hatte, bevor mein Vater gestorben war. Ich wusste wenig mehr, als dass die Mitgift meiner Urgroßmutter bemerkenswert groß war - es war von einer vierspännigen Kutsche die Rede - und dass es am Coburger Hofe aufgefallen war, was für eine bezaubernde junge Frau mein Urgroßvater neuerdings dauernd zum Tanzen mitbrachte. Einmal erwähnte ich bei einem Besuch in Coburg ihren Namen Sangalli. Dies sollte unerwartete Folgen haben.

Damals, mein Vater war kurz vorher gestorben, wollte ich gerne mehr darüber wissen, was für Leute meine Vorfahren eigentlich waren. Seitdem war mir aufgefallen, dass manche Menschen, die schon ewig tot waren, irgendwie auch zu meiner Familie gehörten.

War ich auch vorher noch nie in Coburg gewesen, und hatte ich mich noch nicht einmal dafür interessiert, wo eigentlich diese Stadt liegt, wollte ich nun endlich doch mehr über meinen Urgroßvater herausfinden. Warum eigentlich hatte der sich bei Hofe herum getrieben? Ich war wirklich überrascht, dann ausgerechnet in Coburg auch noch mehr über St. Petersburg und das Treiben meiner Sippe zu erfahren. Denn dass meine Urgroßmutter von St. Petersburg gekommen war, hatte ich gehört.

In Coburg angekommen hatte ich kaum im Archiv im Schloss nachgefragt, da bemerkte ich eine seltsame Nervosität bei dem Archivar. Und als ich dann erzählte, wie mein Urgroßvater mit seiner Verlobten Adele Sangalli bei Hofe getanzt habe; verschwand er im Nebenzimmer und brachte mir einen Packen Papier.

Es war die Autobiografie des Onkels meiner Urgrossmutter, aus dem Russischen übersetzt von einem Mann, der in seinen langen Jahren Kriegsgefangenschaft nach Stalingrad Russisch gelernt hatte.

Das war wirklich unerwartet. Der Übersetzer hatte die Autobiografie meines Ur-Urgroßonkels im Nachlass seiner Lebensgefährtin entdeckt, einer Sangalli-Nachfahrin, mit der er ausgerechnet in Coburg zusammengelebt hatte, und seine Übersetzung wenige Tage zuvor dem Archivar vorbeigebracht. Zwei Tage später traf ich den Übersetzer der Autobiografie und erhielt eine Kopie von ihm.

Wie ich jetzt lesen konnte, hatte die Familie Sangalli eine sehr große Fabrik in St. Petersburg gehabt. Der Onkel hatte das Unternehmen gegründet und lieferte technische Geräte in die ganze Welt, auch an den Zaren. Nachdem ich die Autobiografie bekommen hatte, und um noch mehr über das alles zu erfahren, schrieb ich nach St. Petersburg und erhielt auch Antwort. Ich glaube, diese St. Petersburger waren sehr froh, dass sie jemandem nicht egal waren. Ihre Antworten jedenfalls fielen ziemlich herzlich aus.

Natürlich gäbe es über all das viel mehr zu erzählen; aber auch die schönsten Reisen haben ihr Ende, selbst die im Bett. An Hakans Bett wuselte jetzt eine Krankenschwester herum, und meinte noch, dass ich jetzt auch aufwachen sollte. Gleich sollte ich wieder Sitzen lernen. Oh ja, damals gab es eigentlich nichts, was ich richtig konnte, sei es auch nur Reden oder Rollstuhl fahren.

So vieles soll ich tun, immer, den ganzen Tag lang; ich habe keinen Überblick. Aber wenigstens bei meinen Touren durch das Firmament komme ich ohne Hilfe aus; jeden Tag ist es eine große Freude, von der ich gerne erzähle.

Aber das dauerte zum Glück nur ein paar Wochen; Logopädinnen, Ergotherapeutinnen, und zwei, und manchmal auch drei Krankengymnastinnen halfen mir dabei. Schon bald sitze ich gerne, und vor allem: selbständig, ohne alle Gurte, beim Essen. Dazu komme ich in die Küche der Station, wo Krankenpfleger und -schwestern sitzen. Es ist schön, so zusammen zu mampfen. Die anderen, die hier arbeiten, teilen sich die Besorgung ihres Essens. Eine Zeitung liegt auch meist da.

Interessant sind die Unterhaltungen dort eigentlich immer. Wir sind eine gute Mannschaft. Gerne werfe ich meinen Rollstuhl an, um hinzukommen. Dazu muss ich fast bis zum Ende des Flurs. Dort ist die Küche, gleich neben der Glastür.

Aber ich bin, ist ja wohl klar, nicht immer im Flugzeug unterwegs. Einmal fahre ich sogar zum Waldkrankenhaus. Dort soll festgestellt werden, wie es meinem Hals bzw. dem Schnitt darin geht. Was heißt: ich fahre? Ins Waldkrankenhaus werde ich - ein paar hundert Meter sind es schon bis dort - natürlich gefahren, mit einem Taxi. Als ich ausreichend zu Bewusstsein komme, um mich daran erinnern zu können, sind wir auf dem Parkplatz vor dem Haus, den ich jetzt zum ersten Male mitbekomme.

Es ist sogar das erste Mal, bei dem ich mitbekomme, nicht auf der Station zu sein. Im Freien! Wirklich aufregend wäre das; aufregend, wenn ich nur wüsste, wie das geht.

Ich sehe eine ganze Reihe Autos hier draußen. Und den Taxifahrer natürlich, der mich auffordert, mich in seinen Wagen zu setzen. In seinen Wagen? Ob ich das kann? Nun, da Sie diesen Bericht lesen, wird Ihnen schon klar sein, dass ich es geschafft habe. Aber fragen sie mich nicht, wie.

Glauben Sie mir, ich erkenne fast alles. Straße, Häuser, Bäume… und natürlich, dass wir nach kurzer Zeit in die Einfahrt eines besonders großen Hauses einbiegen. Der Taxifahrer erklärt mir, dass dies das Waldkrankenhaus sei. Er holt den Rollstuhl für mich aus dem Kofferraum, hilft mir hinein, und schiebt mich bis zu seiner Pforte.

Und alle naselang Leute, die hier hin und dort hin gehen. Manche gemächlich, manche eilig. Jeder scheint zu wissen, was er zu tun hat. Ob ich das auch wissen sollte? Absurd; dafür sind doch all die Leute da, die mir das sagen.

Der Taxifahrer jedenfalls weiß, wo es lang geht und wartet, bis ich wieder fertig bin. Erst einmal aber übergibt er an der Pforte einen Umschlag mit Unterlagen darüber, was mit mir angestellt werden soll. Natürlich werde auch ich dort abgeliefert.

Wie gut, dass der Taxifahrer wusste, wo ich hier hin soll! Wo ich schon froh bin, auf der Station den Weg ins Schwesternzimmer und zurück zu schaffen. Ohne so einen Taxifahrer würde ich nie richtig ankommen nach meiner Hirnverletzung.

Wenig später gleiten im Waldkrankenhaus sehr lange Gänge und viele Türen an mir vorüber. So viele Türen. Ein Krankenpfleger schiebt mich zielstrebig vorwärts bis in ein geräumiges Zimmer mit einer beeindruckenden Vielfalt an ärztlichen Requisiten und einer kunstlederbezogenen Liege. In diesem Zimmer empfängt mich eine Krankenschwester. Sie teilt mir freundlich und etwas ratlos mit, dass der Herr Doktor leider noch nicht da sei. Seine Operation dauere etwas länger, und natürlich könne er dort nicht weggehen, bis er sie beendet habe. Aber er werde gewiss bald kommen.

Die Zeit vergeht. Für den Taxifahrer wird das ja wirklich eine ruhige Schicht. Ich habe jetzt Ausgiebig Gelegenheit, die vielfältigen Utensilien in diesem Zimmer zu bewundern. Bloß, wozu sie alle eigentlich dienen, bleibt mir bei den meisten Dingen doch ziemlich unklar. Ich versuche auch nicht wirklich, etwas zu begreifen. Ich verstehe, dass ich jetzt warten muss. Und zwischendurch, von Zeit zu Zeit, schaut die Krankenschwester immer mal wieder herein.

Die Operation hat natürlich Vorrang; ich muss warten. Also warte ich, und ich warte. Da kommt plötzlich die Krankenschwester wieder herein. Ihr Gesichtsausdruck ist jetzt nicht mehr so angestrengt, und diesmal verkündet sie fröhlich, dass die Operation endlich zu Ende sei. Nun könne es aber wirklich nicht mehr so lange dauern.

Und es dauert auch wirklich nicht mehr sehr lange, schon ist der Arzt da. Nach kurzen Doktorworten beugt er sich über mich und schaut meinen Hals an, dass ihm das Wissen nur so aus den Augen purzelt. Natürlich fragt er mich, ob es mit dem Atmen alles wieder richtig klappt. Keine ganz unwichtige Frage, und ich muss den Mund aufmachen.

Als feststand, dass ich wieder richtig selber atmen konnte, war mein Hals mir wieder zugenäht worden, und das aus gutem Grund. Schmierige Finger sind nicht besonders hygienisch, schon gar nicht, wenn sie mit Blut und Gewebsflüssigkeit verschmiert wurden, wie meine. Und mit Blut und Gewebsflüssigkeit verschmiert waren meine eigentlich immer. Jedenfalls immer dann, wenn ich sie auf den Hals gelegt hatte.

Und ich hatte eigentlich ständig einen guten Grund, sie auf den Hals zulegen; wozu, wusste ich genau. Mit aufgeschnittener Luftröhre konnte ich doch nicht vernünftig sprechen; und meine Finger auf dem Schnitt halfen da schon. Aber das war einfach zu unhygienisch, um es zur Gewohnheit werden zu lassen, und deshalb war mir mein Hals wieder zugenäht worden.

Und darum schaut der Herr Doktor jetzt in meine Kehle und will feststellen, ob alles so zusammengewachsen ist, dass keine Infektionen oder Schwierigkeiten beim Luftholen zu befürchten sind. Es dauert nicht lange, bis er zu dem Schluss kommt: "Wir sind jetzt fertig. Sie können jetzt gehen."

Aber was heißt hier schon gehen? Kurz danach werde ich im gleichen Rollstuhl wieder in Richtung Ausgang geschoben, wo der Taxifahrer wartet. Der wenigstens weiß, wie so ein Rollstuhl zusammenzuklappen ist. Wichtig, denn sonst würde mein Rollstuhl nicht in den Kofferraum passen; und den Weg zurück kennt er auch. So komme ich ganz ohne noch einen Sturz zurück in mein Krankenhaus.

Ist Ihnen vielleicht klar, wie bemerkenswert ich es finde, dass jemand sich einfach vor sein Auto stellen, meinen Rollstuhl zusammenklappen, und dann hinein heben kann? Ohne hin zu fallen? Glauben Sie mir, ich für mein Teil habe vom Stürzen mehr als genug. Aber lassen Sie mich hier erst mal erläutern, warum ich mein Leben in Krankenhäusern friste. Das kam nämlich so:

 

Ex und Hopp, oder: Antifaschisten schlagen zu

Ich öffnete meine Augen und und grüßte meine Frau neben mir: "Guten Morgen, Vera". Dann drückte ich den Wecker aus.

Jetzt war es also schon kurz vor sieben. Ich war guter Dinge. Heute wollte ich wieder früh zur Arbeit. Ich hatte mehr als genug zu erledigen. All die Post, die sich in vier Wochen Urlaub angesammelt hatte. Soviel konnte ich beim besten Willen nicht in zwei Tagen weg arbeiten.

Auch heute und morgen wollte ich wieder eine gute Portion eingegangene Post beantworten. Und dann würde ich mit Minister Helmrich ein paar grundsätzliche Worte reden. Warum wir eigentlich nicht in die Gesetzgebungsverfahren eingebunden waren. Denn jede Bürokratie wurde am wirksamsten bekämpft, bevor sie entstand.

Dass ich keinen Apparat hier in Bonn hatte, machte mir keine Sorgen. Nun, es gab genug große Verbände, die mit Kusshand die Möglichkeit wahr nehmen würden, über mich einen heißen Draht mehr in die hohe Politik zu gewinnen. Vor allem für ein so sinnvolles Anliegen, wie die Gesetzes- und Verwaltungsvereinfachung würde ich gewiss etliche von ihnen für eine Zusammenarbeit gewinnen können. Ich hatte ihr allgemeines Wehklagen gut im Ohr.

Das war genau die Arbeit, die ich mir aus gesucht hatte. Ein sehr guter Grund, jetzt hurtig aus den Federn zu kommen.

Mir war sehr klar, was ich heute tun wollte. Schließlich wusste ich genau, wie ich mich wirksam für eine Vereinfachung unseres Rechtes einsetzten konnte. In diesem dicken Stapel Post, der während unseres Urlaubs aufgelaufen war, warteten noch eine gane Reihe wichtiger Aufgaben auf mich.

Also gleich aufgestanden, ins Wohnzimmer rüber und einen Blick aus dem Fenster geworfen: Wetter gut. Himmel blau, und ich spürte die warme Luft an meiner Haut. Das reinste Fahrradwetter, schon wieder. Es sah ganz nach einem tollen Tag aus. Nach einem Frühstück mit meiner tollen Frau und meinen lieben Kindern. Und vielen sinnvollen Aufgaben, die ich erledigen konnte.

Und da hinten die Straße - keine Busse wie bei der Bauerndemo. Denn eine Demo war auch wieder mal angekündigt. Gegen so einen Beschluss, mit dem der Bundestag das Asylrecht ändern wollte. Das wußten wir aus Zeitung und Nachrichten. Aber so, wie das von hier aus aussah, konnte das ja wirklich keine große Sache sein.

Ich machte mir keine Gedanken. Demonstrationen gehörten in Bonn einfach zum Üblichen. Und da ich nicht wie ein Demonstrant aus sah, hatte ich von der Polizei auch nichts zu befürchten - diese Zeiten waren lange vorbei.

Also zuerst mal zum Rasieren ins Bad. Aha. Die Klinge war noch scharf genug. Gestern und vorgestern hatte die Sonne auch schon geschienen, und es war ziemlich warm gewesen. Vielleicht würde es dann heute warm genug zum Baden? Immerhin war schon der 26. Mai; bis zum Juni dauerte es jetzt nur noch wenige Tage. Jetzt wollte ich endlich mal wieder Sonne und Wasser auf meiner Haut spüren; zum ersten Mal in diesem Jahr nach der langen, kalten Jahreszeit. Also heute abend nach der Arbeit...

Aber erst musste ich mich jetzt zuende waschen und anziehen. Bei dem tollen Wetter heute war ein Jacket nur lästig beim Fahrrad fahren, und ich musste heute zu keinem offiziellen Termin. Da reichten einfach Hemd und Hose. Kurz überlegt. Bei so einem Wetter was Helles, ein blaues Hemd und eine beige Hose. Mit dem Schlips wollte ich besser bis nach dem Essen warten. Konrad, der in den Kindergarten wollte, war inzwischen auch schon wach.

Ich ging also in die Küche, wo Vera sogar schon den Tisch gedeckt hatte. Und der Tee zog schon; bis zum Frühstück konnte es nun wirklich nicht mehr lange dauern. Also gleich Butter und Marmelade aufs Brot; lange rumsitzen wollte ich jetzt nicht. Und Konrad kam nun auch schon herein. Nur Daniel lag immer noch im Bett, er jedenfalls hatte es nicht eilig. Zwei Jahre alt würde er ja erst einen Tag später, heute wollte ihm Vera noch ein Geburtstagsgeschenk kaufen. Heute vormittag sollte er erst mal zu seiner Kinderfrau, aber das war erst später vorgesehen.

Mein Frühstück dauerte nicht lange; und nun band ich mir auch einen Schlips um. Das war einfach notwendig bei einer Arbeit wie meiner.

Wahrscheinlich musste ich auch heute wieder mit einem Band voller Briefe in den Bundestag zu Frau Siedler. Frau Siedler arbeitete neben ihrer Hauptbeschäftigung als Abgeordnetensekretärin auch noch für die GFE (Gesellschaft zur Förderung der Entbürokratisierung) und schrieb, was sie von mir, deren Geschäftsführer, auf Band bekam. Dazu hatte ich sie gewonnen. Eine Sekretärin extra für die GFE wäre wirklich des Guten zuviel gewesen; die GFE war ein kleiner Verband.

Der Weg zu ihr im Bundestag war angenehm kurz; von meinem Büro weniger als fünf Minuten zu Fuß. Und zum Bundesrat war es auch nicht weiter. Das war schon praktisch; jederzeit konnte und oft musste ich auch schnell und ohne Probleme dorthin. An Schlipsen genug dazu fehlte es mit ebenfalls nicht.

Also erst mal runter in den Keller und zu meinem Fahrrad unter der Treppe. Den Beutel mit Brot für mein Mittagsessen und einem Handtuch zum Abtrocknen nach dem Baden auf den Gepäckträger, ein paar Schritte hoch und raus mit dem Rad. Sehr angenehm war es heute, wirklich sehr schön. Die Sonne lachte vom blauen Himmel, und so früh am Vormittag war es wirklich auch noch nicht zu heiß. Kein Problem mit dem Fahrrad, schon gar nicht ohne Jacket. Da konnte ich ja wirklich hoffen, dass es nach der Arbeit warm sein würde, warm genug zum Baden.

Als ich mich jetzt aufs Fahrrad schwang, lachte nicht nur die Sonne vom Himmel, sondern auch mein Auto. Faul und zufrieden ließ es mich ohne Protest weg strampeln. Verkehr gab es gerade keinen in der Rilkestraße, und Kinder waren auch nirgend wo zu sehen. Also los!

Wie meist lag die Rilkestraße ruhig vor mir, und bis zu ihrem Ende war es von uns aus nicht weit. Durchgangsverkehr gab es hier keinen. Bloß Eingeborene fuhren hier hin und weg. So wie ich.

Jetzt musste ich aber mal kurz überlegen, ob ich zum Rhein runter und ihn entlang oder gleich die Rudolf-Hahn-Straße Richtung Südbrücke fahren sollte. Ich musste nicht lange grübeln. Auf die Südbrücke käme ich ja nicht gleich vom Rhein aus, das wären bestimmt 300 m Umweg.

Auch an diesem Tag wollte ich wieder eine große Partie Arbeit erledigen, das war mir wichtiger, als eine gemütliche Fahrt am Rheinufer. Also gleich die Rudolf-Hahn-Straße links ab.

Dazu musste ich jetzt doch genau hingucken. Auf der Rudolf-Hahn-Straße gab es schon Durchgangsverkehr, und dass hier mal jemand nur 50 km/h fuhr, kam nicht ausgesprochen häufig vor. Und ich wollte heute zur Arbeit und nicht ins Krankenhaus.

Bei dem Wetter war ein bißchen Warten kein Problem. Es war wie immer: Mal kam ein Schwung Autos, mal herrschte Ruhe. Deshalb konnte ich jetzt schon bald fröhlich in die Pedale treten, Richtung Südbrücke.

Einfach angenehm, im Sonnenlicht und warmer Luft um mich. In friedlicher Atmospäre, erst noch mit Häusern links und rechts, und erstreckte sich nach einer Ampel links eine Baumschule, und rechts lagen Bäume, Büsche und Wiesen: Die Rheinaue. Jetzt war es nicht mehr weit bis zur Südbrücke.

Ich kam rasch voran, und schon bald würde ich mich dem dicken Packen mit Bürgeranfragen auf meinem Schreibtisch widmen können. Oh ja, ich hatte gründlich gelernt, wie sehr dieser Wust von Gesetzen und Verwaltungsvorschriften nicht nur einzelne Bürger belastet, sondern auch unserer Volkswirtschaft schadet. Auch, wenn die Fachleute sind sich nicht einig sind, ob dadurch eher eine oder zwei Millionen Arbeitsplätze vernichtet werden; eins ist klar: Es sind viel zu viele.

Spätestens bei den vielen Anhörungen hatte ich verstanden, dass es die Interessengruppen selbst waren, die mit der Vielzahl ihrer Anliegen entscheidende Anstöße zum Wuchern der Bürokratie gaben, über die sie jetzt zu Recht so sehr klagten. Was für ein Privileg für mich, jetzt auf der richtigen Seite zu stehen, und ohne Rücksicht auf Sonderinteressen gegen das Vorschriftengestrüpp vorgehen zu können!

Die Sonne schien auf mich, die Straße war frei, und ich kam gut voran. Hier schon. Aber hier gab es ja auch eine Straße. Nun stellen Sie sich mal vor, die Strasse wäre überwuchert, und sie müssten mit dem Traktor zur Arbeit. Ja, alle müssen mit dem Traktor fahren. Wohin auch immer, und mit welcher Ladung auch immer. Denn so ähnlich wirkt die Bürokratie.

Für Investitionen ist ein ein vernünftiges Rechtssystem, das rasche Entscheidungen der Verwaltung möglich macht, in vergleichbarer Weise Voraussetzung, wie ein gutes Straßennetz für den Transport von Menschen und Gütern. Vielleicht können Sie sich jetzt vorstellen, wie die Bürokratie wirkt: Auch die Wirtschaft wird ein gutes Stück gelähmt.
Was war ich doch für ein priveligierter Mensch! Genau die Arbeit, die ich wollte, und jetzt musste ich nicht mehr so auf den Pfennig kucken. Sogar neu gekauft hatte ich das Fahrrad, auf dem ich grade dahin radelte; zum ersten Male in meinem Leben neu gekauft.

Und meine Familie. Meine hübsche Frau, die nicht grade verklemmt war, und unsere zwei Söhne, die ich liebte, und denen ich ein guter, wirklich guter Vater sein wollte.

Aber jetzt konnte ich meine Gedanken nicht weiter schweifen lassen. Vor mir sah ich nun schon die Südbrücke näher und näher kommen. Hinter der Baumschule links lagen bewaldete Hänge, die jenseits der Brücke noch höher wurden und in das Siebengebirge übergingen. Den Rhein hinter den Bäumen, Büschen, und weiten Wiesen rechts konnte ich nicht sehen. Aber ich hatte mich hier schon genug herum getrieben, das er auch so vor meinem inneren Auge lag.

Ich trat in die Pedale. Mir war, als ob die Landschaft dort herüber grüßte und mir für meine Konzerte dankte. Zwei davon hatte ich da hinten am Rhein organisiert und durchgeführt, zusammen mit Musikern aus Bonn und Köln. Einmal hatte sogar die Zeitung berichtet.

Es war aber auch genug Arbeit gewesen, einen Generator zu organisieren und ihn zusammen mit den notwendigen Lautsprechern und Verstärkern hier hin- und zurück zu transportieren. Ohne Verstärker und Boxen wäre hier einfach nichts zu hören gewesen, dazu war der Verkehrslärm von der Südbrücke runter zu laut.

Und das alles jeweils in zwei Tagen hin zu kriegen, damit es mit dem Wetter keine bösen Überraschungen gab.

Jetzt aber durfte ich nicht länger vom Musikmachen träumen, nun musste ich mich auf den Weg zur Arbeit konzentrieren. Denn hier musste ich rauf auf die Brücke über den Rhein. Erstaunlich. Heute waren wirklich viel mehr Fahrräder unterwegs als gewöhnlich. Das waren wohl die Folgen des schönen Wetters. So lange, wie der Himmel jetzt schon blau war; na ja, irgendwann mussten das ja auch andere merken, wie gut da Fahrradfahren geht.

Inmitten glitzernder Wellen unterquerte ein dickes holländisches Schubschiff die Südbrücke. Und da vorne, was war denn da los? Schienen ja erstaunlich viele Leute zu sein. Komisch. Vielleicht hatte das ja irgendetwas mit der angekündigten Demo zu tun. Aber was? Lange konnte ich nicht darüber nachgrübeln, denn nun war ich schon über den Rhein rüber und hier trennte sich der Fahrradweg von der Brückenauf- und Abfahrt für Autos.

Ich bog die schmale Brücke nur für Fahrräder und Fußgänger rechts ab, weg von der großen Brückenanfahrt für Autos, herunter auf das Niveau des Rheinauenparkes, und dann über eine Art Parkplatz mit dem hochtrabenden Namen Sträßchensweg rechts ab Richtung Bundeshaus. Gleich würde ich jetzt da sein, denn zur GFE, zur Welckerstraße war es nun nicht mehr weit.

Innerlich fühlte mich jetzt schon fast wie wie angekommen, stimmte mich auf die Arbeit und die Tage vor mir ein. Bei dieser Gelegenheit tauchte auch das Syndikat vor meinem inneren Auge auf. Schon übermorgen würde ich dort wieder singen, Gitarre und Saxophon spielen können, wie jede Woche. Sogar an die CD dachte ich, die bald mit einem Stück von uns erscheinen sollte. Doch lange konnte ich meine Gedanken nicht schweifen lassen.

Denn komisch, da vorne war ja wohl doch eine Demo, eine ziemlich große sogar. Überall Leute, viele hundert auf den weiten Wiesen, und selbst auf der großen Straße liefen viele herum. Dazwischen Fahrradfahrer mit etwas hilflosem Gesichtsausdruck. Aber was war schon eine Demonstration? Und mit dem Asylrecht hatte ich doch nichts am Hut.

Ich würde einfach sehen, wie ich zu meiner Arbeit kommen konnte. Auch wenn ich dazu heute vielleicht etwas mehr Mühe aufwenden musste. Hoffentlich machten die Demonstranten nicht zu viel Stress.

Also versuchte ich es erst mal auf ganz normale Art und Weise über den Sträßchensweg, auf der einen Seite die Wiesen des Rheinauenparkes, auf der anderen Seite das Johanniter-Krankenhaus, ein weitläufiger Komplex. Aber an diesem Tage war wirklich alles ganz anders als sonst. Nichts von wegen ruhig, heute liefen hier dicht gedrängt hunderte oder ein paar tausend Leute herum, im schönsten Sonnenschein.

Je näher ich jetzt dem Bundestag kam, desdo agressiver wurde die Stimmung der Menge um mich herum. Diese Demonstranten wollten niemanden durchlassen. Die meisten waren so Anfang 20, und ich kannte die Szene noch gut aus meiner Zeit als Student in Heidelberg. Wie recht sie alle hatten! Und wie sehr sie dem Guten zu seinem Recht verhelfen wollten.

Dazu sprangen jetzt alle paar Meter ein paar von ihnen in meinen Weg und breiteten ihre Arme aus oder riefen einander zu: "Achtung! Da kommt wieder einer mit Schlips!" Dann kamen noch andere Demonstranten dazu, um mir ebenfalls den Weg zu versperren.

Natürlich waren auch die vollkommen im Recht. Die Büttel der Unterdrücker, oder Leute wie ihre Eltern wollten sie wenigstens hier und heute auf keinen Fall durch lassen.

Es war meine eigene Schuld. Hatte ich nicht geschnallt, dass ich einfach schon ein paar Jährchen zu lange herum gelaufen war, um jetzt als harmlos durch zu gehen? Und dann wollte ich hier auch noch mit Schlips und Hemdenkragen durch! Oh, wie ihre Gutwilligkeit ihnen gradezu von den Lefzen tropfte.

Natürlich mussten sie mir Einhalt gebieten. Sie sprachen nicht darüber, aber machten nur zu deutlich, dass sie zur Not auch sehr handgreifliche Argumente vorbringen würden. Meine eigene Schuld!

Das wurde ja wirklich heiter. Nur ab und zu kam ich noch ein paar Meter weiter. Dabei hatte ich noch so viele Briefe zu beantworten, und ob ich es heute bis zur Post schaffen würde, war unter solchen Umständen wirklich mehr als zweifelhaft. An diesem Tage konnte ich ja nicht einmal sicher sein, dass es die Briefe an die GFE bis zum Postfach geschafft hatten. Schöne Aussichten.

Schon wieder drängten sich mir jetzt Demonstranten in den Weg. Ob ich nicht wüßte, was heute für ein Tag sei. Die Politiker würden heute das Asylrecht brutal einschränken. Arme Neger und Türken könnten dann nicht mehr so einfach nach Deutschland, vielleicht sogar überhaupt nicht mehr. Das wäre doch wirklich zu schlimm. Jetzt aber seien die Deutschen an der Reihe. Die müßten wohl unbedingt lernen, wie schlimm es wäre, nicht durchgelassen zu werden.

Natürlich war ich da anderer Meinung; spätestens, als ich den Ausdruck "Symbolischer Akt" hörte. Symbolisch? Zu ihren Methoden fiel mir nur das Wort "Gewalt" ein.

Trotzdem schaffte ich es noch ein ganzes Stück weiter. Klar, es dauerte ewig lange, nicht wie normalerweise höchstens fünf Minuten. Aber am Johanniterkrankenhaus war ich jetzt schon vorbei, dreihundert Meter hatte ich jetzt bestimmt noch geschafft. Auf der linken Seite lag jetzt eine Reihe von Gründerzeitvillen, die teilweise als Botschaften genutzt wurden. Vor mir kam schon der lange Eugen näher, dieses Hochhaus voller Abgeordnetenbüros.

Normalerweise wäre ich jetzt den direkteste Weg in seine Richtung und an ihm entlang hin zu der Geschäftsstelle der Gesellschaft zur Förderung der Entbürokratisierung gewesen, wo zahlreiche Briefe auf mich warteten. In diesen Schreiben wandten sich viele Bürger, ja, sogar ein paar Verbände an die GFE und baten sie um Hilfe. Dem Verwaltungsgestrüpp durften sie nicht länger alleine ausgeliefert bleiben. Ich sagte ja schon, dass genau dies meine Aufgabe war.

Aber zur GFE ging es genau am Bundestag entlang, ind natürlich war grade in die Richtung meines Büros nirgendwo ein Durchkommen. Dafür blockiertenten die vielen tausend Demonstranten alle Wege dort entlang zu massiv. Nur die Bürokratie ließ sich weder behindern, noch machten die "Symbolischen Akte" den geringsten Eindruck auf sie.

Also fuhr ich in eine kleine Straße schräg links ab, die seltsamerweise auch Sträßchensweg heißt. Damit war ich schon schräg hinter dem Freizeitpark Rheinaue und hatte die Chance, hier am Bundestag vorbeizukommen. Ein kleines Stück davor lag schräg rechts die St.-Winfried-Kirche, ein eher flaches, kleines Nachkriegsbauwerk, deren Architekt gewiß etwas gegen vieles hatte; und dies hatte unübersehbare Spuren bei ihr hinterlassen. Zwischen ihrer Rückseite und dem Bundestag lag nur noch eine tiefer gelegte Schnellstraße.

Über diese Schnellstraße und dann am Bundestag vorbei wäre ich jetzt natürlich auch noch gerne gekommen; die kurze Strecke weg vom Bundestag hätte ich dann gewiss auch noch geschafft. Doch dazu musste ich mich jetzt meterweise vorarbeiten; voran durch immer dichter gedrängte Menschenmassen, herbei an Pulks von Demonstranten, die den Weg, teilweise viele Reihen tief und untergehakt, versperrten. Dahinter war dann schon, mehr zu ahnen als zu sehen, die Polizeiabsperrung rings um den Bundestag. Dort vorne gab es Polizisten genug; aber davon hatte ich als einfacher Bürger garnichts.

Nur von oben grüßte die Freiheitlich Demokratische Grundordnung in Form von Hubschraubern, in denen die Bundestagsabgeordneten zu ihrer Sitzung geflogen wurden; ihre Rotoren konnte ich von hier unten genau hören. Denn soweit hatte ich die Demonstranten inzwischen schon verstanden: Sie versuchten wahrhaftig, eine Abstimmung unseres Parlamentes zu verhindern, in dem sie unsere Abgeordneten nicht hinein ließen!

Freiheitlich oder demokratisch - das mochte da oben sein, hier unten herrschte insoweit Pustekuchen. Und Grundordnung? Das nackte Chaos. Mein Fahrrad neben mir herschiebend, versuchte ich, mich durch die Demonstranten zu drängen, aber die bekamen von beiden Seiten gruppenweise Verstärkung. So hatte ich keine Chance.

Gegen zwei oder drei von denen hätte ich mich wohl noch durchsetzen können, aber doch nicht gegen hunderte. Meine Zähne wollte ich lieber noch eine Weile behalten.

Da sah ich noch kurz vor der St.-Winfried-Kirche einen Polizisten. Der stand da so herum und schien nichts Besonderes zu tun zu haben. Seltsam. Er ließ die Demonstranten in Ruhe, und die Demonstranten ihn.

Voller Ärger drängelte ich mich zu ihm hin. Es waren vielleicht sieben oder acht Meter, aber mehr als drei oder vier Minuten kann es nicht gedauert haben - inzwischen hatte ich ja schon Übung danit. Also schffte ich es. Und dann brachen meine Wut und meine Enttäuschung aus mir heraus.

Ich erzählte ihm, wie ich jetzt seit mehr als einer Stunde versucht hatte, zu meiner Arbeit zu kommen. Wie ich der Gewalt hier genauso hilflos aus geliefert war, wie noch viele andere Bürger mehr.

Ob der Staat uns Bürger wirklich allein lassen wolle, wo es um das Funktionieren unserer Demokratie ging. Und ganz nebenbei, wie mir nur zu klar gemacht geworden war, auch um unsere Freiheit und Gesundheit. Sonst war die Polizei doch oft bei jedem Pups da.

An diesem Tage war ich bei Weitem nicht der erste, der ihn bat, ihm beim Durchkommen zu helfen. Ich fühlte ich mich total allein gelassen, als Mensch, und mit der für unser Gemeinwesen wichtigen Aufgabe, die mir übertragen worden war.

Doch genau in diesem Moment kam eine Frau dazu. Auch sie hatte sich durch die dichte Menge gedrängelt und meinte: "Wir kennen uns doch von der Rilkestraße. Sie gehen da oft mit ihren Kindern spazieren, wenn ich mit dem Auto nach Hause fahre. Heute bin ich wegen der Demo mit dem Fahrrad hier. Schon vor ein paar Tagen hatte ich ein Flugblatt von der Polizei unter dem Scheibenwischer, in dem stand, dass es heute bestimmt schwierig werden würde, hier durchzukommen."

Na ja. Dass ich sie flüchtig kannte, stimmte schon. Oft genug hatte ich ihren blonden Pagenkopf in der Rilkestraße gesehen, und ihr Gesicht auch. Wahrscheinlich war sie etwas über 30 Jahre alt. Aber Flugblätter hatte ich keine bekommmen. Erst war ich im Urlaub gewesen und danach nur mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren. Mag ja sein, dass den Autofahrern Flugblätter hinter die Scheibenwischer ihrer Autos geklemmt worden waren.

Der Polizist war jetzt ziemlich erleichtert, dass ihn zur Abwechslung grade mal niemand um Hilfe bat. Aber das dauerte nur einen Augenblick, dann forderten ihn noch ein paar Leute mehr auf, ihnen auf dem Weg zur Arbeit zu helfen. Eine von ihnen war meine Bekannte aus der Rilkestraße.

Alle, die wir nun um den Polizisten herum standen, waren wir ziemlich aufgeregt. Nun konnte ich endlich genau etwas für unser Gemeinwesen tun, was mir wirklich wichtig schien, und dann diese arroganten Idioten. Konnten sich doch nicht ernsthaft einbilden, eine Entscheidung des Bundestages zu verhindern. Da blieb nur noch Selbstrechtfertigung als Grund ihrer Gewalt.

Wie bei all den zahlreichen Hilferufen an diesem Tage blieb der Polizist auch uns gegenüver standhaft dabei, dass er uns helfen könne. Na klar, nicht er alleine. Aber hier ging es doch nur noch um die fünfzig bis siebzig Meter bis zur Polizeiabsperrung, und damit wäre ich dann schon am Bundestag vorbei.

Dann aus der Absperrung raus und das kleine Stück bis zur GFE vom Bundestag weg - damit würde ich dann gewiß keine großen Probleme mehr haben. Bis zur Arbeit hatte ich es nun fast schon geschafft - nur dass die Polizei sich standhaft weigerte, uns auf den paar Metern bis zur Absperrung zu schützen. Nicht nur mich, sondern auch all die anderen, die sich schon an sie gewandt hatten. Als ob die vielen Polizisten nur wenige Meter von hier - und es waren wirklich genug, um zu helfen - nichts von der Gewalt gegen uns mit bekommmen hätten!

Ohnehin war es ziemlich merkwürdig, dass wir erst so nahe am Bundestag auf Polizei gestoßen waren. Die Bannmeile verlief doch, wie ich meinte, in deutlich größerem Abstand um den Bundestag rum.

Schließlich meinte ich: "Ich probiere es. Und wenn Sie mir nicht helfen, muss ich mich selber wehren. Die Demonstranten kennen sich doch nicht mit den örtlichen Gegebenheiten aus. Wir müssen es eben versuchen." Jetzt plötzlich fiel dem Polizisten ein, dass er doch etwas tun könne: Mich in Schutzhaft nehmen.

Nun reichte es mir. In den Knast. Ich. Weil ich nicht mitmachen wollte bei der Hinnahme von bundesweit organisierter Gewalt gegen unsere Demokratie! War es nicht genug, dass ich schon einmal im Knast gelandet war, als ich auch nicht an einer Demo teil genommen hatte?

Erregt entgegnete ich ihm: "Sie haben wohl große Lust, in der Presse zu erscheinen? Vielleicht sogar mit Angabe ihres Namens? Das können Sie leicht haben. Die Bundespressekonferenz ist hier ja ganz in der Nähe. Das Kopieren von 300 Presseerklärungen kostet mich 30 DM, und in 20 Minuten kriege ich die in die Fächer verteilt.

Das ist mir die Sache wert. Dann können Sie davon ausgehen, dass in 15-20 Zeitungen erscheint, dass Sie nichts gegen die Blockade des Bundestages tun, sondern statt dessen Leute in Schutzhaft nehmen, die zur Arbeit wollen."

(Oder hatte der Polizist von Gewahrsam gefaselt? Genau weiß ich es nicht mehr. Na ja, wenn Gewahrsam alles ist, was unsere SPD-Landesregierung Arbeitnehmern zu bieten hat, die zur Arbeit wollen, dann gute Nacht!).

Ganz so selbstsicher wirkte der Polizist jetzt nicht mehr; und er ließ mich unter stockenden Ermahnungen, bitte lieber doch etwas vorsichtig zu sein, abziehen. Meine Bekannte aus der Rilkestraße und noch jemand, den ich nicht kannte, kamen mit. Sie beide wollten auch zur Arbeit.

Was für ein Glück, dass ich heute keinen Termin vor einem Bundestagsausschuß hatte. An diesem Tag wäre ich viel zu spät, wenn überhaupt, angekommen. Die Polizei, die machte vielleicht Sachen. Die Verwaltung erfand doch sonst noch die kompliziertesten Vorschriften, mit denen keiner zurecht kam, nicht einmal sie selber. Umso strenger war sie dann in der Durchsetzung. Und hier gab es nicht einmal Hilfe gegen politische Gewalt auf unserem Wege zur Arbeit.

Irgendwer musste sich einen Wahnsinn von Strategie ausgedacht haben. Jedenfalls war dies bestimmt nicht das, was ich mir unter Deregulierung vorgestellt hatte. Und mich in den Knast; dazu waren sie dann bereit.

Ein paar Politiker da oben pflegten ihr Gewissen und ließ uns, die Bürger, die Zeche zahlen.

Jetzt zogen wir also zu dritt durch die Wüste, denn eine Wüste war es wirklich für uns. Und meine unbekannte Bekannte aus der Rilkestraße stellte sich vor: "Rehm. Das ist ja wirklich ein Hammer, dass die Polizisten sich weigerten, uns zu helfen, und sogar in Haft sollten Sie. Das war ja eine gute Idee mit den Presseerklärungen. Ich kann das beurteilen, ich arbeite hier ganz in der Nähe für eine Zeitung, nahe der Bundespressekonferenz."

Wir blieben auch nicht lange zu dritt, hier waren noch viele andere Karawanen unterwegs. Nach einiger Zeit schlossen sich uns noch mehr von denen an, die der Gewalt der Demonstranten zum Opfer gefallen waren. Schließlich waren wir ein gutes Dutzend Leute, die nichts anderes wollten, als zu ihrer Arbeit. Die meisten hatten wilde Geschichten zu erzählen, und immer wieder hörte ich: "Die Polizei hat uns nicht geholfen. Die Polizisten haben gesagt, das dürften sie nicht."

Offensichtlich war den Polizisten das Eintreten gegen Politische Gewalt und Hilfe für einfache Bürger verboten worden. Ein Polizeipräsident oder so konnte so was gewiss nicht auf die eigene Kappe nehmen, schon gar nicht hier, im Umfeld des Bundestages. Da steckte unmittelbar die Düsseldorfer Landesregierung dahinter.

Nun bekam ich Dinge zu hören, wie ich sie bisher nur in der Zeitung gelesen oder im Fernsehen gesehen hatte, unmittelbar aus dem Munde der Betroffenen. Einige der Leute, die mit mir durch diese Wildnis von Gewalt und Rechtlosigkeit zogen, waren schon mit Prügel bedroht worden.

Einer hatte sogar schon einen Schlag auf die Nase bekommen und erzählte Geschichten, die er von anderen gehört hatte. Wüst wäre da wirklich noch untertrieben. Demonstranten hätten den Zugang zur Kinderklinik versperrt und Sprüche von sich gegeben, wie: "Laßt die Kinder doch verrecken!" oder "Macht blau und legt euch an den Rhein!"

Auch Krankenwagen seien nicht durchgelassen worden; und all dem habe die Polizei seelenruhig zugesehen; nicht irgend wo in der Pampas, sondern mitten in Bonn, nahe dem Bundestage.

Das konnte keiner von uns komisch komisch finden, und ganz gewiss hatte niemand von uns die Landesregierung damit beauftragt, uns Bürger bei solcher Gewalt im Stich zu lassen. Wenn es Wahnsinn war, um so schlimmer: Hier war es nichts als bittere Realität.

Mag sein, dass es im stillen Kämmerlein eine friedliche Illusion gewesen war, für uns Bürger war die Gewalt gegen uns unübersehbare, harte Wirklichkeit.

Natürlich blieb es auch nicht bei den Geschichten, die ich hörte, ein paar bekam ich noch unmittelbar selbst mit. Inzwischen waren wir wieder ein Stück zurück von St. Winfried Richtung Südbrücke geradelt und konnten den Rheinauenpark gut überblicken.

Der Rhein glitzerte geradezu romantisch in der Sonne, und die Gipfel des Siebengebirges voller Bäume erhoben sich mit ihrem satten Grün auf das Angenehmste vor dem blauen, nur mit wenigen Wolken geschmückten Firmament. Warm, ja, fast schon heiß, war es hier jetzt auch. Selbst die Südbrücke vor uns konnte den Blick auf all die Pracht zwar be-, aber nicht verhindern.

Noch vor dem Rhein glitzerten langgezogene Teiche in der Rheinaue, und die Wellen auf ihnen blinkten in der Sonne, vor allem in der Nähe der Ruderböötchen. In den Ruderbooten saßen schwarzvermummte Gestalten; nicht gerade die Sorte von Leuten, die hier normalerweise Böötchen fuhren. Bezahlt hatten die bestimmt nicht. Mit ihrer meist dunklen Kleidung fielen die Vermummten selbst in dieser riesigen Menge von Leuten auch aus einiger Entfernung auf.

Grade hier nahe der Teiche im Park waren erstaunlich viele unter den Demonstranten, die vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre jung waren. Andere waren schon vierzig oder älter. Selbst ein paar Ausländer waren dabei.

Aber ein Durchkommen war uns auch hier nicht möglich. Wir versuchten es wieder Richtung Bundestag, das heißt, nicht der Typ, der schon einen auf die Nase bekommen hatte. Die tat ihm viel zu weh und er hatte keine Lust mehr, hier noch länger rumzukurven. Damit war er nicht der einzige.

Zwei Sekretärinnen - sie waren eine ganze Weile mit uns herumgezogen - meinten, das habe alles keinen Zweck und sie gäben jetzt auf. Ihre Kollegin sei da um einiges schlauer gewesen: Gleich als sie aus der U-Bahnstation hochgekommen seien und gesehen hätten, was hier so los sei, sei sie umgedreht und wieder zurück in die U-Bahn gegangen.

In den Augen der Sekretärinnen glitzerte es verdächtig. Auch mir kam all das wie eine Ewigkeit vor, diese Arroganz, diese Gewalt, und meine Hilflosigkeit. Hier in Bonn hatte ich schon einige riesige Demos mit bekommen, und in Heidelberg hatte ich schon erlebt, wie ein paar Meter von mir Polizisten mit langen Knüppeln auf Leute los gegangen waren. Aber nie war die Gewalt so gegen mich gerichtet gewesen. Ich brauchte nur an den dicken Packen Post auf meinem Schreibtisch zu denken, um zu spüren, dass ich weiter versuchen wollte, durchzukommen.

Immerhin kamen wir noch einmal ganz gut voran, erst an dem Teich mit Böötchenverleih und dann sogar ein Stück weiter bis St. Winfried. Auch der Polizist, der mich vorhin mit Gefängnis bedoht hatte, stand immer noch hier, warum und wozu, das wurde uns auch jetzt nicht richtig klar. Die Polizeiführung hätte mir das vielleicht erklären können; in Düsseldorf und - lokal - in Bonn. Aber die hatte bestimmt auch keine Lust dazu, uns zu sagen: "Wir spielen hier Friede, Freude, Eierkuchen. Ganz toll ist das. Macht echt viel Spaß!" Denn die Suppe auslöffeln und den Preis dafür bezahlen, das mussten natürlich wir.

Wir, also erstens natürlich alle, die wir hier wohnten und arbeiteten. Zweitens, und das war eigentlich noch schlimmer, wurde diese Gewalt unmittelbar gegen die Ausübung der politischen Rechte von uns allen ausgeübt und dies - wo blieb eigentlich unsere wehrhafte Demokratie -wiederstandslos geduldet. Ich hatte noch immer die Worte meiner Eltern im Ohr, wie sie beklagt hatten, dass sich niemand rechtzeitig gegen die entstehende Gewaltherrschaft der Nazis gewehrt hatte.

Meine Eltern? Das Dritte Reich und den Krieg hatten sie als Kinder und Jugendliche miterlebt, ohne Möglichkeit, das herauf ziehende Unheil abzuwehren. Damit konnte ich mich ganz gewiss nicht heraus reden. Ich war erwachsen, Vater von zwei Kinder, und unmittelbar in unser Politisches System eingebunden. Darum fühlte ich mich verpflichtet, der Gewalt dieser arroganten Idioten entgegen zu setzten, was immer ich konnte.

Grade wenn ich daran dachte, dass die Nazis meinen jüdischen Vorfahren, den Berliner Zigarrendreher Marcus Lindemann hatten verrecken lassen, wollte ich mich diesem Rassismus hier nicht unterwerfen. Reichte es nicht, dass die Nazis den Vater meiner Mutter diskrimiert hatten, weil er Vierteljude war? Wenn Sie sowas unbedingt genau nehmen wollen: Ich bin also Sechzehntel-Jude.

Ich will es hier ganz deutlich machen: Natürlich hat jeder das Recht auf seine eigene Meinung; und zwar auch, wenn es eine andere ist, als meine. Arrogant, idiotisch und nicht hinnehmbar ist es, wenn sich wer auch immer das Recht hinaus nimmt, "dem Besseren" mit Gewalt zum Sieg zu verhelfen. Das haben sie doch alle gemacht, die Stalins, Hitlers, und wie sie auch alle hießen.

Uns hier bei St. Winfried? Immer noch kein Durchkommen. Wieder fehlten uns nur noch fünfzig oder siebzig Meter, um bis hinter die Absperrungen zu gelangen, und wieder dachte die Polizei nicht daran, uns zu helfen. Dass sie uns und all den anderen Bürgern, die hier herum irrten, nicht half, und dass sie dies auch nicht vor hatte, war nach all dem, was wir an diesem Tage erlebt hatten, eh schon klar.

Also wechselten wir jetzt noch einmal unsere Richtung und schlugen uns etwas weiter südlich im Rheinauenpark zwischen Wiesen und Bäumen Richtung Rhein durch. Nur die Bäume links verdeckten jetzt noch den Blick auf die ersten Abgeordnetenbüros. Damit waren wir fast schon in Rufweite des Bundestages und immerhin beträchtlich weiter, als wir es hier beim letzten Mal geschafft hatten.

Wir alle kannten auch den Tennisplatz, an dem wir kurz vor den ersten Abgeordnetenbüros vorbei mussten, sehr gut. Heute jedoch waren hier keinen Ballwechsel zu hören, sondern der Ruf: "Achtung! Da kommen wieder Schlipse!" und schon stürmte eine Gruppe von jungen Leuten auf uns zu, die uns nicht durchlassen wollte. Ein paar von denen war zwar nicht vermummt, aber sie waren so schwarz angezogen und verweigerten uns so entschieden unseren Weg, dass uns nur zu klar wurde, dass sie über sehr schmerzhafte Argumente verfügten.

Das war auch hier nicht besonders gemütlich, und mehr und mehr bekam ich den absurden Eindruck, dass die Bürokraten hier äußerst schlagkräftige Verbündete hatten; Verbündete, von denen sie wahrscheinlich nicht die geringste Ahnung hatten. Einige von uns gaben jetzt den Versuch auf, zur Arbeit zu kommen. Ich gab nicht auf, und die Frau Rehm wollte auch noch zur Arbeit. Wir fuhren weiter nebeneinander her, nun wieder Richtung Südbrücke; auch wenn das weiter weg vom Bundestag war. Es war ja nur zu deutlich, dass da kein Durchkommen war.

Ich machte mir hier keine Illusionen. Eine Polit-Szene wie diese Blockierer kannte ich nur zu gut, immer edel (ha ha!) drauf und knallhart dabei. Andauernd den Menschenrechten zugewandt - nur schade, dass davon nie ich was hatte, und überhaupt niemand, den ich kannte. Ja, das sagten sie jetzt auch wieder. Nicht, dass sie keine Deutschen durchlassen wollten, sondern einfach niemanden.

Und diese Gesichter! Dieses kalte Leuchten in den Augen, das kannte ich auch nur gut genug. Es erinnerte mich sehr an eine Kneipe in Heidelberg, in die ich vor langer Zeit, während meines Studiums, oft gegangen war. Eines Abends, es war grade eine RAF-lerin erschossen worden, fand ich wie wohl alle an diesem Abend Flugblätter auf der Toilette, in denen beschrieben wurde, was für eine tolle Frau sie gewesen war. Was sie alles für alle möglichen Rechte getan hatte, war auch darin zu lesen, ist doch klar.

Natürlich waren wir auch nicht der besten Laune dabei, und jetzt fuhren wir sogar wieder ein Stück zurück, schon wieder. Den Weg voran blockierten uns schließlich diese Horden arroganter Brutalos; es kam uns schon ewig vor.

Inzwischen war es auch schon fast zu einem Reflex geworden: Wo stehen die Demonstranten weniger dicht? Wo kommen wir vielleicht durch, ohne ernsthaft in Gefahr zu geraten? Ich kam mir vor, wie in einem besetzten Land.

Hilfe gegen die Gewalt war auch jetzt nirgendwo in Sicht - schon gar nicht von der Polizei. Wozu zahlte ich eigentlich Steuern, und das nicht zu knapp? Ich war immer bereit, meinen Beitrag für ein funktionierendes Gemeinwesen zu leisten, aber was war das für eine Gesellschaft, die ihre eigenen Mitglieder gegen organisierte Gewalt total im Stich ließ? Ich war es schrecklich müde, ins Nichts zu radeln.

Schon bald war nun auch die Südbrücke wieder vor dem Siebengebirge zu bewundern. Genießen konnten wir das Schauspiel nicht. Auch die Demonstranten schienen sich ihrer Erfolge nicht so recht zu freuen. Sie machten den Eindruck, als ob ihnen etwas gewaltig auf die Nerven gehe. Vielleicht war es ja die Sonne, die, nur von wenigen Wolken unterbrochen, vom blauen Himmel schien. Allmählich wurde es nun so richtig heiß. Trotzdem konnte ich mich auch über mein mitgenommenes Handtuch jetzt in keiner Weise mehr freuen. Ich wollte doch nicht nur zum Baden fahren. So hatte ich mir meinen Arbeitstag heute wirklich nicht vorgestellt.

Auch, wenn ich heute zu keinem Termin im Bundestag oder in seiner Umgebung musste -weiter Richtung Südbrücke, das hatte auch keinen Zweck; nicht für mich, und für Frau Rehm auch nicht. Deshalb drehten wir noch mal um und fuhren wieder Richtung GFE und Pressehaus, wo Frau Rehm arbeitete. Diesmal jedoch schlugen wir einen anderen Weg ein, abseits der Schnellstraße durch den Rheinauenpark, einen Weg durch die Wiesen unterhalb der Straße. An diesem Tag mit seinem blauen Himmel versuchte niemand, hier Drachen steigen zu lassen.

Die Drachen der Entbürokratisierung jedenfalls stiegen heute nicht in den Himmel. Da mochte die Sonne strahlen und der Himmels blau sein: In Sachen Recht und Rechtsvereinfachung herrschte dichter Nebel, in dem wir und alle, die auch nur zufällig da waren, rabiat davon abgehalten wurden, unser Leben frei zu leben. So ähnlich wie frei kamen wir uns hier auch durchaus nicht vor. Einfach bitter.

Gut, dass Herr Helmrich das nicht mitbekam. Schon in seiner Zeit als Bundestagsabgeordneter hatte Minister Helmrich mitgekriegt, wie die Bewegungsfähigkeit ganz normaler Bürger im Sumpf der Bürokratie gelähmt wird, die Gesellschaft zur Förderung der Entbürokratisierung gegründet, und mich hier nur wenige Monate zuvor als ihren Geschäftsführer eingestellt. Und beim Eintreten für eine bessere Rechtsordnung gab es reichlich zu tun.

Aber gegen solche Irrlichter wie die gewalttätigen Rechthaber konnten wir bei der Bekämpfung der Bürokratie nichts, aber auch gar nichts ausrichten.

Diese SPD-Landesregierung - jammerte fortwährend über den Verlust von Arbeitsplätzen, aber wenn jemand wirklich was mit Aussicht auf Erfolg was dagegen tat, ließ sie ihn alleine gegen diese Gegner der Demokratie. Arbeitnehmerpartei? Die hätten sich mal die Leute anhören sollen, die sie hier auf ihrem Wege zur Arbeit im Stich ließen! Ließen Leuten Knast anbieten, die nichts als arbeiten wollten.

Auch diesmal, wieder Richtung Bundestag, kamen wir jetzt nur mühevoll voran. Immerhin erreichten wir in Nähe des Teiches, auf dem auch jetzt schwarzgewandete und vermummte Gestalten herumruderten. Hier war der Weg durch die Wiesen abschüssig, viele Demonstranten standen am See herum und bestaunten die Ruderkunststückchen ihrer Kollegen.

Die arroganten Besserwisser blockierten auch auch den Fußweg hier, und ich erfuhr erneut wieder und wieder, wie unangenehm es ist, wenn man gehindert wird, dort hinzukommen, wo man hin muss. Ein paar der Demonstranten hatten es mir deutlich genug erklärt, dass wir endlich mal am eigenen Leibe fühlen sollten, wie schlimm so was war; immer nach dem Motto: Ihr laßt keine Asylanten rein, wir lassen keine Deutschen durch. Ich war ja nicht Neger oder Jude. Aber jetzt sah ich eine Lücke: Die Wiese schräg links war von Demonstranten frei. FREI!

Wahrscheinlich deshalb, weil hier so viele Demonstranten die Kunststückchen ihrer schwarz vermummten Kollegen in den Ruderböötchen auf dem Teich, also genau gegenüber, bewunderten. Bloß noch weiter links, da, wo die Wiese in Richtung Straße hin anstieg, standen wieder zahlreiche Demonstranten herum. Und davor, näher zum Weg hin, stand niemand. Niemand!

Angesichts dieser plötzlichen Gelegenheit zögerte ich keine Sekunde. Endlich. Einmal mussten wir ja eine Chance bekommen. Dass das Gelände vor mir leicht abfiel, machte es noch besser. Um so schneller konnte ich durch die Lücke.

Mit aller Kraft trat ich in die Pedale und beschleunigte auf den ersten dreißig, vierzig Metern rasch. Aber dann musste ich auf die Wiese links. Der Weg ein paar Meter vor mir war ja von Demonstranten blockiert. Natürlich fiel nicht nur ihnen mein Durchbruchsversuch auf.

Darum erhob sich nun ringsum ein lautes Geschrei. Von allen Seiten hörte ich Stimmen näherkommen und sah Demonstranten, viele ganz in Schwarz, auf mich zurennen. Einfach wurde es mit dem Fahrrad auch hier über den Rasen nicht.

Das Keuchen, das ich jetzt hörte, das musste von mir kommen. Alle diese Leute, die auf mich zurasten. Die von links vor mir sah ich, und die von hinter mir hörte ich. Erstaunlich, wie ich in diesen Augenblicken überhaupt so viel davon mit bekam. Meine Verfolger vor und hinter mir waren ja auch ausgeruht, und ich merkte, dass das ganz schön eng wurde. Mit letzter Kraft trat ich in die Pedale.

Plötzlich Stimmen neben mir und zwei Hände, die mir in den Lenker griffen. Die Hände rissen mein Fahrrad hoch, und ich bekam einen so starken Ruck, dass ich abhob. Für einen Augenblick sah ich den Rasen tief unter mir, und gleich danach kam er mir rasend schnell näher. Jetzt musste ich den Preis zahlen, für das "Friede, Freude, Eierkuchen" der Landesregierung. Na ja, bestellt hatte ich das nicht, aber dass ich würde zahlen müssen, war so klar wie die Grashalme, die plötzlich schon erschreckend nah waren.

 

E N D E
* * * *

Auch wenn sich das weder die Täter noch die, die sie nicht gebändigt hatten klar machten: Die Bürokratie hat jetzt ihre Ruhe vor den Aktionen eines Experten, der aus den Reihen der Lobbyisten kam und wusste, wie er auf die Vertreter von zahlreichen Interessen und ihre Organisationen zu gehen und sie in die die Bekämpfung der Bürokratie einbinden konnte. Dazu später mehr. Ihnen muss ich hier nicht sagen, dass die Bürokratie so munter weiter wucherte und auch in den Jahren seit 1993 hunderttausende, wenn nicht Millionen Arbeitsplätze vernichtete.

Natürlich dachten die Täter auch nicht daran, wass sie zwei kleinen Kindern und ihrer Mutter an getan hatten. Und ich? Dachte gar nichts mehr. Würde Monate brauchen, um mir auch nur vor stellen zu können, was hinter der nächsten Türe ist.

Oh ja, Menschlichkeit ist etwas sehr Politisches. Auch wenn der Schutz von Freiheit und Menschenrechten, wie in diesem Fall überdeutlich wird, gleichzeitig ein nicht zu unterschätzender wirtschaftlicher Standortfaktor ist.

Darum werde ich hier auch erst über die ganz konkreten Folgen des Handelns von Tätern berichten, die arrogant genug waren, zu glauben, ihre Gewalt sei etwas Besseres. Werden wir also konkret. Schauen wir uns an, wie es an diesem Tage auf der Wiese am Ententeich, zwischen Bundestag und Südbrücke, weiter zu ging:

Frau Rehm bekam all dies von weiter oben mit. Sie hatte angehalten. Auch sie hatte die Demonstranten auf dem Weg gesehen, und was das bedeutete, wußte auch sie inzwischen zur Genüge. Darum war sie erstaunt, als sie sah, wie ich mit ganzer Kraft in die Pedale trat und auf die Demonstranten vor mir zufuhr. Erst als ich in voller Fahrt auf den Rasen auswich, wurde ihr klar, was ich vorhatte. Natürlich hörte auch sie das Geschrei der Demonstranten und sah sie aus allen Richtungen auf mich zurasen. Das würde knapp werden, ich sehr schnell, aber nah und immer näher dreißig oder vierzig Demonstranten, die in rasendem Tempo von allen Seiten auf mich zuliefen.

Dann sah sie, wie mein Fahrrad mit mir darauf hochgerissen wurde, ich ein ganzes Stück durch die Luft flog und, den Kopf voran, auf den Rasen stürzte, unten aufschlug und liegen blieb. Kurz darauf konnte sie mein Röcheln hören. Leise klang es bis zu ihr; ihr Herz zog sich zusammen.

Es erschreckte sie zutiefst, wie ich jetzt bewegungslos auf der Wiese hingestreckt lag, und meine unregelmäßigen Atemzüge mit zu bekommen. Unruhe drängte Frau Rehm, unbedingt schnell rauskriegen, was eigentlich mit mir los war.

Doch als sie jetzt auf mich zu lief, stellte sich auch ihr ein Demonstrant mit grünem Kittel in den Weg, die Arme weit ausgebreitet. Einer von denen, die eben hinter mir her gerannt waren. Endlich waren sie dieses Mal Herren der Lage geblieben. Da wollte er auch weiterhin klar und konsequent bleiben: Hier sollte keiner durchkommen! Aber jetzt reichte es Frau Rehm endgültig, und ohne lange nachzudenken, schlug sie ihm ihre geballte Faust ins Gesicht.

Damit hatte der Demostrant überhaupt nicht gerechnet. Und zum Glück meinte jetzt, noch bevor er seine Fäuste ballen konnte, ein Kollege von ihm: "Laß die doch durch. Die will doch nur sehen wie es dem Typ da geht."

So kam Frau Rehm doch noch dazu, sich mir aus der Nähe anzusehen, zusammen mit einer großen Gruppe von Demonstranten. Einer davon musste der sein, der mich eben zu Fall gebracht hatte. Sie alle wussten selbst nicht, was sie nun tun sollten, schauten neugierig zu mir herüber, wie ich da unten auf dem Rasen lag, und horchten auf mein unregelmäßiges Röcheln. "Ruft bitte doch endlich nach einem Krankenwagen", rief Frau Rehm. Zustimmendes Gemurmel aus der Gruppe der Demonstranten. Funkgeräte genug hatten sie dabei.

Oh ja, diese Demo war gut organisiert. Das musste sie auch sein, denn anders hätten Gruppen aus ganz Deutschland doch nicht das Gelände um den Bundestag mit Erfolg abriegeln und hoffen können, seine Abstimmung zu vereiteln.

Natürlich war das - wenig überraschend - angesichts des Einsatzes von Booten über den Rhein und Hubschraubern, eine eitle Hoffnung geblieben, und die Asylrechtsnovelle wurde trotzdem verabschiedet. Der einzige Erfolg ihrer Aktion: Ein Schwerverletzter, viele Arbeitslose mehr, und gehätschelete Selbstwertgefühle.

Wenige Augenblicke später kam eine Frau mit Tasche dazu und kniete sich neben mich. Aus ihrer Tasche holte sie ein Gerät mit einem Band, dass sie mir um den Arm wickelte. Sie war eine Sanitäterin und maß jetzt meinen Blutdruck. Sie war kaum fertig damit, als ein Polizist auf einem Motorrad vorbeikam.

Gegen ihn taten die Demontranten übrigens nichts, und so sah mich daliegen - allein die Gaffer hier waren ja nicht zu übersehen - und bestellte gleichfalls Notarzt und Krankenwagen. Die waren zum Glück ohnehin schon zu einem Patienten mit Kreislaufzusammenbruch in der Nähe unterwegs.

Rasch kamen sie vorbei und entschieden, mich vorrangig zu versorgen. Vor allem der Notarzt war dieser Meinung, als er mein Keuchen und Röcheln hörte. Er entschied: "Schlips ab und künstlich beatmen!" Frau Rehm verkündete er: "Der kommt in das Krankenhaus, wo ein Platz auf der Intensivstation frei ist. Und zwar so schnell wie möglich". Wenig später erfuhr sie noch, wo ich künstlich beatmet werden würde.
Dann kurvte der Krankenwagen mit mir ab.

Nicht weit davon, in der Heussallee, saßen zahlreiche Demonstranten auf der Straße. Die Heussallee führt gerade auf den Bundestag zu und ist eine wichtige Zufahrt dorthin, und auch ich fuhr auf dem Wege zu oder von meiner Geschäftstelle oft hindurch.
An diesem Tage war die Heussallee voll mit Demonstranten gegen das neue Asylrecht.

Auch Doro saß unter ihnen. Oft genug war Doro in Mittelamerika gewesen und hatte an Büchern über das Schicksal der Indianer dort mitgeschrieben. Sie wußte, dass die Möglichkeit zur Flucht und zum Asyl in Deutschland für diese Menschen oft bitter notwendig, ja lebenswichtig ist. Diese Chance sollte in vollem Umfang erhalten bleiben.

Plötzlich hörte Doro lautes Tatü-Tata und sah ein Blaulicht blitzen. Ein Krankenwagen fuhr rasch vorbei. Ein Raunen ging durch die Menge der Demonstranten, dass die Demonstranten im Rheinauenpark jemanden hingeworfen und ziemlich schwer verletzt hätten. Darum standen ein paar Demonstranten auf und liefen näher an den Krankenwagen heran, der rasch vorbei fuhr. Nicht so Doro; meine Cousine blieb sitzen.

Weiter geht es mit der Version von 1997, schon viel besser, als noch ältere. Ich will Sie doch nicht verscheuchen! Zur besseren Unterscheidung sind hier nicht alle Zeilenumbrüche als neuer Absatz gestaltet:

Schachmatt

Um halb Zehn - ich war jetzt schon lange weg - brachte Vera Daniel zu seiner Kinderfrau Frau Emmerich. Frau Emmerichs Haus liegt am Rhein, und als Vera Daniel in ihre Wohnung hochgebracht hatte, konnte sie gut auf sein anderes Ufer kucken. Massenhaft Demonstranten, und eine Menge Busse waren dort zu sehen. Beunruhigend sah das aus, und beängstigend, fast wie eine auf der anderen Rheinseite aufmarschierte Armee.
Aber lange Zeit hatte Vera jetzt nicht. An diesem Vormittag waren zwei neue Kinderbetten angekündigt, ab ca. zehn Uhr. Neue Betten waren auch dringend notwendig, Daniel war jetzt einfach zu groß für sein altes. Das Gute an den neuen: Sie waren so gebaut, daß das eine unter das andere geschoben werden konnte, und so würden die Kinder mehr Platz zum Spielen haben.
Darum fuhr Vera zurück nach Hause, ohne lange über den Rhein zu schauen. Die angekündigten Betten kamen schon nach kurzer Zeit, und nun hatte sie eine Weile wirklich mehr als genug damit zu tun, die Dinger aufzubauen. Als sie mitten dabei war - ausgerechnet - hörte sie das Telefon klingeln. Vera ging ins Wohnzimmer und nahm den Hörer ab. Es meldete sich eine Frau Rehm.
"Guten Tag, Frau Gamme", sagte Frau Rehm aus dem Telefon. "Wir kennen uns vom Sehen aus der Rilkestraße, wo wir beide wohnen. Ich muß ihnen eine wichtige Mitteilung machen." Und sie erzählte, und erzählte. Zuletzt, so meinte sie noch, hätte ihr der Notarzt gesagt, daß ich ins LKH (Landeskrankenhaus) käme.
Ins LKH also. Die Irrenanstalt. Die kannte Vera. Meine Eltern hatten genau gegenüber auf der anderen Seite der großen Straße gewohnt, an der das LKH liegt, als sie mich kennenlernte. Aber was war die Telefonnummer? Vera war ganz zittrig, nachdem sie jetzt gehört hatte, daß ich hatte beatmet werden müssen.
Unruhig nahm Vera das Telefonbuch aus seiner Schublade und suchte die richtige Nummer. Landeskrankenhaus.
Landeskrankenhaus? Nicht zu finden. Aber unter Krankenhäusern, da stand es. Rheinische Landesklinik Bonn; das mußte es sein. Endlich. Gleich die Nummer. Zum Glück wurde bald abgehoben. "Reinhard Gamme heißt ihr Mann, und der soll gerade angekommen sein? Da muß ich mal nachsehen... Richtig, der liegt auf der Intensivstation." Wo die Landesklinik lag, das wußte Vera. Und jetzt erfuhr sie, wo sie hin mußte, um zur Intensivstation zu kommen.
Schnell hin wollte sie jetzt unbedingt. Intensivstation, das klang ja nicht so gut. Und außerdem hatte sie jetzt auch noch erfahren, daß ich im Koma lag und immer noch beatmet werden mußte. Das war mit Sicherheit nichts Harmloses, meine Verletzung. Veras Alarmglocken schrillten und sie fühlte, daß sie hier ganz machtlos war.
Heiß und kalt wurde ihr, und sie konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Jetzt war ihr richtig schlecht.
Also zur Intensivstation. Und grade dazu mußte sie klar überlegen, denn dazu mußten erst mal Konrad und Daniel versorgt sein. Mal nachdenken... Den Konrad sollte ja heute seine Kinderfrau Frau Emmerich vom Kindergarten abholen; es war ja garnicht klar gewesen, wann die Kinderbetten ankommen würden, und zur Sicherheit hatte Vera lieber möglichst lange zuhause bleiben wollen. Jetzt aber mußten Konrad und Daniel eine ganze Weile anders als geplant untergebracht werden.
Also erst mal im Kindergarten angerufen. Vielleicht konnte ja Konrad heute mal länger dableiben. Wenigstens mußte Vera diese Nummer nicht suchen, die hatte sie. Und es klappte. Bei so einem Unglück machte der Kindergarten eine Ausnahme; selbstverständlich; natürlich.
Jetzt mußte nur noch Daniel untergebracht werden. Mal gucken, wie das klappen würde, mal Ulrike anrufen. Daniel war ja in der selben Kindergruppe, wie Ulrikes Tochter. Vera kannte sie gut, denn schon oft hatte sie wie mit allen Kindergruppenmüttern zusammen mit ihr auf die Kinder aufgepaßt. Vielleicht würde sie auf Daniel aufpassen. Natürlich hatte Vera auch Ulrikes Nummer. Schnell angerufen. Auch Ulrike war bereit, jetzt zu helfen. Die Kinder waren also untergebracht. Puh!
Nun mußte Vera aber wirklich erst mal ihren Eltern Bescheid geben. Sie rief zuhause in Köln an. Zunächst war ihre Mutter über ihren Anruf erstaunt. Vera hatte sie erst vor wenigen Stunden angerufen und sie gebeten, auf die Kinder aufzupassen, wenn sie im Juni Geburtstag feiern wollte. Dann aber war sie sehr erschreckt, als sie am Telefon hörte: "Mutti, denkst Du bitte mal an uns? Reinhard ist mit dem Rad zur Arbeit gefahren und so schlimm gefallen, daß er bewußtlos ist. Eine Frau aus der Straße hat es gesehen und Hilfe geholt. Reinhard wird künstlich beatmet und ist jetzt im Krankenhaus. Mehr weiß ich auch nicht. Ich fahre jetzt dorthin und sage dir dann wieder Bescheid."
Jetzt endlich konnte Vera losfahren, an einem heißen Tag, an dem die Sonne vom Himmel lachte. Vera lachte nicht. Sie schwang sich auf ihr Fahrrad und fuhr los, mit ärmellosem T-Shirt und kurzen Hosen. Selbst wenn sie einen Grund gehabt hätte: Sie hatte einfach weder genug Zeit, noch Nerven, jetzt auch noch ihre Klamotten zu wechseln. Das heißt, einen schön geflochtenen Strohhut zog sie nun schon noch an, gegen die Sonne. Denn die lachte nicht nur vom Himmel herab, sondern brannte auch intensiv an diesem Tag. Einen Sonnenbrand wollte Vera nun nicht auch noch haben zu allem anderen.
Aber einfach zu mir fahren konnte Vera auch jetzt noch nicht; vorher mußte sie sich um die Kinder kümmern. Zuerst mußte sie Daniel von Frau Emmerich zu Ulrike bringen und Frau Emmerich Bescheid sagen, daß sie Konrad nicht so, wie verabredet, vom Kindergarten abholen sollte.
Als sie mit Daniel bei Ulrike ankam, öffnete Ulrike, sah sie mit traurigen Augen an und meinte voller Mitgefühl, das sei ja wirklich eine schreckliche Sache mit meinem Sturz. Denn natürlich hatte ihr Vera Bescheid gesagt, aus welchem Grunde sie auf Daniel aufpassen sollte. Und Ulrike meinte: "Das ist ja jetzt wirklich nicht einfach für dich und ganz, ganz schwer auszuhalten. Wenn Du Hilfe gebrauchen kannst; ich komme gerne und schlafe heute nacht bei dir zuhause.
Nein, meinte Vera nun. Dieses Angebot sei zwar wirklich sehr lieb, aber soviel Hilfe sei nun wirklich nicht nötig. Sie werde es schon alleine schaffen, heute nacht.
Jetzt aber konnte sie endlich in Richtung LKH fahren. Aber noch bevor sie über die Rheinbrücke fahren konnte, kam ihr Barbara auf dem Fahrrad entgegen und fragte sie, wie es denn so gehe. Barbara und ihr Mann sind mit uns genauso befreundet wie unsere Kinder mit ihren. Da platzte es aus Vera heraus und sie hörte nicht mit dem Erzählen auf, ehe sie mit allem fertig war.
Jetzt sah Barbara ziemlich anders aus als vor dem Gespräch; sie wirkte traurig und erschreckt und bot Vera an, auf Konrad und Daniel aufzupassen. Das könne Vera doch bestimmt gebrauchen, wenn sie mich besuchen wolle. Allerdings konnte Vera dieses Angebot gebrauchen, denn so konnte sie mich auch am Nachmittag besuchen, und das wollte sie, wenn irgendwie möglich, unbedingt tun. Und jetzt bekam sie unverhofft die Gelegenheit dazu. Dieses Angebot nahm sie dankbar an. Denn natürlich fand sie es nicht schön, daß sie Barbara so erschreckt hatte, aber ein bißchen fühlte sie sich auch getröstet von Barbaras Mitgefühl.
Nun fuhr sie weiter Richtung LKH, über die Rheinbrücke, auf der auch an diesem Tage dichter Verkehr herrschte. Demonstranten waren hier weit und breit nicht zu sehen. Hier war sie im Bonner Zentrum und bog die Römerstraße mit wie fast immer vielen Autos auf ihren vier Spuren Richtung Norden ab, bis zum Augustusring, einer Allee in Bonn-Nord. Hier noch über eine Ampel, und jetzt konnte sie auf der rechten Seite schon das Landeskrankenhaus sehen; einen Bau aus dem neunzehnten Jahrhundert mit beeindruckenden Bäumen auf beiden Seiten.
Gleich dahinter fand sie, wie es ihr am Telefon erklärt worden war, ein Parkhaus mit einer spiralförmig ansteigenden Auffahrt, und dazwischen lag der Haupteingang im Schatten großer Kastanien. Prachtvolle Bäume mit sattgrünen Kronen, die gut zu ihren kurzen Hosen paßten, an diesem heißen Tag. Wenn nur der Anlaß für all dies nicht so beklemmend gewesen wäre.
Sie fuhr den Haupteingang aufs Klinikgelände hinein, und sah nach ungefähr 200 Metern links das moderne Gebäude mit seiner Glasfront auftauchen, das ihr beschrieben worden war. Unruhig kam sie hinein; sie hatte nicht lange gebraucht, ihr Fahrrad anzuschließen.
Hinter der Türe mußte sie an der Pförtnerloge vorbei und kam gleich dahinter in eine Halle, deren Wände rot von Ziegelsteinen waren; darüber eine dunkle Holzdecke. Nach oben gab es eine hier Rolltreppe, und Flure führten von hier aus nach allen Seiten. Zur Intensivstation mußte sie den Flur links nehmen, das hatte sie schon am Telefon gehört und hier stand es auch auf einem Hinweisschild. Vera wandte sich nach links und ging in den Flur.
Ein langer Korridor mit Fenstern auf beiden Seiten schon nach wenigen Metern. Hell war es hier, und auf beiden Seiten konnte Vera Wiesen und ein paar Büsche im Sonnenschein sehen. Die Wiese lag hier auffällig tief, und es war ihr nicht klar, ob der Gang hier erhöht verlief oder das Gelände da draußen tiefer lag; hereingekommen war sie jedenfalls gerade erst ebenerdig.
Sie ging weiter und erkannte auf der Glastüre am Ende des Ganges bald das Schild: INTENSIVSTATION. Als sie noch näher herangekommen war, erkannte sie die Klingel in Brusthöhe links neben der Tür, denn die war verschlossen. Mit gutem Grund; hier konnte nicht jeder einfach so reinplatzen. Vera drückte auf die Klingel und sah durch die Glastüre eine grüne Gestalt näherkommen.
Der Pfleger kam, öffnete die Tür und fragte Vera nach ihrem Anliegen. Und nachdem sie ihm erläutert hatte, warum sie gekommen war, zeigte er auf das Waschbecken auf der rechten Seite des Ganges, und erklärte: "Um Infektionen so gut wie möglich zu vermeiden, muß hier jeder Besucher seine Hände waschen. Aus dem selben Grunde liegen in den Schränken neben dem Waschbecken grüne Umhänge für Sie. Ich nehme an, Sie wollen doch wissen, wie es ihrem Mann geht. Dazu werde ich Ihnen gleich unsere Ärzte vorbeischicken." Und, schwuppdiwupp, war der Pfleger wieder weg.
Vera ging zum Waschbecken und wusch ihre Hände. Im Schrank daneben fand sie, wie angekündigt, viele grüne Kittel. Dann zog sie einen davon - zum ersten von vielen Malen - über. Schräg gegenüber hinter dem Waschbecken, wo der Gang breiter wurde, stand eine Bank. Darauf setzte sie sich, um auf die versprochenen Ärzte zu warten und darüber aufgeklärt zu werden, wo sie mich finden würde.
Nach wenigen Minuten näherten sich zwei neue Gestalten in Grün, ein Arzt und eine Ärztin, beide nicht sehr alt. Der Arzt meinte: "Frau Gamme? Ihr Mann liegt in dem Zimmer da vorne rechts." Und die Ärztin erklärte: "Ihr Mann ist hier, weil hier ein Platz zum Beatmen frei war. Eine schlimme Sache. Wir haben ihren Mann untersucht. Er hat eine Quetschung im Stammhirn. Er ist nicht einfach so bewußtlos, er liegt im Koma; und bis er da wieder aufwacht, das wird wahrscheinlich nicht Tage, sondern Wochen dauern. Wenn Sie sehen wollen, wie es ihm geht - Sie wissen ja, er liegt in dem Zimmer da vorne rechts."
Vera bedankte sich und ging in das Zimmer, das die Ärzte ihr gezeigt hatten. Zwei Betten gab es hier. Im linken von beiden sah sie mich vor dem Fenster liegen. Hinter mir, genau gegenüber dem Eingang, schien die Sonne in das große Fenster. Die Lichtflut an diesem Tage ließ es, fast wie im Walde gedämpft durch die Kastanien da draußen, hinein; die Hitze mußte draußen bleiben. Der ganze Raum war mittelgroß, und an den Wänden, die schon etwas vor dem Fenster so abknickten, daß sie hier in einem Winkel von 45 Grad aufeinander und schräg darauf zuliefen, lief ein Bord mit allen möglichen medizinischen Utensilien entlang. Und davor lag ich, mit dem Kopf zum Fenster und dem Gesicht in Richtung Türe, so daß ich Vera kommen gesehen hätte, wenn ich überhaupt etwas hätte sehen können. Aber das war unmöglich; meine Augen waren geschlossen.
Ruhig und nackt lag ich unter einem Bettuch, für einen Schlafanzug oder eine Bettdecke war es jetzt einfach zu heiß. Die schönen Kastanien da draußen hätten ja vielleicht romantisch gewirkt, wenn nicht das Zischen der Maschine, die mich beatmete, alle solche Gefühle energisch vertrieben hätte. Und der Schlauch in meiner Nase, mit dem ich beatmet wurde, war nicht der einzige.
Ein dünner Schlauch, durch den ich künstlich ernährt wurde, steckte in einer Vene meiner Hand. Unter der Bettdecke kam der Katheder raus; er sollte verhindern, daß ich das Bett naß machte. Aus meinem Hintern kam kein Schlauch, in ihm steckte nur ein Thermometer mit einem Kabel daran. Dahindurch wurden die gemessenen Werte auf einem Bildschirm neben mir übertragen. Zur Vorsorge diente eine Moltex-Einlage unter meinem Hintern.
Fast idyllisch wirkte das Zimmer mit mir in der Sonne. So friedlich und idyllisch, daß es Vera das Herz zerriß und sie lange weinen mußte. Alles hier wäre ja so schön gewesen, das geräumige Zimmer, der Sonnenschein draußen und meine friedlich geschlossenen Augen, wenn ich nicht ausgerechnet im Koma gelegen hätte. Sehr lustig war das nun nicht mit der Lebensgefahr. Warum ich immer einfach so auf dem Rücken liegen gelassen wurde, ohne mich zur Vorsorge gegen Hautgeschwüre zu wenden, hatten der Arzt und die Ärztin ja eben auch schon erklärt: Viele Gehirnzellen waren durch die Quetschung schwer angeschlagen und würden keine Bewegung mehr überstehen.
Und da war es wichtiger, mich ruhig liegen zu lassen, damit sie eine Chance bekämen, als mich zu wenden, um eine gute Durchblutung meiner Haut zu gewährleisten und Hautgeschwüre zu vermeiden.
Sehr friedlich und gesund sah ich aus; nicht die kleinste Schramme war zu sehen. Doch als Vera sich über mich beugte und ihren Kopf an meine Brust legte, spürte und hörte sie wieder, wie die Luft in mich geblasen wurde. Sie fuhr zurück. Wer war das? Ich? Oder nur ein Körper? Ohne die Spur einer Reaktion, ja, nicht einmal mit den Wimpern hatte ich gezuckt.
Bald war auch schon eine Stunde vorbei und Vera mußte nach Hause und sich um Konrad und Daniel kümmern, auch wenn ihr kotzschlecht und elend war. Konrad mußte sie vom Kindergarten abholen und Daniel von Ute. Jetzt war eine Erklärung fällig, warum sie schon so bald danach zu Barbara sollten. Vera erklärte: "Der Papa ist ja mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren. Heute hat er einen Unfall gehabt und liegt im Krankenhaus. Er muß ganz lange schlafen, damit er sich wieder gut erholen kann."
Veras Mutter war von dem, was Vera ihr bei ihrem Anruf erzählt hatte, tief erschüttert; erst einmal erzählte sie alles am Telefon Veras Vater, dann zündete sie eine Kerze an und bat Gott in einem Gebet, er möge doch alles zum Guten wenden. Die Unruhe hatte sie so gepackt, daß sie nicht mehr in der Lage war, wie üblich im Haushalt alles mögliche zu erledigen. Geschockt war auch Veras Vater in seinem Büro, der jetzt nur zu gerne Dinge gewußt hätte, wie: Wie schwer ist Reinhard verletzt? Wird er überleben? Wird er wieder gesund werden oder wenn nicht, welche Schäden bleiben zurück? Was wird mit seiner Arbeitsstelle und wie geht es finanziell weiter? Wie ist das passiert, und wer sind die Täter? Gibt es Zeugen, und was sagt die Polizei? All das schoß ihm durch den Kopf.
Ewig hielt es Veras Mutter nun wirklich nicht mehr aus, in ihrer Sorge rief sie schließlich Barbara an. Ihren Namen kannte sie zum Glück, und die Auskunft half ihr mit der richtigen Telefonnummer weiter. Bei Barbara war sie genau an der richtigen Adresse. Sie erfuhr, daß Vera bald die Kinder vorbeibringen würde; dann wolle sie ihr Bescheid sagen, daß sie unbedingt ihre Mutter anrufen solle. Und so geschah es.
Nicht lange danach kam Vera mit Konrad und Daniel vorbei und erfuhr, daß ihre Mutter auf ihren Anruf wartete. Glücklicherweise hatte es wenigstens mit dem Kochen des Mittagessens keine Schwierigkeiten gegeben. Zum Einkaufen war Vera an diesem Tag nicht gekommen, aber, und das war wirklich Glück im Unglück, es war genug zu essen im Hause. Nur deswegen hatte sie schon so früh kommen können mit den Kindern. Und ihre Mutter konnte Vera gleich von Barbara aus anrufen.
Gleich nach dem Telefonat mit ihrer Mutter schwang sie sich wieder auf ihr Fahrrad und fuhr ins LKH, über den Rhein, bis nach Bonn-Nord und in die Intensivstation. Den ganzen Tag hatte die Sonne vom Himmel geschienen und es war geradezu tierisch heiß. Erst in der Intensivstation wurde es etwas erträglicher. Wo die grünen Kittel lagen, und daß sie beim Reinkommen ihre Hände waschen sollte, das wußte sie jetzt ja schon.
Sie ging gleich in mein Zimmer und fand mich wie zuvor, mit geschlossenen Augen, den Kopf in Richtung Fenster und an alle möglichen Schläuche angeschlossen, am auffälligsten der, der mir in der Nase steckte. Auch das monotone Geräusch, das beim Beatmen entstand, hatte sich nicht verändert. Für ihren Geschmack kannte sie es schon gut genug. Es gibt wirklich Schöneres. Vorsichtig setzte sich Vera neben mich und fing an, mich sanft zu streicheln. Sie erzählte mir, wo Konrad und Daniel waren und wie sie es geschafft hatte, nochmal hier herzukommen. Meine Augen blieben geschlossen, und die Beatmungsmaschine pumpte ruhig weiter.
Auch jetzt dauerte es nicht ewig, und Vera mußte wieder Konrad und Daniel bei Barbara abholen. Es war ja geradezu erstaunlich, wie schnell eine Stunde - mehr Zeit hatte sie auch dieses Mal nicht - vorüberging. Ihren grünen Kittel brachte sie wieder in den Wäschesack in der Nähe des Waschbeckens; auch den Wäschesack kannte sie jetzt schon. Und sie ging wieder zum Fahrrad und fuhr die ganze Strecke bis zur Rheinbrücke, über den Rhein und zu Barbara.
Als Vera hier ankam, waren Barbara und alle Kinder noch unten, wie sich das an einem so warmen und sonnigen Tag natürlich anbot. Barbara und ein paar andere Mütter, die Vera auch kannte, saßen auf Bänken neben einem der großen Sandkästen hier und paßten auf die Kinder auf. Alle wußten schon Bescheid; sie zeigten ihre Anteilnahme und boten ihre Hilfe an, während die Kinder weiterspielten.
Aufdringlich waren sie nicht dabei, und so fühlte sich Vera bei ihnen so gut aufgehoben, wie dies in einer Lage wie ihrer nur möglich war. Nach einiger Zeit ging Vera mit Barbara und ihren Kindern hoch in die Wohnung. Barbaras Mann war schon zuhause, denn so langsam fing ja jetzt der Abend an. Vera blieb eine Weile da, denn natürlich wollten Barbara und vor allem auch ihr Mann möglichst genau wissen, was denn so los war mit mir und wie es mir jetzt ging. Ihnen das zu erzählen, dazu war Vera gerne breit, und sie erfuhren mehr darüber, wie sich eine künstliche Beatmung anhört und wozu die Schläuche dienten, an denen ich hing. Aber schließlich wurden auch Konrad und Daniel eingepackt und es ging ab nach Hause.
Sie waren noch nicht ganz angekommen, als ihnen Ulrike auf ihrem Fahrrad entgegenkam. Ulrike meinte: "Wir haben uns ja vorhin schon darüber unterhalten. Ich glaube, du könntest jetzt Gesellschaft ganz gut gebrauchen. Ich komme heute Nacht zu dir; und keine faulen Ausreden!" Jetzt fand Vera die Idee wirklich gut; sie freute sich und meinte: "Prima, komm mit!"
Zusammen fuhren sie die paar Meter zu uns nach Hause, schlossen die Fahrräder ab und stiegen die Treppen zur Wohnung hoch. Oben angekommen, meinte Vera: "Du, ich muß noch Reinhard Schwester Bescheid sagen. Da bin ich in der ganzen Hektik heute noch garnicht zu gekommen." Das konnte Ulrike wirklich gut verstehen. Und so setzte sich Vera hin und rief meine Schwester an; aber das einzige, was sie zu hören bekam, war das Trillern ihres Faxgerätes, sooft sie auch anrief.
Schließlich, nun wurde es selbst jetzt, im Mai, schon dunkel, entschloß sie sich, ein Telegramm zu senden. Natürlich eins von der etwas teureren Sorte, es sollte ja noch am selben Abend zugestellt werden. Die Post wenigstens war ohne Probleme zu erreichen, und nach einer Weile, es war schon nach zehn, klingelte das Telefon und meine Schwester meldete sich. "Du, unser Fax spinnt und schaltet sich immer ein. Wir hören das Telefon garnicht klingeln. Aber nun sag mal, was ist denn eigentlich los mit Reinhard?"
Nun hatte Vera viel zu erzählen, wie sie zuerst von meinem Unglück erfahren hatte, und von ihren Besuchen im LKH. Nein, wie alles ausgehen würde, das konnte sie nicht sagen, denn das konnten ja nicht einmal die Ärzte. Das lag ja wohl ziemlich im Ungewissen.
Nach diesem Gespräch wollte sie aber doch mal ins Bett gehen, es war ja schon spät, und dieser Tag war wirklich anstrengend genug gewesen. Ulrike fragte: "Wo soll ich denn eigentlich schlafen?", und Vera schleppte Matratzen und Bettzeug ins Wohnzimmer. Dann wünschten sich die beiden "Gute Nacht" und Vera ging ins Schlafzimmer.
Also, es geht gleich mit einer Version von "…Niederschläge" aus dem Jahre 1999 weiter. Was meinen Stil angeht, werden Sie den Unterschied schnell genug merken - denn natürlich kam ich auch 6 Jahre nach meiner Verletzung noch lange nicht an das inzwischen Zurückgewonnene Niveau heran. Was Sie nicht merken können, sind die vielen menschlichen Feinheiten und politischen Argumente, die ich zu jener Zeit anzuführen noch nicht wieder in der Lage war.
Was Sie nie erfahren werden, ist, wie viel Freiheit und wie viel Arbeitsplätze Ihnen in all den Jahren seit 1993 verloren gingen. Lesen Sie nur, warum Sie es glauben sollten. Wenn Sie es genauer und einfach mitreißender lesen wollen, können Sie nur hoffen, dass dann "…Niederschläge" auch schon als Buch vorliegt:
Sie hatte sich kaum ausgezogen und ins Bett gelegt, als sie Husten aus dem Wohnzimmer hörte. Das mußte Ulrike sein. Zum Glück dauerte das Husten ja nicht lange, aber als Ulrike schon kurz darauf wieder damit anfing, wurde klar, daß sie etwas hatte. Und diesmal dauerte ihr Gehuste auch länger; aber schließlich hörte es dann doch wieder auf. Wenig später, viel zu früh fing sie dann schon wieder mit dem Husten an, und so ging dann mit ein paar Pausen immer weiter. Damit war klar: Es gab ein Problem. Aber welches?
Vera war jetzt hellwach und hörte Ulrike nicht nur husten, sondern kriegte auch mit, wie sie in einer Hustenpause die Decke zurückschlug und durch den Flur näher kam. Dann hörte sie sie leise fragen: "Bist du noch wach, Vera?" Und als sie mit "ja" antwortete, ging das Licht an und Ulrike stand in der Tür.
"Du", sagte sie, "ich kann nicht schlafen. Ich bin allergisch, und bei euch ist zuviel Staub für mich in der Luft. Da muß ich immer husten; das hast du ja bestimmt gehört. Ich kann nicht hier bleiben, das geht einfach nicht." Und es hätte ja keinen Zweck, wenn sie und Vera wegen ihrer Husterei die ganze Nacht nicht richtig schlafen könnten. Das allerdings fand Vera auch. Und so zog Ulrike wieder ab, kurz vor Mitternacht.
Richtig gut, fest oder tief konnte Vera in dieser Nacht auch ohne Ulrikes Gehuste nicht schlafen, dazu ging ihr viel zu viel im Kopf herum. Schließlich machte sie sich an das neue Kinderbett, das erst an diesem Tag geliefert worden war, und das sie wegen ihrer Besuche in der Intensivstation nicht hatte aufbauen können. Das wenigstens konnte sie in dieser Nacht tun, ohne die Kinder zu wecken. Die Kinder schliefen neben ihr im Bett, wo ja jetzt wirklich Platz genug war.
Gut, daß sie das wenigstens jetzt schaffte, denn der nächste Tag wurde wieder sehr anstrengend: Wieder besuchte sie mich zweimal, am Vor- und am Nachmittag, im LKH. Natürlich mußte sie dazu auch Konrad und Daniel unterbringen, und hierfür waren ein paar Telefonate fällig.
Im Krankenhaus konnte sie an diesem Tag nicht ewig bleiben; schließlich hatte Daniel Geburtstag, er wurde stolze zwei Jahre alt. Es wurde ein trauriger Geburtstag. Ulrike und Barbara waren mit ihren Kindern da, und Veras Eltern waren auch gekommen. Zu diesem Geburtstag hatte Vera keinen Kuchen gebacken, dazu hatte sie weder genug Zeit noch Kraft gehabt. Den Geburtstagskuchen hatte sie diesmal gekauft.
Nicht alle waren traurig. Klar, die Erwachsenen redeten von wenig mehr, als von meiner Verletzung und meinen Aussichten, aber die Kinder genossen auf der Wiese hinter dem Haus Essen und Trinken, im Sonnenschein gleich neben dem Sandkasten. Sie wußten: Papi ist verletzt und schläft im Krankenhaus, bis er sich ausgeruht hat, aber was macht das, wenn die Sonne scheint und es leckeren Kuchen gibt? Und wenn dann so viele nette Freunde da sind, ist das doch wirklich viel wichtiger. Leider konnten die Erwachsenen, egal ob Vera, Ulrike, Barbara oder Veras Eltern, mein dauerndes Schlafbedürfnis nicht so leicht nehmen.
Vera jedenfalls bekam jetzt sehr viel zu tun: Zweimal täglich mußte sie die Kinder unterbringen, immer, wenn sie zu mir in die Intensivstation wollte. Und die Polizei mußte sie endlich auch anrufen. Schließlich wollte sie genauer wissen, was eigentlich losgewesen war am dem Tage, an dem der Bundestag die Änderung des Asylrechtes im Grundgesetz beschloß. Dazu rief sie im Polizeipräsidium an und fragte nach. Sie erhielt die klare Antwort: Wir wissen von nichts. Der Polizist am Telefon versprach, nochmal nachzufragen und zurückzurufen. Er hielt Wort, und verkündete erneut: Davon weiß hier niemand, nichts von einem Fahrrad und schon garnichts von einem Schwerverletzten.
Das hatte Vera nun wirklich nicht erwartet. Und sie erzählte es Herrn Helmrich am Telefon. Anrufen mußte sie ihn ja jetzt wirklich, schließlich war er mein Chef. Die Gesellschaft zur Förderung der Entbürokratisierung, oder kurz: GFE hatte Herr Helmrich selbst gegründet - was Bürokratie bedeutet, hatte er in seiner Zeit als Bundestagsabgeordneter zur Genüge erfahren - und er leitete sie auch jetzt als Justizminister noch. Schließlich sollte er nun endlich auch erfahren, daß "sein" Geschäftsführer schon seit Tagen ausgefallen war.
Aber dazu mußte sie erstmal seine Telefonnummer wissen. Sie fuhr also ins Büro - den Schlüssel zum Büro der Gesellschaft zur Förderung der Entbürokratisierung hatte sie mit meinem ganzen Schlüsselbund im Krankenhaus bekommen, suchte seine Telefonnummer aus meinen Unterlagen auf dem Schreibtisch heraus und rief in Schwerin an.
Am Telefon im Landesjustizministerium meldete sich Herr Helmrichs Sekretärin und erläuterte, daß Minister Helmrich gerade nicht da sei. Aber schon bald werde sie ihm alles erzählen, und dann werde er bestimmt zurückrufen. Das stimmte, Herr Helmrich rief noch am gleichen Tage an.
Bestürzung klang aus seiner Stimme, und er wollte möglichst genau wissen, was denn nun eigentlich passiert war. Als er dann erfuhr, daß sich die Polizei offensichtlich geweigert hatte, den Vorgang zur Kenntnis zu nehmen, blieb ihm sogar einen kurzen Moment die Luft weg, und er meinte, er werde sich mal dahinterklemmen. Die ganze Sache sei einfach unglaublich. Jetzt sei es wahrscheinlich am sinnvollsten, Anzeige zu erstatten.
Und, "Ach ja, morgen könnte ich bei Ihnen vorbeikommen. Wäre Ihnen das recht?" Nun, einfach war das ganz und gar nicht für Vera, zusätzlich zu zwei Besuchen bei mir im LKH. Andererseits war Herr Helmrich offensichtlich ernsthaft von dem getroffen, was er jetzt erfahren hatte, und das Anliegen, bei ihr vorbeizukommen, war wirklich zu verstehen. Und darum antwortete Vera mit: "Ja". Nun mußten sie noch eine geeignete Zeit vereinbaren, unsere Adresse hatte Herr Helmrich ja.
Gegen Abend, als Minister Helmrich vorbeikam, stand Veras Mutter gerade in der Küche und wusch ab. Sie wollte jetzt, wo Vera so viel zu mir mußte, helfen; und darum war sie gekommen. Die Kinder spielten im Kinderzimmer. Als es klingelte, kam Veras Mutter aus der Küche, und auch die Kinder kamen kurz, um den Besuch zu begrüßen. Veras Mutter blieb eine Weile im Wohnzimmer, Konrad und Daniel zogen gleich wieder zum Spielen ab und kamen nur ab und zu kurz hinein, wenn sie im Wohnzimmer wichtigen Geschäften nachgehen mußten.
Natürlich wollte Herr Helmrich nun gerne wissen, wie so etwas eigentlich hatte geschehen können. Viel konnte ihm Vera da nicht erzählen, sie hätte selber gerne mehr gewußt. Vor allem, daß die Polizei das ganze überhaupt noch nicht zur Kenntnis genommen hatte, konnte er immer noch kaum glauben, selbst dann noch nicht, als er nach fast einer Stunde wieder ging. Nach ein paar Tagen kam dann ein Päckchen mit Wasserfarben und einem Gruß von Herrn Helmrich. Die Wasserfarben, beachtliche Exemplare, waren für Konrad und Daniel, der Gruß war für Vera. Wenig später meldete sich dann das Schweriner Justizministerium am Telefon. Jetzt wurde Vera schnell mit Minister Helmrich verbunden. Herr Helmrich wünschte mir alles Gute und meinte, er setze seinen Einfluß zwar lieber nur sehr zurückhaltend und mit Vorsicht ein, aber was er hier gehört habe, sei ja wirklich ein Hammer. Da werde er sich mal hinterklemmem und versuchen, die Polizei zu Ermittlungen zu bewegen. Wieder riet er Vera, Anzeige zu erstatten. Das könne bei einer Geschichte wie dieser wirklich nicht schaden.
Anzeige zu erstatten, diesen Rat erhielt Vera jetzt öfter. Es half ihr, trütz ihrer Ständigen Ünerforderung zu handeln, und schließlich rief sie noch ein paar Tage später nochmals die Polizei an und fragte nach meinem Fahrrad und was denn hier so über die Vorfälle bei der Demo bekannt sei. Nein, Vera telefonierte diesmal nicht mit dem Polizeipräsidium, sondern einfach mit der nächstgelegenen Wache.
Aus dem Telefonhörer kam ein tiefes Luftholen und das Geräusch eines gerückten Stuhles. Der Polizist am anderen Ende der Leitung konnte dazu nichts sagen, schon deshalb, weil er von nichts eine Ahnung hatte. Er riet Vera dringend, doch mal selber vorbeizukommen.
Und das tat sie jetzt auch. Nun endlich stellte sich heraus, das mein Fahrrad schon bei der Polizei lag, bloß warum eigentlich, das wußte hier niemand. Vera jedenfalls erstattete jetzt Anzeige gegen Unbekannt, natürlich vergeblich. Die Täter waren nun schon seit geraumer Zeit wieder zuhause und jetzt nicht mehr zu ermitteln.
Vera mußte jetzt sehr viel telefonieren und Freunde oder Freundinnen finden, die bereit waren, auf die Kinder aufzupassen, und das zweimal am Tag. Langsam bekam sie richtig Routine darin, das zu organisieren. Wieder und wieder wollte sie mich besuchen, und das war ihr ohne die ständige Hilfe unserer Freunde nicht möglich.
Von Helmrich konnte sie hier in Bonn nichts erwarten. Als Landesjustizminister hatte Herr Helmrich schon in Schwerin genug am Hals. Aber solidarisch und überhaupt hilfsbereit zeigte er sich schon, so gut ihm dies möglich war, von Schwerin aus. Auch kam er ein paar Male vorbei, brachte Konrad und Daniel Geschenke mit und bestärkte Vera als kompenter und einflußreicher Mann darin, alles nun Mögliche zu unternehmen und für mich Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz zu beantragen.
Vera telefonierte aber nicht nur herum; sie wurde aber auch angerufen, von ihrer Mutter, nachmittags, kurz bevor sie wieder zu mir fuhr. Ihre Mutter erklärte ihr, daß sie und Veras Vater mich an diesem Abend gerne im Landeskrankenhaus besuchen würden, um mit eigenen Augen sehen zu können, wie es mir ging. Und sie bat Vera, ihr den Weg dorthin zu erklären. Das tat Vera, und so kamen ihre Eltern am Abend nach Bonn und erlebten selber die grünen Kittel, die zahlreichen Schläuche, an denen ich hing, das Geräusch der künstlichen Beatmung und meine Augen, die nichts sahen.
Dies alles kannte Vera inzwischen nur zu gut; sie war über die Erlebnisse ihrer Eltern in der Intensivstation nicht überrascht. Überraschender war da schon, was sie am Wochenende darauf erlebte, als sie mich besuchte. Es war wieder ein heißer Tag und sie war, wie meistens, mit dem Fahrrad ins LKH gekommen.
Vera hatte kaum an der Tür geklingelt und war gerade dabei, ihre Hände zu waschen, als die Ärtztin zu ihr kam, und ihr erzählte, daß ich hohes Fieber hätte, 39,7 Grad Celsius. Was die Ursache sei, ob eine Lungenentzündung oder eine Infektion der Harnwege, sei nicht sicher. Jetzt sei auch keine Zeit, dies zu untersuchen; ich müsse sofort behandelt werden. Damit hätten sie auch schon angefangen und mir Antibiotika verabreicht.
Damit war Vera wirklich einverstanden. Jedesmal seitdem, wenn sie zu mir kam, warf sie einen Blick auf den Bildschirm am Bett und studierte meine Temperatur darauf. Die bewegte sich zwar mal höher, mal tiefer, aber sank nie unter 39 Grad. Es war wirklich erstaunlich, wie lange ihr jetzt die Zeit zwischen zwei Besuchen schien, egal ob nur der Mittag oder eine Nacht dazwischenlag. Aber kaum kam das nächste Wochenende näher, als die Temperatur anfing, zu sinken. Der Bildschirm, der sie anzeigte, bekam jetzt eine geradezu gesunde Farbe. Eine gesunde Farbe hatte ich ja ohnehin, egal ob mit oder ohne Fieber. So ein Leben mit ständig geschlossenen Augen hat eben auch seine erholsamen Seiten, nur daß ich die leider nicht mitgekriegt habe.
Erholung satt sei jetzt unabdingbar, hatten die Ärzte gemeint. Bei einem Patienten, dessen Gesundheit so angeschlagen war, wie meine, könne jede Infektion zur ernsten Gefahr werden. Und da gingen die Ärzte wirklich lieber auf Nummer Sicher. Vera konnte auf dem Computerbildschirm neben meinem Bett die Veränderungen meiner Temperatur mitverfolgen, und das jeden Tag zwei Mal. Daß mein Fieber nicht unter 39 Grad fiel, bekam sie so aufs deutlichste vor Augen gerührt.
Erst am Wochenende fiel meine Temperatur dann doch. Viel Fieber hatte ich jetzt nicht mehr, und auch die Ärzte waren nun der Meinung, daß das Schlimmste jetzt gewiß vorbei sei. Mit dem Arzt und der Ärztin hatte Vera aber weiterhin viel zu tun, alle zwei bis drei Tage fragte sie, wie sie meine Entwicklung einschätzten. Aber langfristige Prognosen erhielt sie auch jetzt nie dabei; ihr wurde gesagt, daß jetzt alles möglich sei, und ich entweder wieder ganz gesund werden oder auch in Zukunft bettlägerig bleiben würde.
Auch als Vera wissen wollte, wann sie sich wieder mit mir unterhalten können werde, hielten sich die Ärzte bedeckt. Abwegig sei so eine Hoffnung nicht, das immerhin ließen sie durchblicken, bloß zum wann und wie gut wollten sie lieber nichts sagen. Dabei fand Vera schon, daß sich einiges verändert hatte mit mir; alle paar Tage sogar. Am Anfang hatte ich meistens keine Reaktionen auf ihre Versuche gezeigt, Kontakt mit mir aufzunehmen. Nun bewegte ich meine Augen dann schon deutlich stärker, geschlossen wie sie dennoch auch jetzt noch waren. Aber ob die Ärzte, die mich nicht so gut kannten, wie sie, dies nicht bemerken konnten, oder ob sie einfach keine Vorhersagen wagen wollten, sie gaben Vera keine Antwort, sooft sie ihnen auch erzählte, was sie an Veränderungen bemerkt hatte, und sooft sie sie fragte.
Etwas ganz anderes wurde ihr schon angekündigt, von der Ärztin, die diesmal gerade Dienst hatte. Das sei ja überhaupt nicht schön, so ewig mit einem Schlauch in der Nase. Vor allem bestehe die Gefahr, daß sich in meiner Nase Geschwüre bildeten und sie verstopften. Die seien dann nicht mehr so leicht zu entfernen. Und deswegen hätten sie jetzt, wo ich die Schläuche schon zwei Wochen in der Nase hätte, vor, mir die Kehle aufzuschneiden und dort eine Trachealkanüle zu legen. Das sei schon deshalb besser, weil mir der Schluckreflex abhanden gekommen sei, und so besonders schön sei Spucke in der Luftröhre ja nun wirklich nicht.
Nun fragte Vera, wann ich denn operiert würde, und die Ärztin antwortete ihr: "Morgen, Frau Gamme. Der Schlauch kann jetzt nicht mehr länger durch die Nase geführt werden, ohne negative Folgen für die Gesundheit ihres Mannes zu riskieren. Den Luftröhrenschnitt, den machen wir morgen". Und nach kurzer Stille: "Natürlich ist das nicht sehr schön, aber sie brauchen wirklich nicht besorgt zu sein. So etwas ist heutzutage ein Routineeingriff."
Und Vera meinte: "Morgen? Ein Routineeingriff? Für mich nicht. Morgen feiere ich Geburtstag; ich werde dreißig Jahre alt."
Die Ärztin lies sich nur kurz irritieren und erkärte: "Nach dem Schnitt sollte ihr Mann schon seinen eigenen Rasierapparat hier haben. Bisher haben wir ihn ja immer mit einem Rasiergerät vom LKH rasiert, aber ewig kann das natürlich nicht so weitergehen."
So so; einen eigenen Rasierapparat. Das war nicht so ganz einfach; ich hatte keinen. Selber hatte ich mich mit Rasierklingen rasiert, aber jetzt lief das Rasieren ja ohnehin ganz anders. Vera hoffte, daß dieser Einkauf nicht so wahnsinnig schwer werden würde. Wie eine Fachfrau für Rasierapparate kam sie sich nun nicht gerade vor.
Es wurde ein einsamer Geburtstag diesmal. Keine Horden von Gästen, die einfielen, um mit ihr zu feiern. Kuchen gab es auch nicht. Als einziger kam ihr Bruder. Der durfte nun wirklich nicht fehlen, wenn sie dreißig Jahre alt wurde. Zu irgendwelchen Feiereien hatte Vera jetzt aber einfach keine Lust.
Schließlich hielt es Vera nicht länger aus; sie rief das LKH an. "Ist mein Mann schon operiert? Wie geht es ihm? Wann kann ich ihn denn besuchen?" Sie erfuhr, das schon alles vorbei sei, und daß sie jederzeit kommen könne. Das bekam natürlich auch ihr Bruder mit, der bei ihr war; und er bot ihr an, auf die Kinder aufzupassen. "Dann kannst Du gleich zu Reinhard", meinte er.
Diese Angebot nahm Vera sehr gerne an, setzte sich zur Abwechslung ins Auto und fuhr gleich los. Sie wollte doch nicht den einzigen Gast, der zu ihrem dreißigsten Geburtstag gekommen war, ewig auf die Kinder aufpassen lassen. Denn das war notwendig. So sollten mich Konrad und Daniel doch nicht sehen, bewußtlos und an ein paar Schläuche angeschlossen. Daher war sie sehr froh, daß ihr Bruder, ihr einziger Geburtstagsgast, ihr diese Hilfe anbot. Ein bißchen schneller ging es ja schon mit dem Auto; und den Rasierapparat nahm sie bei dieser Gelegenheit natürlich auch mit.
Parkplätze gab es am LKH zum Glück genug, und Vera beeilte sich, in die Intensivstation zu kommen. Fast war es ja wie immer: Klingeln, ein Krankenpfleger öffnet die Tür, Hände waschen, grünen Kittel über, und dann rein in mein Zimmer. Aber da war auch etwas ganz anders. Temperatur, Herzschlag und Atemrhythmus waren in Ordnung; das war auf dem Bildschirm zu sehen. Auch der Schlauch für meine künstliche Ernährung führte wie immer unter die Bettdecke, wo er in meinem Bauch verschwand.
Aber der andere Schlauch, mit dem ich beatmet wurde, führte nicht mehr in meine Nase. Gespenstisch. Nur das Geräusch der Beatmungsmaschine klang wie immer. Dafür kam jetzt ein gleicher Schlauch aus einem wohl aufgeklebten, gepolsterten Verband auf meinem Hals, etwa in der Höhe meiner Kehle.
Das sah eigentlich ganz ordentlich aus, dieser Schlauch, der aus meinem Hals kam. Und, so verrückt es Vera auch vorkam, das Geräusch der Beatmungsmaschine beruhigte sie. Das klang irgendwie wie immer. Vera packte das Rasiergerät aus und legte es neben den Computerbildschirm an meinem Bett. Sie hatte wirklich nicht lange gefackelt, war in drei Kaufhäuser gegangen und hatte einen geeigneten Rasierer ausgewählt. Im Wesentlichen wußte sie ja, worauf es hier ankam: Auf die Möglichkeit, den Rasierer mit Akku zu betreiben. Die meisten Rasierer haben einfach zu kurze Kabel, um Leute zu rasieren, die im Bett liegen. Da war dann ein Akku schon sehr hilfreich.
Dieser Tag war ja wirklich nicht nur ihr erster dreißigster, sondern überhaupt ihr erster Geburtstag, an dem sie je einen Rasierapparat gekauft hatte. Und hierbei hatte sie nicht nur auf auf die Möglichkeit geachtet, den Rasierapparat mit Akku laufen zu lassen, sondern auch darauf, daß er einen Langhaarschneider hatte. Allzugroß war die Auswahl da wirklich nicht, und sie hatte sich schon im dritten Kaufhaus für einen Rasierer entschieden. Der lag jetzt neben dem Bildschirm in der Intensivstation, und ich wurde durch einen Schlauch im Hals beatmet.
Nackt, wie immer, lag ich unter dem Laken. Um unter einer richtigen Bettdecke zu liegen, dafür war es einfach viel zu heiß in diesem Sommer, und einen Schlafanzug hatte ich nicht im Krankenhaus, nur einen Rasierapparat - neuerdings. Ein bißchen hatte sich jetzt ja schon geändert, mit meinen Schläuchen, aber mit der Moltex-Einlage war alles gleich geblieben. Die lag noch immer da, wo sie immer lag; unter meinem Hintern.
Nach einer Katastrophe sah es hier also nicht aus, Vera konnte beruhigt sein. Allzulange wollte sie jetzt aber auch nicht bleiben, und ihren Bruder, ihren einzigen Geburtstagsgast, mit dem Aufpassen auf die Kinder beschäftigen. Ohnehin hatte sie ja langsam für ihren Geschmack etwas zuviel Routine darin, Leute zu finden, die auf Konrad und Daniel aufpaßten, wenn sie zu mir kam; zweimal am Tag.
Nun machte sie sich auf den Heimweg, grünen Kittel aus, raus aus der Intensivstation, zum Auto, und zu ihrem Geburtstagsgast, der auf Konrad und Daniel aufgepasst hatte. Sie war froh, als sie hörte, daß alles problemlos geklappt hatte. Und noch lange saßen Vera und ihr Bruder zusammen; natürlich nicht ohne Unterbrechung. Irgendwann mußten die Kinder ja auch ins Bett, und dazu mußte Vera Daniel was vorlesen. Aber das ging auch vorüber, und Vera und ihr Bruder konnten sich weiterunterhalten. Zu bereden gab es ja wirklich genug.
Das fand auch Daniel. Schon am nächsten Morgen hörte Vera seine Stimme aus dem Kinderzimmer schallen: "Hallo, Papi!", und das nicht nur ein Mal. Langsam wurde sie neugierig, was er jetzt eigentlich machte. Sie schlich zum Kinderzimmer, und sah: Aha, diesmal hatte er sich den Teddy ausgesucht. Zu ihr oder Konrad hatte er ja schon ein paar Mal Papi gesagt, aber der Teddy, das war etwas neues. Vera kam das fast beruhigend vor, es war ihr ja wirklich schon geradezu unheimlich, wie wenig die Kinder sie gefragt hatten, warum eigentlich ich schon so lange nicht mehr nach Hause gekommen war.
Aber lange konnte sie leider nicht zukucken, was Daniel mit seinem behaarten Papi trieb. Schon bald mußte sie ja auch jetzt wieder zur Intensivstation. Und wieder hatte sie es geschafft, Daniel solange unterzubringen. Den Weg ins LKH kannte sie jetz schon lange gut genug, das war kein Problem. Und daß der Krankenpfleger, der ihr die Tür aufmachte, zu ihr sagte: "Der Arzt möchte Sie sprechen, er kommt gleich", das passierte an diesem Tag ja auch nicht zum ersten Mal.
Es dauerte wirklich nicht lange, bis der Arzt, wie angekündigt, zu Vera auf den Flur kam und sagte: "Erfolgreich operiert ist ihr Mann ja jetzt. Ich kann zwar nicht sagen, wie lange das dauern wird, aber es ist doch nicht damit zu rechnen, daß er nie mehr aufwacht. Wenn er wieder stabil selbständig atmen kann, dann würden wir empfehlen, ihn ins Neurologische Rehabilitationszentrum Godeshöhe zu verlegen. Und dann hätte er gute Chancen, wieder weitgehend zu sich zu kommen. Wir arbeiten ganz gut mit der Godeshöhe zusammen, und wenn Sie einverstanden sind, würde ich mich dafür einsetzen, daß ihr Mann von der Godeshöhe zügig aufgenommen wird."
Und dann meinte er noch: "Die Godeshöhe ist ja für Sie nicht schwerer zu erreichen als wir hier. Sie liegt in Godesberg, also nur ein paar Kilometer südlich von hier."
Also Godeshöhe heißt das Ding, es liegt in Godesberg und ist ein neurologisches Rehabilitationszentrum. Aha. Wo Godesberg lag, das wußte Vera; ein paar Jahre hatten wir selber da gewohnt. Godesberg ist zwar seit zwanzig Jahren ein Stadtteil von Bonn, aber für Bonner halten sich die Godesberger bestimmt nicht. Das muß wohl an der Godesburg liegen, die majestätisch auf Godesberg herabblickt. Die Godesburg liegt in Trümmern.
Aber was ein Rehabilitationszentrum denn eigentlich war, das wußte sie nicht. Neurologisch, das hatte ja wohl etwas mit dem Nervensystem zu tun, und Rehabilitation... Um meinen Ruf oder meine Ehre konnte es dabei wohl nicht gehen, wahrscheinlich hatte das, was hier wiederhergestellt werden sollte, etwas mit meiner Gesundheit zu tun. Warum hätte der Arzt wohl sonst so viel Wert darauf legen sollen? Denn daß er das tat, war offensichtlich.
Und es war ja wohl wirklich noch genug zu tun, um mich wieder gesund oder doch wenigstens weniger krank zu machen. Vera fragte, was denn so ein Rehabilitationszentrum im allgemeinen, und das Neurologische Rehabilitationszentrum Godeshöhe im Besonderen für mich tun könnte. Auf diese Frage antwortete der Arzt gerne.
Zunächst erklärte er Vera, was ein Rehabilitationszentrum ist. Hier gehe es um gesundheitliche Rehabilitation, also Wiederherstellung so weit wie möglich. Der Unterschied zu einer normalen Klinik bestehe darin, daß in erheblichem Umfang auch nichtärztliche Fachleute dabei mitwirkten, also nicht nur Krankengymnasten wie im LKH, sondern auch ganz anders qualifizierte Fachleute wie Ergotherapeuten, Logopäden und alles mögliche.
Selbst eine Beratung zur beruflichen Rehabilitation sei hier möglich. Und dieses weite Spektrum von Möglichkeiten sei für Patienten mit angeschlagenem Nervensystem, und hierzu zähle ja auch das Gehirn, besonders wertvoll. Die Godeshöhe kenne sich auch mit der Frührehabilitation gut aus, und das heiße, wie Patienten nach dem Koma wieder zurück ins Leben gelockt werden könnten. "Ich, Frau Gamme", sagte der Arzt, "kann Ihnen zu einer Überweisung ihres Mannes in die Godeshöhe nur raten. Und die Aussichten, daß ihr Mann dort behandelt werden kann, sind ganz gut. Wir arbeiten seit langem vertrauensvoll zusammen. Und - und das wäre ja auch nicht schlecht - ihr Mann käme nicht in die Walachei zur Behandlung."
Das hörte sich ja wirklich gut an, fand Vera. Der Arzt schien viel vom Rehabilitationszentrum zu halten. Gerade das Thema Frührehabilitation klang für sie sehr verlockend; und sie hörte genau zu, als der Arzt erklärte, mit welchen Anreizen hier die Patienten wieder zurück ins Leben gelockt würden. Das gab es ja wohl nicht überall, und auch, daß ich in Bonn bleiben könnte, war Vera dabei garnicht egal. Deshalb hörte sie dem Arzt so lange zu, bis er mit seinen Erklärungen nach einer ganzen Weile zum Ende gekommen war. Dann ging sie zu mir ins Zimmer. An diesem Tag hatte sie einen Walkman und eine Cassette mitgebracht, und als sie mir die vorspielte, hoffte sie, daß dies auch mithelfen würde, mich ins Leben zurückzulocken.
Vera erzählte mir, was mit den Kindern los war, spielte mir die Cassette mit Grüßen von Konrad und Daniel vor, die sie extra dafür aufgenommen hatte, und dann noch Musik. Eine Cassette mit Musik hatte sie auch mitgebracht. Und da.. da machte ich wahrhaftig die Augen auf. Na ja, nicht sehr lange, und ich machte sie auch gleich wieder zu; aber ich hatte sie wenigstens einmal aufgemacht. Wirklich aufregend! Vera fühlte sich anders als sonst, als sie diesmal wieder nach Hause fuhr, auf der Strecke, die sie für ihren Geschmack jetzt schon viel zu gut kannte.
Zuhause machte sie sich an die nächsten Telefonate, und auch die waren von einer Sorte, auf die sie viel lieber verzichtet hätte. Kinder unterbringen - das mußte sie ja jeden Tag zweimal, und Freunde und Verwandte anrufen. Herrn Helmrich hatte sie ja gleich zu Anfang Bescheid gesagt, aber es waren wirklich noch genug Anrufe fällig, vor allem Musiker noch und nöcher. Heute war Astrid dran. Die Astrid kannte ich schon sehr lange; wir waren beide noch Teenis gewesen, als wir uns kennengelernt hatten. Aber das war schon lange vorbei, und wir hatten jetzt beide Kinder.
Astrid fiel fast vom Stuhl, als Vera sie anrief und ihr erzählte, was mir passiert war. "Und wo liegt der Reinhard, im LKH auf der Intensivstation? Und er muß künstlich beatmet werden? Das ist ja schrecklich! Da muß ich unbedingt mal hin, und zwar bald."
Sie hielt Wort, und kam schon zwei Tage später. Weit hatte sie es ja nicht, sie mußte von ihrer Arbeit als Krankengymnastin im LKH aus nur zwei Häuser weiter. Natürlich mußte sie nach der Arbeit erst noch duschen, bevor sie in die Intensivstation kam, aber wenigstens wußte sie, wo die zu finden war, und sie wurde auch hineingelassen. Bei dieser Gelegenheit lernte jetzt auch Astrid die grünen Kittel und den Bildschirm auf der Intensivstation sowie die Schläuche, die mir aus der Kehle und sonstwoher kamen, näher kennen. Astrid ließ sich von ihnen nicht abschrecken und kam wieder und wieder.
Abschrecken ließ sich aber auch Vera nicht. Tag für Tag schaffte sie es, die Kinder zweimal unterzubringen und ins LKH zu kommen. Das gelang ihr nur, weil ihr Freunde und Bekannte beisprangen und sie selbst nicht darüber nachgrübelte, wieviel Kraft sie dafür brauchte. So lebte sie von Tag zu Tag, denn wie jetzt alles weitergehen sollte, wußte sie nicht. Auch von den Ärzten erhielt sie hier keine sichere Auskunft. Die wollten jetzt auch nichts Falsches sagen.
Aber eins war nicht zu übersehen: Wenn Vera jetzt kam, machte ich manchmal für Sekunden, manchmal für Minuten die Augen auf. Oft genug schlief ich auch. Das lag wohl an meinem gequetschten Hirn, jedenfalls war mir mein Schlafrhythmus verloren gegangen. Aber selbst wenn meine Augen geöffnet waren, sah ich sie nicht unbedingt an. Zwar drehte ich mich, wenn sie kam und mich grüßte, zu ihr um, aber nach einer Weile drehte ich mich dann wieder zum Fenster, ohne daß ihr klar wurde, was ich da sah.
Bald war es schon selten, daß ich nicht wenigstens für eine Minute die Augen öffnete, wenn Vera kam. Als der Arzt ihr jetzt das nächste Mal wieder vom Neurologischen Rehabilitationszentrum Godeshöhe erzählte, fragte sie ihn, wie lange ich denn noch beatmet werden müsse. Vera hatte Halsschmerzen.
Auf ihre Frage meinte der Arzt, daß es schon einen Versuch wert sei, zu prüfen, ob ich nicht auch wieder selber atmen könne, und machte sich gleich ans Werk. Er holte ein kleines rotes Klämmerchen und steckte es mir an die linke Hand. An dem Ding war eine starke Lampe, die meinen kleinen Finger anstrahlte. Nicht, weil mein Finger so schön ist, sondern um den Sauerstoffgehalt meines Blutes zu messen. Blut hat eine andere Farbe, je nach dem, ob es viel oder wenig Sauerstoff transportiert. Und das war mit dem Klämmerchen mit seiner starken Lampe durch die Haut meßbar. Und dann stellte er die künstliche Beatmung ab.
Ich atmete, unruhig aber immerhin. Mit dem Sauerstoffgehalt meines Blutes blieb alles in Ordnung, aber der Arzt sagte: "Wir wollen es ja nicht gleich übertreiben" und stellte das Beatmungsgerät wieder an. Das erforderte keine großen Umstände, der Schlauch steckte ja noch in meinem Hals. Immerhin: Ich hatte über eine Minute selbständig und alleine geatmet, und ich lebte noch. Als Vera dann wieder nach Hause fuhr, machten ihr ihre Halsschmerzen nichts mehr aus.
Endlich veränderte sich etwas mit mir. Nicht, daß die Ärzte Vera jetzt gesagt hätten, was sie zu erwarten habe, die Ärzte hielten sich bedeckt. Aber sie bekam jetzt jeden Tag mit, daß ich etwas länger selbständig atmete. Mal wurde ihr das erzählt, und mal konnte sie es selbst miterleben. Und was ihr gesagt wurde, war, daß, wenn ich auch weiterhin so große Fortschritte machte, ich bald auf eine andere Station verlegt würde. Und daß dann, wenn ich wieder sicher selbständig atmen könnte, meine Verlegung in das Rehabilitationszentrum sehr zu empfehlen wäre. Sehr hoffnungsvoll hörte sich das an. Veras Halsschmerzen nahmen keine Rücksicht darauf, sie wurden stärker.
Die Halsschmerzen wurden stärker und stärker, bis sich ein Arztbesuch nicht länger vermeiden ließ; Diagnose: Eitrige Mandelentzündung. Nun endlich mußte Vera zu Hause bleiben, diese ewigen Besuche hatten sie mehr als genug angestrengt. Jetzt konnte sie nur in der Intensivstation anrufen, und erfuhr am Telefon, daß ich nicht mehr beatmet werden mußte und auf eine andere Station verlegt worden war.
Hierhin kam sie, kaum daß es ihr wieder besser ging. Nach ihrer Erkrankung beschränkte sie sich auf einen Besuch am Tag. Die Station, in der sie mich jetzt besuchen konnte, lag im selben Haus wie die Intensivstation, aber ein Geschoß höher. Das Zimmer war kleiner als das in der Intensivstation mit seinen vielen Geräten, es war ein Einzelzimmer.
Unheimlich war das hier, keine künstliche Beatmung, kein Bildschirm, und die Schwestern hier machten sogar die Tür zu! Was da alles passieren konnte! Die seltsame Art, in der ich atmete, stimmte Vera auch nicht zuversichtlicher. Mal vergaß ich das Luftholen für eine Weile ganz, und dann atmete ich tief und eilig ein. Meine Art, nur unregelmäßig nach Luft zu schnappen, beunruhigte Vera so sehr, daß sie den Arzt rief.
Sie erzählte ihm das, was sie gesehen und gehört hatte, und auch, wie sehr sie das besorgte. Ihre Angst fand der Arzt berechtigt: "So etwas ist immer mit einem gewissen Risiko verbunden. Es ist schon möglich, daß es mit dem Selberatmen nicht klappt. Aber dieses Risiko müssen wir eingehen, es ist nicht zu vermeiden. Sie wollen doch wohl nicht, daß ihr Mann für den Rest seines Lebens beatmet wird?"
Auch Astrid erlebte jetzt meine neue Unabhängigkeit von der künstlichen Beatmung. Natürlich mußte ich auch weiterhin künstlich ernährt werden, aber das war ja auch im Rehabilitationszentrum möglich. Und mit dem Rehabilitationszentrum arbeitete ja das LKH - so nennen die Bonner Eingeborenen und andere Fachleute das Landeskrankenhaus - seit langem sehr gut zusammen, und schon nach kurzer Zeit erfuhr Vera, daß ich am nächsten Tage dorthin verlegt werden würde. Sie erfuhr auch, wie sie dorthin kommen konnte; es war ja wirklich nicht weit weg.
Am nächsten Tag kam nicht Vera, sondern drei Herren, die ich nicht kannte. Sie hatten eine rollbare Bahre dabei. Auf die legten sie mich, und dann ging es raus aus dem Zimmer, runter ins Erdgeschoß und raus aus dem LKH. Natürlich ging es dann nicht nur raus mit mir, sondern auch rein. Rein in den Krankenwagen, mit dem ich quer durch Bonn ins Neurologische Rehabilitationszentrum Godeshöhe überführt wurde. Die Leute, die da vor der Türe standen, mußten jetzt für den Krankenwagen Platz machen.
Zuerst zog die Besatzung des Krankenwagens den rollbaren Unterbau für meine Bahre aus dem Auto, ein hier fast täglicher Anblick. Dann hievte sie auch mich heraus und rollte mich in die Reha. Links, um die Ecke nach rechts, nochmal links und dann im Aufzug hoch in den ersten Stock. So hatte man ihnen ihren Auftrag erklärt; natürlich war ihnen ohnehin klar, wo ich hinsollte. Oben meldeten sie sich auf der Station und ließen sich erklären, in welches Bett ich ausgepackt werden sollte.

 

Er sitzt

Nun war ich also in der Reha, konnte nicht sprechen, und es war auch nicht ganz klar, ob ich verstand, was mir gesagt wurde. Aber immerhin hatte ich jetzt öfters die Augen auf und schien auch etwas davon mitzukriegen, was um mich herum so vorging. Natürlich mußten alle, die mich behandeln wollten, zu mir kommen, denn ich konnte mein Bett, und erst recht die Station, nicht verlassen. Fälle wie ich damals kommen in die Früh-Rehabilitation; in der Godeshöhe heißt die Station dafür B1. Auch in der B1 besuchte mich Vera jeden Tag.
Der erste Tag, an dem sie mich in der Godeshöhe besuchte, war ein heißer Tag und der Himmel war blau. Vera fuhr über die Südbrücke und in der Rheinaue links Richtung Godesberg und dort rechts ab. Hierzu nahm nahm sie das Auto, denn diese Straße führt ein ganzes Stück sanft bergauf.
Schließlich tauchte das Reha-Zentrum auf.
Die Godeshöhe lag ziemlich weitläufig und schön in der Sonne vor ihr; sie machte einen gepflegten Eindruck. Schon die Strecke hierher, den langgezogenen Berghang hoch, vorbei an sonnenbeschienenen Wiesen und Gärten, war sehr schön gewesen, aber das konnte sie jetzt nicht genießen. Dazu lebte sie nun schon zu lange in einem Albtraum; Kinder unterbringen und das besuchen, was von ihrem Mann übrig war. Da konnte sie auch der Wald oben am Hang nicht trösten.
Immerhin praktisch war der große Parkplatz hier oben. Das ist ja bei solchen Besuchen nun auch schon was wert. Hier stellte sie das Auto ab und ging eine kleine Treppe links zum Eingang hoch.
Vor ihm war ein geräumiges Vordach, zu dem eine breite Auffahrt hinführte. Und hier tummelte sich eine Anzahl von Rollstuhlfahrern und Gehbehinderten mit Krücken und sonstigen Gehhilfen. Soviele, wie man sie sonst nicht zu Gesicht bekommt. "Hier ist Reinhard angekommen", schoß es ihr durch den Kopf. "Wenn er Glück hat, kann er das auch bald." Aus einem Fenster im ersten Stock waren Schreie zu hören.
Die meisten Patienten vor dem Eingang standen und saßen in kleinen Gruppen herum. Viele unterhielten sich, aber genausoviele waren wohl auch bloß zum Luftschnappen oder Rauchen heruntergekommen. Die meisten waren bei dem heißen Wetter leicht bekleidet. Viele hatten T-Shirts oder auch Shorts an, die Männer eher "cool", der Aufzug einiger Frauen war teilweise geradezu heiß.
Vera öffnete eine der Glastüren unter dem Vordach, die hier nur einen kleinen Teil einer sehr großen Glasfront bildeten. Damit kam sie genau auf die Pförtnerloge, untenherum massiv und obenrum verglast, zu. Vera fragte nach der B1 und erfuhr: Links lang und nach der Rechtskurve wieder links den Korridor gleich gegenüber der Sitzgruppe. Dann mit dem Aufzug in den zweiten Stock. Sie ging also in den Flur links und dann rechts um die Ecke herum, hinter der nach wenigen Schritten die Sitzgruppe lag. Hier bog sie in den langen Gang links gegenüber ab. Sie kam schon in die Nähe einiger Büros, als rechts der Aufzug auftauchte. Sie trat hinein und drückte auf den Knopf für den zweiten Stock. Hoch fuhr der Aufzug, und schon ging die Türe auf, und sie war, schwuppdiwupp, da.
Ihr erster Eindruck auf dem Flur der B1 war gut. An der Wand, gestrichen in einem warmen Gelbton, hingen wirklich schöne Bilder. Sogar ein "Activity-Center", eine Holztafel mit allerlei Knöpfen und -hebeln zum Drehen gab es hier. Ähnliches gibt es normalerweise für Kinder, aber für Kinder war dieses eindeutig zu groß, außerdem aus Holz und auffällig sorgfältig verarbeitet.
Vera merkte, wie sie ein Schluchzen schüttelte. Die Tränen schossen ihr in die Augen. Sie hatte jetzt wieder die Gestalten vor dem Eingang vor Augen. Wieviel besser als ich waren die doch dran! Bei mir war es ja noch garnicht klar, ob überhaupt, und wenn, wann ich noch mal alleine vor die Türe gehen können würde. Hier war jedenfalls das Zentrum, nicht für Leute, die sich vielleicht das Bein gebrochen hatten.
Sie wußte nicht, ob eine viertel oder eine halbe Stunde vorbei war; schließlich ließen ihre Tränen nach und sie wollte nur noch das richtige Zimmer finden. Da sah sie neben einer Tür gleich schräg gegenüber dem Fahrstuhl meinen Namen: Reinhard Gamme.
Vera öffnete die Türe und ging hinein. Sie konnte ja niemanden fragen, einfach weil niemand zu sehen war.
Sie kam in ein geräumiges Zimmer mit zwei Betten, eins auf der linken, eins auf der rechten Seite. Die linke Seite war etwas weniger tief. Hier war gleich hinter dem Eingang eine Tür, wahrscheinlich ins Badezimmer. Und im Bett dahinter sah Vera mich.
Das Zimmer war in dem gleichen warmen Gelbton gestrichen wie der Flur. Die Betten waren mit lindgrünen, schön gemusterten Bezügen bedeckt. Hier lag ich, blickte unruhig hierhin und dorthin und bewegte mich auch, anders als der Mann rechts, der eher apathisch und ganz ruhig dalag. Vera nahm meinen Arm und streichelte mich. Sie drückte meine Hand und sagte. "Hallo, ich bin Vera." Und dann erzählte sie mir, was an diesem Tage so alles passiert war. Nach einer Weile sah ich sie richtig an. Natürlich nicht sehr lange, aber solange konnte man geradezu glauben, daß ich sie erkannte.
Plötzlich ging die Türe auf und eine Frau kam herein. Irgendwie nicht wie eine Besucherin, sondern wie jemand, der sich auskennt und etwas zu tun hat. Das mußte jemand von der Station sein. Eine Krankenschwester.
Die Krankenschwester - denn sie war wirklich eine - schaltete gleich richtig: "Sie sind wohl wegen des neuen Patienten gekommen, Herrn... (ääh) Gamme. Sie nannte ihren Namen und auch Vera stellte sich vor. Und dann erzählte sie, was hier so gemacht werde und auch davon, was hier anders wäre als in einem normalen Durchschnittskrankenhaus.
"Wir versuchen hier, die Patienten möglichst wieder lernen zu lassen, was man so im Leben braucht", meinte sie. "Wir werden ihrem Mann bald die Gelegenheit geben, wieder zu sitzen und zu stehen, damit er das möglichst schnell wieder lernt. Dazu wird er an eine Liege geschnallt, die hochgekippt werden kann. Keine Angst, das ist ganz harmlos." Und sie fügte hinzu: "Dazu gehört natürlich auch, daß ihr Mann Schlafanzüge zum Anziehen bekommt. Am besten bringen Sie bald welche mit." Vera nickte. Jetzt konnte sie sich vorstellen, wozu die hochklappbare Liege gut war, die sie auf dem Flur gesehen hatte.
"Was wir eigentlich wollen" , meinte die Krankenschwester, "ist, unsere Patienten wieder in die Realität zurückzulocken. Denn der Kontakt zur Außenwelt ist ja bei Leuten, die im Koma liegen, total abgebrochen. Und das schaffen wir oft am besten, wenn wir kleine Brücken bauen. Selbst Haarekämmen kann dabei Wunder wirken. Natürlich wissen wir vorher nicht genau, was dabei den Ausschlag geben wird. Aber wir haben eine Menge Erfahrung, und wir versuchen es mit vielen verschiedenen Methoden. Die Chancen stehen ganz gut, daß unsere Behandlung dem Patienten wieder eine Tür zur Umwelt öffnet."
Und dann meinte sie noch, daß Vera unbedingt Sachen zum Anziehen mitbringen müsse; also nicht nur Schlafanzüge, sondern auch T-Shirts und kurze Hosen. "Für lange Hosen ist es jetzt einfach zu heiß, aber etwas braucht ihr Mann hier schon zum Anziehen", sagte sie. Dann erklärte sie, daß ich hier auch ohne Probleme Schlafanzüge anziehen könnte. Hier sei es nicht mehr notwendig, daß ich gleich auf einer dafür geeigneten Unterlage liege, hier werde ich mit Windeln versorgt.
Die Schwester sah sie freundlich an und nahm noch einmal meine Hand. Das hatte sie schon eine ganze Weile immer wieder gemacht. Sie hatte meine Hand genommen und mir meine verkrampften Finger gestreckt und geradegebogen. Es sah gut aus. Ruhig und selbstverständlich, und garnicht nach einem großen Aufstand. Einfach richtig eben.
So bekam Vera wieder eine neue Portion Aufgaben. Shorts mußten ja erst gekauft werden, und T-Shirts hatte ich auch nicht genug. Am einfachsten ging es schon mit den Schlafanzügen, die mußte sie einfach mitbringen. Nach ein paar Tagen war sie dann schon ein bißchen an die Reha gewöhnt, an den Weg mit dem Auto bis zur Godeshöhe und dann auf die Station. Aber als sie dann wieder ins Zimmer kam, war alles ganz anders, unheimlich anders. Ich war einfach nicht da, mein Bett war leer.
Vera stürzte auf den Flur. Das mußte unbedingt sofort abgeklärt werden. Auf Wanderschaft konnte ich doch nun wirklich nicht gegangen sein.
Da sah sie mich. Schon auf dem Wege ins Zimmer war ihr die Gestalt auf dem Flur, die mit Gurten an den Rollstuhl gebunden war, aufgefallen. Das war ich. Mit Gurten an den Rollstuhl festgeschnallt war ich zu meiner eigenen Sicherheit. Alleine sitzen konnte ich ja nicht. Auch meine Beine waren festgebunden, sicher ist sicher. Ich war schweißüberstömt, so sehr strengte das Sitzen mich an. Das wußten natürlich auch die Schwestern, und sie erlösten mich nach zehn Minuten.
Schon innerhalb weniger Tage wurde jetzt mein Programm in der Godeshöhe immer umfangreicher, um nicht zu sagen: sehr umfangreich. Es dauerte nicht viel länger als eine Woche, bis es schwierig wurde, mich zu erwischen und Vera auf mich warten mußte, bis ich frei hatte. Dann wurde ich hereingerollt und bekam zum Beispiel diese Mega-Presse in den Schlauch, der aus meinem Bauch kam. Denn so wurde ich künstlich ernährt. Und kaum war das Essen auf den Weg gebracht, wurde die Presse herausgezogen und der Schlauch verstöpselt, und schon ging es ab zur nächsten Behandlung.
Diese "Mega-Presse" sah aus wie eine riesige Impfspritze aus Plastik, und es paßte bestimmt ein halber oder ganzer Liter hinein. Wahrscheinlich gibt es auch ein besonderes Wort für das Ding, aber das kenne ich einfach nicht.
Ich bekam jetzt auch Logopädie, und das heißt: Ich sollte wieder sprechen lernen. Auch hier ging es darum, mein Gehirn wieder auf Touren zu bringen. Natürlich wäre das nicht möglich gewesen, wenn ich nicht immer mehr auf die Zuwendung anderer Personen reagiert hätte; und das dies so war, hatte auch Vera schon mitbekommen, wenn sie zu mir kam. Unübersehbar fand sie es.
Dazu bekam ich Kopfhörer an, und dann wurde mir Musik von der Kassette vorgespielt. Natürlich nicht irgendeine, und der Frequenzverlauf war auch geändert. Auch Vera wurde gebeten, mir Musik mitzubringen. Wieder nahm sie eine Kassette für mich auf und spielte sie mir bei ihren Besuchen vor, also eigentlich jeden Tag.

Selbst bei dem, was sie bei ihren Besuchen bei mir anzog, dachte sie sich etwas. Daß ich wieder einen Weg zurück in die Wirklichkeit fingen würde, dabei wollte sie mithelfen; und dazu zog sie bunte, auffällige Sachen an.
Und auch Konrad und Daniel brachte sie jetzt, wo ich nicht mehr an einer Maschine, die mich beatmete, hing, mit. Die Kinder freuten sich sehr. So viele Wochen schon hatten sie mich nicht gesehn!
Sofort kamen sie zu mir ans Bett. Endlich wieder zu Papa! So lange hatten sie darauf warten müssen. Und jetzt? Immerhin hatte ich noch dieses dicke Pflaster am Hals, aus dessen Mitte der Schlauch zur Beatmung etwa drei Zentimeter hervorstand. Meinen Kopf wandte ich hierhin und dorthin.
Fremd und unheimlich kam ich ihnen vor. Da half es nichts, daß ich sie schon nach wenigen Minuten einen Moment lang ansah; so, wie sie mich jetzt erlebten, hatten sie Angst vor mir. Erst als ich mich wieder umgedreht und damit begonnen hatte, die Wand zu betrachten, faßten sie Mut und begannen damit, mich zu streicheln. Jetzt freuten sie sich sehr darüber, mich endlich sehen zu können, und wollten gerne noch länger bleiben.
Für Vera war es schrecklich. Ich hatte die Kinder nicht erkannt; der einzige halbwegs funktionierende Kanal zur Realität war sie für mich. Unerträglich war es für Vera; und als sie wieder zuhause angekommen war, wurde von einem Weinkrampf so erfaßt, daß das Schluchzen sie durchschüttelte.
Nun bekam ich auch Krankengymnastik, nicht nur wegen meiner verkrampften Gliedmaßen, sondern auch, um zu lernen, was ich tun muß, um richtig zu sitzen und mich halbwegs normal bewegen zu lernen. Dazu kamen zwei, manchmal sogar drei Krankengymnastinnen, die sich viel Mühe geben mußten. Schließlich mußte ich ganz neu lernen, mein Gleichgewicht zu halten. Jedenfalls wurde der eindeutige Beweis erbracht, was es für eine hervorragende Leistung ist, auf dem Bett zu sitzen, und wieviel Arbeit es macht, das jemandem beizubringen. Klar waren die Krankengymnastinnen heilfroh, als sie alles Stützen und jede Hilfe weglassen konnten, und es eindeutig stimmte, was die eine der anderen zuflüsterte: "Er sitzt!" Und das stimmte in der Tat. Ich saß und bin seither nicht vom Bett gefallen.
Damals hatte ich schon nicht nur Schlafanzüge anzuziehen, sondern auch T-Shirts. Denn für Schlafanzüge war es tagsüber einfach zu heiß. Selbst ein paar Shorts hatte Vera mitgebracht. Sie hatte tatsächlich eine Menge schöner Shorts besorgt, denn so etwas hatte ich vorher nicht. Heute sind mir die Shorts bei gutem Wetter ganz nützlich.
Natürlich war ich auch gleich am Anfang mächtig durchgecheckt worden, wie es mir denn gehe und was ich denn so bräuchte. Eins jedenfalls war schon bald klar: Ich konnte auf Dauer wieder selbst atmen. Es war jedenfalls sehr unwahrscheinlich, daß ich noch mal beatmet werden müßte. Und dies war wirklich wichtig.
Ich war nämlich sehr unruhig und zupfte sehr oft an dem Schlauch herum, der aus meinem Hals hing. Schon bald war klar, daß ich ihn herausziehen wollte. Nachdem aber klar war, daß der Schlauch nicht mehr nötig war, meinte der Stationsarzt: "Laßt ihn ruhig ziehen. Wenn er ihn rauszieht, können wir uns die Arbeit sparen."
Für Unruhe habe ich aber auch sonst noch gesorgt. Oft, sogar sehr oft versuchte ich, über das Gitter aus dem Bett zu klettern. Das mußte die Mannschaft der B1 natürlich verhindern. Ich lag ja nicht ohne Grund in einem Bett mit hohem Gitter rundum. Aus dem Bett fallen sollte ich auf keinen Fall. Wenn ich doch rausklettern würde, drohte ich übel auf der Nase zu landen. Schließlich trieb ich es so wild, daß mir zur Sicherheit ein Arm am Bett festgebunden werden mußte, um eine ernste Verletzung bei einer meiner Kletterübungen zu verhindern.

Es dauerte jedenfalls nicht lange, bis ich den Schlauch aus dem Hals herausgezogen hatte und das Loch im Hals leer war. Das heißt: Ganz leer war es natürlich nicht, sondern es lief eine ziemliche Suppe heraus, die Blut verdächtig ähnlich sah und an meinen Hemden auffällige Flecken hinterließ.
Natürlich war nicht alles so anstrengend für uns wie das Waschen meiner Hemden für Vera und für mich das Sprechen- und Sitzenüben. Noch immer gab Vera allen möglichen meiner Freunde und Bekannten Nachricht davon, was mir passiert war, unter anderem Angela, mit der ich mal in Heidelberg zusammengelebt hatte. Und die war nicht nur, wie fast alle, total geschockt, sondern kam auch nach Bonn - aus Hannover! - und besuchte mich in der Reha. Abends kam sie zu Vera, um bei uns zu übernachten. Sie erzählte ganz aufgeregt, daß ich mit ihr gesprochen hätte. Ganz überrascht war sie.
Glücklicherweise war sie nicht die erste, mit der ich Worte gewechselt hatte, denn sonst hätte uns Vera was erzählt. Vera war zum Glück schon früher am Tage gekommen, hatte mich flüstern gehört und die Schwester gefragt, ob es wohl sein könne, daß ich spräche, oder ob sie sich das nur einbilde. Die Schwester konnte sie beruhigen: Ich hätte mich schon lange mit dem Arzt unterhalten und ihm erzählt, daß ich vier Kinder hätte.
Sehr lange blieb es nicht beim Flüstern, und auch nicht bei ein paar Sätzen. Ich bekam ja auch langsam Übung darin, wie so etwas besser ging: Den Finger auf das Loch im Hals, und ab ging die Post. Natürlich waren die Finger danach, also eigentlich immer, mit der Suppe aus dem Loch im Hals voll. Ich weiß ja nicht, ob das der Grund war, aber das Loch im Hals wurde mir schließlich wieder zugenäht.
So ganz ohne Abenteuer ging es auch im Rollstuhl nicht ab. So schön ich es auch fand, von diesen netten Schwestern über den Flur geschoben zu werden, waren die angestrengten Gesichter der Schwestern doch auffällig, als sie einmal, und dies war wirklich sehr ungewöhnlich, den Fußboden selber aufwischten. Ich mochte es ja, wie all diese freundlichen und tüchtigen Schwestern um mich herumwieselten und etwas ganz Wichtiges taten, aber sie schienen das garnicht besonders schön zu finden.
Es war wohl etwas ziemlich Schwieriges, ich konnte sie anlächeln, wie ich wollte, diesmal lächelten sie nicht zurück. Eine stöhnte der anderen etwas von "geplatzt" zu und auch von einem Urinbeutel war die Rede. Komisch, daß sie nicht so froh waren, wie sonst. Das mußte ja wirklich etwas Wichtiges sein, für die Schwestern jedenfalls.
Öfters, aber nicht ausgesprochen oft, kamen auch Konrad und Daniel mit zu mir. Häufig konnten sie auch jetzt so lange zu Freunden, die dann auf sie aufpaßten. Natürlich ging das ganze auch an ihnen nicht ganz glatt vorbei. Denn ihre Namen kannte ich damals noch nicht.
Erst nach einer Weile wurde mir dann klar: Es waren Richard Schön und Armin Wunderbar. Die Kinder sahen mich sehr interessiert an; irgendwie freuten sich beide darüber oder fanden das ganze einfach lustig, die beiden Blondköpfe. Sonst waren sie in Vielem verschieden, der Große schon fünf, und der Kleine zwei Jahre alt.
Daniel blieb auch jetzt konsequent und rief wie schon in den Wochen zuvor allen möglichen Teddys "Hallo, Papa!" zu.

 

Durchstart

Was mich betrifft, so wurde ich, seit ich wieder sprach, merklich klarer und kurvte mit dem Rollstuhl durch die B1, zum Beispiel zum Essenfassen in die Küche.
Gut kann ich mich auch noch an meinen damaligen Zimmernachbarn erinnern, einen vierzehnjährigen Türken. Hakan war nachts mit dem Mofa nach Hause gefahren, aber nie angekommen, weil ihn ein Auto von hinten überfahren hatte. Es geht ihm wirklich nicht sehr gut. Sein Becken ist zertrümmert, und es ist überhaupt nicht klar, ob er je wieder vernünftig gehen können wird. Oft bekommt er Besuch von seiner Familie.
Ich mag sie, und sie mögen mich. Eines Abends kommt seine Schwester auf mich zu und fragt mich, ob sie mir die Haare schneiden soll. Sie ist Friseuse, und da fällt ihr auf, daß das letzte Mal Haareschneiden bei mir eben schon etwas her ist. Sie hat ja recht, und zum Friseur schaffe ich es selbst mit bestem Willen nicht. Also sage ich "ja", und sie macht sich ans Werk. Sie stellt sich hinter mich und schneidet mir die Haare. Woher sie eigentlich die Schere nimmt? Keine Ahnung. Ob sie wohl immer eine dabei hat?
Endlich geht es mir jetzt doch merklich besser. Richtig Rollstuhl fahren kann ich jetzt schon! Eines Abends kommt Vera in mein Zimmer und kann mich dort nicht finden. Schnell erfährt sie, daß sie mich an diesem Tag ein Stockwerk tiefer in der Aula suchen muß, bei einem Konzert.
Vera steigt in den Fahrstuhl und fährt einen Stock tiefer. Erstaunt ist sie, denn davon hat sie vorher nichts gewußt. Sie öffnet die Aufzugtür, und findet die Aula unten rasch und ohne Probleme. Schon von außen, durch die Türe, sieht sie, daß sie hier richtig ist; in einem nicht zu großen Raum mit einer Bühne.
Zwei Musiker, sie spielen Kontrabass und Klarinette, nehmen ihren Auftritt in der Reha wirklich ernst und haben sich angezogen wie für ein richtiges Konzert. Ähnlich die Begleitung, die sich auch in Schale geworfen hat. Und dann sind da noch die Zuhörer, etwa zehn bis fünfzehn. Die meisten kommen aus der B1. Wie sie aussehen mit ihren Schläuchen aus der Kehle, aus verschiedenen Adern und zumindestens zum Teil auch mit Urinbeuteln! Vera presst es die Kehle zusammen. Ich bin einer von ihnen.
Die beiden Musiker geben sich wirklich Mühe, sie spielen sehr gut, Stücke von Bach und Orff. Aber schließlich kommen sie doch zum Ende. Ich muß tief weinen, und als Vera hereinkommt, erkläre ich gerade Frau Eich: "Das geht so tief, das ergreift mich so". Frau Eich hat das Konzert organisiert. Ich kenne sie als Logopädin. So richtig fröhlich werde ich jedenfalls so schnell nicht mehr.
Langsam - und nicht nur wegen meiner neuen Frisur - fällt es nun auch den Ärzten auf, daß es mir besser geht. Vera erfährt, daß ich bald verlegt werden soll. Es gibt ja nun wirklich genug Kranke, die ein Bett auf der B1 mit ihren besonderen Möglichkeiten nötiger haben. Das geht schon mit der großen Anzahl von Krankenschwestern für eine einzige Station los.
Und schließlich ist es wirklich soweit. Ich werde abgeholt. Im Rollstuhl geht es heraus aus der B1 in den Fahrstuhl. Unten ist ein langer Gang mit einer Glastür am Ende. Dahinter ist eine Sitzgruppe. Also wirklich eine neue Welt.

 

In der Übungswohnung

Meinen Begleiter - ja, der, der mich auch abgeholt hat - kann ich hier draußen gut gebrauchen. Er zeigt mir, wo es hier lang geht. Ich weiß ja nicht mal, wie ich aus der B1 hätte raus kommen können. Also erst einmal mit dem Fahrstuhl runter - war ich ja bei Bewußsein ha noch nie mit gefahren, und dann gehen bzw. fahren wir auf eine Sitzgruppe zu, aber anstatt uns zu setzen, biegen wir ab nach links. Schaffe ich schon; so gut rollstuhlfahren kann ich inzwischen. Angst bekomme ich auch nicht, trotz dieser langen Flure. Wo wir jetzt eigentlich hinwollen, ist mir auch nicht richtig klar.
Nach ein paar Metern ist dieser Gang vorbei, und ein neuer Flur knickt nach rechts ab. Und lang ist er, und nur mit künstlichem Licht erleuchtet. Fast schon unterirdisch wirkt er (im Vertrauen gesagt: ist er auch, er unterquert eine Straße). Fenster gibt es hier kein einziges, dafür steht in der Ecke ein Colaautomat von beeindruckender Größe.
Jetzt steuern wir auf zwei Aufzüge gleich nebeneinander am Ende des Ganges zu. Mein Führer öffnet die Tür des Aufzuges, der gerade da ist. Und darin, nach so einem langen Weg, so viele Knöpfe! Er zeigt mir, daß wir ganz hoch müssen, und dann drückt er den obersten Knopf.
Der Aufzug setzt sich in Bewegung, immer höher. Oben begrüßt mich ein Herr Clasen: "Willkommen bei uns. Das hier ist die Übungswohnung". Ein großer Laden ist das hier; und in ihm muß der Herr Clasen wohl was Wichtiges sein. Und alles ist hier ganz anders. Jedenfalls ganz anders als dort, wo ich herkomme.
Nun könnten wir entweder links oder rechts von uns einen Flur hinein. Wir gehen in den Flur links, das heißt: nur mein Führer geht, ich fahre (Rollstuhl). Lustig sind die bunten Schilder neben den Türen hier. Herr Clasen öffnet eine Tür mit einer Orange auf dem Schild und meint: "Hier gehts rein". Ich sehe zwei Betten. Das eine ist offensichtlich frisch bezogen, und ich erfahre, daß ich hier schlafen werde.
Doch soweit ist es ja noch lange nicht. Erst kommt meine Wäsche und verschwindet schnell im Schrank - nee, ich habe sie nicht reingeräumt, dann kriege ich viel erzählt über die neue Station, und am Abend kommt auch noch Vera. Natürlich will sie gerne wissen, was hier so los ist und wie es mir hier gefällt.
"Hier ist es prima. Alles müssen wir hier selber machen. Das hier ist die beste Station, die Abenteuerstation", kläre ich sie auf. Ganz ohne Sorgen ist sie jetzt noch nicht. Schnell geht sie heraus und sucht nach jemandem, mit dem sie ihre Sorgen durchsprechen kann.
Schließlich findet sie die Nachtschwester. Die jedoch ist ziemlich anderer Ansicht: "Natürlich kann ihr Mann immer Hilfe holen, wenn er welche braucht, und das ist ihm bestimmt auch so gesagt worden. Dafür gibt es hier sogar eine Klingel". Aber wo? Sie ist, wie sie beide schnell herausfinden, hinter dem Bett des Zimmernachbarn. Und da komme ich mit meinem Rollstuhl bestimmt nicht hin. Die Nachtschwester weiß Rat und zeigt die Buchse für eine eigene Klingel. Sowas gibt es hier an jedem Bett. Und schnell holt sie eine Klingel und steckt sie hinein. Der Wert aller Möglichkeiten zum Klingeln wird schon am nächsten Morgen deutlich.
Zuerst aber gehe ich mal ins Bett, und bin entsetzt, daß ich eine Nachtwindel anziehen soll. Hier, in meiner neuen Station! Da hätte ich ja wirklich genausogut auf der B1 bleiben können. Von wegen die beste, die Abenteuerstation!
Am nächsten Morgen fahre ich wie immer zum Waschen ins Bad. Zum ersten Mal ins neue Bad. Ich schiebe mich aus dem Rollstuhl seitlich hoch und rutsche auf seine Armlehne, um mich da draufzusetzen. So komme ich besser an den Wasserhahn. Leider bleibt das häßliche Geräusch, das ich plötzlich höre, nicht ohne Folgen. Die Armlehne bricht und ich falle zu Boden. Meine Brille fliegt durch die Luft und landet wer weiß wo.
Und ich lande auf dem Boden des Badezimmers und bleibe erst mal liegen. Soll ich etwa versuchen, wieder zurück auf den Rollstuhl zu klettern? Viel zu gefährlich. Und meine Brille, oder das, was davon übrig ist, kann ich auch nicht finden. Aber was ich sehe, ist eine Art rotbrauner Streifen an der Wand. Es könnte sein... Ja, das ist die Notklingel im Klo, von der ich gestern erfahren habe. Ich strecke den Arm aus, ganz weit aus, recke mir fast die Schulter aus, und schaffe es, Hilfe herbeizuklingeln.
Mit Erfolg, wie sich wenig später zeigt. Der Erfolg kommt sehr bald danach ziemlich eilig ins Bad, sieht mich, fragt mich, wie es mir denn gehe und zieht mich hoch. Dann bringt er mich ins Zimmer zurück und schon sitze ich auf meinem Bett.
Schlecht geht es mir eigentlich nicht. Na ja, so richtig prima auch nicht, aber sehr weh tut mir eigentlich nichts. Fehlt mir eigentlich nur noch der rechte Durchblick, aber den bekomme ich auch noch: Ich bekomme meine Brille zurück und die ist nicht einmal kaputt. Fast ein Wunder nach so einem harten Sturz.
Ich kann die gute Sicht aber auch wirklich gebrauchen. Die schöne Pinwand mit Fotos von Konrad und Daniel und das Mobile mit Schmetterlingen aus bunter Pappe, das Vera mir gebaut hat. Beides hing schon ein paar Tage auf der B1. Hier auf der neuen Station ist es fast wie ein Stück Heimat.
Die Landung im Badezimmer hat Folgen. Ich bekomme Gurte, mit denen ich zu meiner Sicherheit an den Rollstuhl gebunden werde. Vera findet das sogar ganz gut, anders als ich. Ich finde das ziemlich zum Kotzen: Nachtwindeln wie auf der B1 und jetzt auch noch auf dem Rollstuhl festgebunden.
Dabei ist die Übungswohnung doch ziemlich anders als die B1. Die Übungswohnung bietet ihren Insassen die Möglichkeit, möglichst viele fehlende Fähigkeiten zum Leben im Haushalt wiederzuerwerben. Daher auch schon der Name "Übungswohnung". Und hierhin kommen eben nur die, die zu allen möglichen Behandlungen in der Reha selbständig hinkommen können. Und das geht ja wirklich auch im Rollstuhl ohne Probleme, selbst festgebunden, auch wenn es so natürlich nicht ganz soviel Spaß macht.
Schwierig wird das erst, als ein paar Tage später der linke Brillenbügel doch noch den Geist aufgibt. Er hat eben doch etwas zuviel abbekommen, und ohne Brille sehe ich bei meinen Augen reichlich wenig. Vera erfährt es am Telefon. Sie war zwar schon da an diesem Tag, aber am Abend kommt sie noch einmal mit zwei alten Brillen. Die sind zwar wirklich Asbach Uralt, aber nun kann ich wenigstens erkennen, was ich alles nicht sehe. Ich suche mir die bessere Brille aus und setze sie gleich auf. Vera nimmt die zerbrochene mit und will sie zur Reparatur bringen. Und schon nach einer Woche bekomme ich sie zurück. Zwar haben die Brillenbügel jetzt zwei Farben; meine Brille ist schon so alt, daß der Optiker nicht mehr genau den selben Brillenbügel hatte oder bekommen konnte. Aber was macht das schon? Wer mir unbedingt in die Ohren gucken will, sieht sowieso nur eine Seite auf einmal.
Zwei Psychologinnen kümmern sich um unsere Schwierigkeiten, das heißt, die Schwierigkeiten der Insassen der Übungswohnung. Das ist auch sehr sinnvoll. Zu einem erfolgreichen, selbständigen Leben gehören geistige und seelische Fähigkeiten, es sinnvoll zu gestalten, die nicht alle haben, die in der Übungswohnung wohnen. Eine ganze Reihe Insassen hat ihre Schwierigkeiten wegen Verletzungen, wie ich.
Schon nach wenigen Tagen wendet sich Frau Papandreu, die jüngere der beiden, an Vera. "Frau Gamme", meint sie, "sie müssen eines verstehen: Ihr Mann ist hier in der Übungswohnung, um zu lernen, im täglichen Leben möglichst selbständig zurecht zu kommen. Selbständig. Und dazu muß er die Chance haben, seine Probleme alleine zu lösen, ohne ihre Hilfe. Dafür wäre es wirklich besser, wenn Sie nicht ganz so oft kämen. Natürlich können Sie ihn auch in Zukunft besuchen, aber doch nicht jeden Tag". Und so geschieht es. Für Vera ist das ja wirklich eine große Erleichterung. Schließlich ist es nicht gerade einfach, für jeden Tag jemanden zu finden, der auf die Kinder aufpaßt, ganz abgesehen davon, daß für ihre Besuche und deren Vorbereitung sehr viel Zeit notwendig war.

An diesem Wochenende mache dann ich selber einen Besuch zuhause, meinen ersten nach Monaten im Krankenhaus. Endlich. Dieser Besuch war jetzt schon seit zwei Wochen geplant gewesen, seit der Zeit, als ich noch auf der B1 lag. Und dann kam ich in die Übungswohnung. Nun wußten wir nicht, ob mir so ein Urlaub auch von der Leitung der Übungswohnung genehmigt werden würde. Aber diese Sorge war überflüssig, ich darf. Und das ist gut so, denn Vera hat in den letzten zwei Wochen viel Zeit damit zugebracht, Hilfe aufzutreiben. Die ist auch wirklich nötig.
Und jetzt ist es endlich soweit. Endlich; zumindestens für Vera, und wahrscheinlich auch für Konrad und Daniel. Nein, nicht für mich; ich bin eher neugierig auf ein Erlebnis, daß ich nicht einschätzen kann. Natürlich finde ich diesen Besuch interessant, ein noch nie dagewesenes Abenteuer, das ich im Voraus nicht einschätzen kann. Aber wahrscheinlich wird alles gut laufen; schließlich hat Vera das ganze organisiert und ist auch dabei.
Es ist ein warmer Freitag, als Vera mich zum ersten Male aus der Reha abholt und ich zum ersten Male wieder nach Hause komme. Der Himmel ist knallblau. Sie fährt zur Übungswohnung und kommt auf mein Zimmer. Gemeinsam gehen und fahren wir wieder herunter und den langen Flur zum Eingang. Direkt vor dem Reha-Haupteingang hat sie das Auto abgestellt, dort, wo auch die Krankenwagen immer halten. Das ist auch angebracht. Schon so ist das Ganze schwer genug. Ich hieve mich ins Auto, und Vera klappt den Rollstuhl zusammen. Tatsächlich, so paßt er in unseren Kofferraum.
Und los geht es. Zuerst den abschüssigen, gewundenen Weg zum Parkplatz - garnicht so einfach rückwärts - und vom Parkplatz auf die Straße. Vorwärts fahren hat ja wirklich seine Vorteile. Dann herab nach Godesberg. Godesberg kommt mir seltsam bekannt vor, als ob ich das vor vielen Jahren schon mal gesehen hätte. Und wirklich habe ich ja mal in dieser Gegend gewohnt, und weg vom Fenster bin ich erst vielleicht drei Monate oder so. Schon bald sind wir jetzt durch durch Godesberg und fahren über die Rheinbrücke und nachhause in die Rilkestraße.

Vera klingelt. Jetzt haben wir Unterstützung wirklich nötig, und dazu ist ein Freund zu uns gekommen, und hat auch noch Verstärkung mitgebracht. Bis die beiden unten angekommen sind, hat Vera den Rollstuhl schon wieder auseinandergeklappt, und ich habe den Umstieg heraus aus dem Auto hinein in den Rollstuhl geschafft. Und so können mich unsere Helfer gleich bis zur Haustür schieben. Davor geht es eine Stufe hoch unter das Vordach. Schon hier ist die Hilfe unserer Freunde sehr willkommen.
Dazu ergreifen sie meine Arme und helfen mir aufzustehen. Nun ja. Sie ziehen mich hoch. Derweil schließt Vera schon die Haustür auf, und mit tatkräftiger Unterstützung geht es hinauf in den zweiten Stock. Zu tun hat Vera auch jetzt: Sie schleppt den Rollstuhl hinterher. Nur gut, daß wir nicht schwächlich sind.
Zwei Stockwerke höher ist ohne Probleme zu schaffen. Was nicht ganz so leicht hochzukriegen ist, ist der Rollstuhl; aber Vera schafft das natürlich schon. Und oben warten schon Konrad und Daniel. Astrid und Norbert sind gekommen und haben auf sie aufgepasst. Die hilfreichen Hände für den Aufstieg verabschieden sich.
Astrid und Norbert dagegen bleiben bei uns; und natürlich auch ihr Sohn Roman. Mit seinen vier Jahren paßt er gut zu Konrad und Daniel, die meiste Zeit spielen sie nebenan im Kinderzimmer. Natürlich kommen sie rüber, sobald es Kuchen gibt, wir brauchen sie nicht einmal zu rufen. So genau wissen die Kinder ja nicht, was jetzt eigentlich los ist, vor allem meine. Sie versuchen geradezu, rücksichtsvoll zu sein. Sonst ist soetwas ja eher selten, aber heute kommt Daniel, zwei Jahre, wie er alt ist, mit einem Glas Limonade zu mir und meint: "Willst Du das haben, Papa?"
Zu bereden gibt es auch viel. Astrid und Norbert wollen natürlich genau wissen, wie es mir geht. Und in der Godeshöhe ist es ja wirklich ganz anders als im Landeskrankenhaus, wo sie mich besucht haben.
Schließlich schnappen sich Astrid und Norbert die Kinder und düsen ab. Eine gute Idee; so sind wir beide eine Weile lang sogar alleine zuhause; ohne Kinder oder Freunde.
Als dann unsere hilfreichen Hände wieder klingeln, ist es schon Zeit für die Kinder. Zumindestens Daniel gehört jetzt eigentlich langsam mal ins Bett. Aber zum Glück haben wir ja Astrid und Norbert zum Aufpassen. Der Weg die Treppe runter ist zwar nicht leichter, aber auch nicht schwerer als der Weg hinauf. Und bis zum Auto schaffe ich es zum Glück mit dem Rollstuhl.
Aber nur nichts überhasten; zunächst einmal bedanken wir uns bei den beiden, die uns rauf und runter geholfen haben. Dann aber los; so langsam müssen die Kinder ins Bett. Als ich es auf den Autositz geschafft habe und Vera losfahren kann, ist es allmählich schon Abend und immerhin so dämmerig, daß Vera die Scheinwerfer anmacht.
Es geht über den Rhein, nach Godesberg und hoch zur Reha. Rein da, über den langen Gang, am Colaautomaten vorbei und hoch zur Übungswohnung. Dort bringt Vera mich auf mein Zimmer. Zum Abschied nimmt sie mich in den Arm und gibt mir einen Kuß. Alles hat sein Ende, und jetzt dürfen wir nicht lange machen; die Kinder müssen schlafen.
Am nächsten Morgen läuft wieder die Reha-Routine: ich fahre ich wie jeden Tag raus aus dem Bett in die Küche der Übungswohnung, zum Essen. Dazu muß ich durch den Gang, an dem mein Zimmer liegt, etwas nach links auf eine Fensterfront zu. Draußen sieht man nur Dach, egal, ob trocken oder naß, und dahinter in einiger Entfernung Bäume. Vor dem Fenster geht es rechts zur Küche, hinter einem anderen Gang von rechts. Zwischen Gängen und Fenster liegt ein großer Vorraum mit Tischen und, gegenüber dem Fenster, einem großen Wandschrank. Es ist wirklich ein großer Wandschrank, und noch größer ist die Fensterfront hinter dem Kücheneingang. Und dazwischen liegt der große Vorraum.
Der Vorraum hat eine zentrale Funktion in der Übungswohnung; in ihm finden täglich Gruppentreffen statt, und diese Treffen bieten viel Gelegenheit, den Umgang mit anderen zu üben. Nicht nur ich kann eine solche Gelegenheit gut gebrauchen. In diesen Raum führen von zwei Seiten her Gänge mit Zimmern. Den einen nehme meistens ich, weil hier mein Zimmer liegt, der andere führt direkt auf die Küche zu.
Auch die Küche der Übungswohnung ist wichtig für uns, denn wir essen hier, und nicht in der Kantine, wie alle anderen, die es so weit schaffen. Für mich bedeutet das immer ein Kunststück. Hier gibt es genug Leute, die auch mit dem Rollstuhl unterwegs sind, und um die muß ich rumkurven, vor allem wenn sie schon am Tisch sitzen. Das nächste Kunststück ist der Umstieg vom Rollstuhl auf einen normalen Stuhl. Auch das klappt, wenn ich mich am Tisch festhalte.
Den Tisch decken wir auch selbst. Dazu gibt es sogar einen eigenen Plan, wer wann und mit wem mit Tischdecken dran ist. Natürlich bin ich auch mal dran. Dann muß ich mich sehr recken, um vom Rollstuhl aus auch an das Geschirr in den oberen Schrankfächern zu kommen. Wir haben also viel miteinander zu tun: Essen holen, futtern, abwaschen und mehr. Vereinsamen kann ich hier beim besten Willen nicht. Und: Hier steht auch eine Waschmaschine, denn wir sollen auch unsere Wäsche selber waschen. Und das gibt Gelegenheit, abzusprechen, wer die Maschine wann benutzen kann.
Gleich nach dem Frühstück geht es in den Vorraum zum Gruppentreffen. Die Psychologinnen, oder wenigstens eine von ihnen, nehmen auch daran teil, ebenso die Stationsleitung und natürlich wir, die Patienten. Bei einem Rundgang wird abgeklärt, was bei den anderen, und natürlich auch bei mir, anliegt. Jeder sagt sein Sprüchlein auf. Bei dieser Gelegenheit stimmen wir auch ab, wer gleich welchen Zeitungsartikel vorliest. Verblöden soll hier keiner, denn irgendwann müssen wir ja alle wieder in die freie Wildbahn.
Bin ich vielleicht froh, daß ich richtig lesen kann! Denn daß dies nach einer Verletzung wie meiner nicht selbstverständlich ist, kriege ich hier auch mit. Natürlich habe ich meine eigenen Schwierigkeiten; mit der Aussprache nämlich. Klingt schon seltsam, wie ich spreche. Oft nuschele ich schlichtweg, oder mir fallen Wörter nicht ein. Aber das ist natürlich kein Problem, wenn ich einen Artikel aus der Zeitung vorlese.An jedem Donnerstag gibt es eine große Malaktion; die Idee dazu hatten wohl die Psychologinnen. Nein, wir malen nicht nur - Stifte, Farben und Papier gibt es reichlich, sondern wir hängen die Bilder auch an die Wand. Dazu muß ich meine Bilder erstmal einrahmen; Rahmen und Nägel in der Wand sind auch genug da. Ich habe dann eine Woche lang Gelegenheit, zu entscheiden, ob meine Bilder und die der anderen was taugen. Es gibt kein Verbergen. Natürlich verschafft uns das zahlreiche Anlässe, mit den anderen Farben und Stifte zu tauschen oder um Hilfe beim Rahmen zu bitten. Am Freitag folgt ein Spieleabend, und hier kommt die Stunde des großen Wandschrankes: Es ist wirklich erstaunlich, was für Spiele hier zu finden sind.
Geübt wird in der Übungswohnung selbst am Wochenende. Dazu machen wir am Samstag eine Wanderung oder einen Ausflug. Natürlich nur vormittags, irgendwann muß die "Mannschaft" der Übungswohnung ja auch mal frei haben. Meistens geht es in den Kottenforst, der nicht weit hinter der Reha beginnt. Am Weg in den Kottenforst liegt die russische Botschaft, ein weitläufiges Anwesen mit hohem Zaun drumherum, das nicht zu übersehen ist. Natürlich kann ich nicht die ganze, sanft ansteigende, Strecke selber schaffen. Zum Glück kommen zwei Angehörige des Personals mit, die mich schieben können. Geübt wird übrigens auch die Entscheidung, wohin der Ausflug denn gehen soll.
Der Ausflug beginnt, wenn alle mit allem fertig sind, selbst mit dem Anziehen ihrer Jacken. Mit dem Aufzug geht es ins Parterre - das dauert natürlich, weil nicht alle auf einmal in den Aufzug passen, dann den langen Gang am Colaautomaten vorbei zum Ausgang. Hier gleich rechts hoch leicht bergauf in Richtung Kottenforst. Ein gutes Stück schaffe ich noch alleine, mit trippelnden Füßen. Den Rollstuhl durch Drehen der Räder mit den Händen voranzubringen, hat ja etwas echt Ätzendes. Nach ein paar hundert Metern kann ich dann Hilfe gut vertragen.
Zum Glück ist es bis zum Kottenforst wirklich nicht weit. Den größeren Teil des Weges schaffe ich noch ohne Hilfe, aber ganz ohne geht es nun doch nicht, nicht einmal, als die Farben der Blätter dann Woche für Woche immer wärmer und intensiver werden. Und diese Ruhe, diese Ruhe einer zufriedenen Kuh, die hinter einem Zaun auf ihrer Weide steht und mampft. Hat ihr wohl geschmeckt, was sie jetzt wiederkaut. Ganz anders wir. Wir kauen nicht wieder, wir kehren um.
Nach unserer Rückkehr fängt das Wochenende an, und das heißt für mich: Ich warte auf Vera. Sie fährt mich nach Hause. Jede Woche. Nach Beuel ist es zum Glück nicht weit. Wir sind nun mal so modern, daß wir sogar auf die andere Rheinseite gezogen sind. Also geht es schnell runter nach Godesberg, die B9 lang bis zur Südbrücke, über den Rhein und schnell nachhause.
Da wartet schon die Unterstützung, damit ich nach oben komme. Sie brauchen nicht lange zu warten, denn erstens sind wir natürlich pünktlich, und zweitens schaffe ich es nach ein paar Wochen auch schon alleine hoch und brauche sie nicht mehr. Vera hat es nicht ganz so leicht, denn den Rollstuhl zwei Stockwerke höher zu tragen, ist ja nun auch kein Kinderspiel. Ich bleibe über Nacht. Schließlich muß sich der Aufwand lohnen, und für mich ist das nicht schwierig. Für mich nicht.
Natürlich habe ich auch Zeit zum Nachdenken, egal ob zuhause oder in der Reha. Grund dazu habe ich auf jeden Fall. Und die Betten bieten dazu eine gute Gelegenheit. Ich wache ja auch mal auf.
Also: Arbeiten kann ich wohl nicht mehr. Na klar, ich muß in den Bundestag. Vielleicht am besten als Vertriebenenpolitiker. Vertrieben fühle ich mich mächtig.
Aber wer bin ich eigentlich? In der Reha geboren worden bin ich doch wohl nicht. Das würde mich doch wirklich sehr überraschen, jedenfalls habe ich von sowas noch nie gehört. Na ja, ich war mal auf der B1, da war es ziemlich anders, und irgendwas war mit meinem Hals. Der wurde dann auch untersucht, ob er wieder richtig zugewachsen war; dafür bin ich sogar mit dem Taxi ins Waldkrankenhaus gefahren, wo ich dann solange warten mußte.
Es muß also schon ein Leben vor der B1 gegeben haben. Denn Konrad und Daniel sind ja wohl nicht dort geboren worden, und irgendwoher müssen die ja nun auch kommen. Irgendwas muß also vorher passiert sein. Und Vera. Sie ist so nett zu mir und küßt mich, und die Kinder sagen Mama zu ihr. Oft nennen sie mich auch Papa. Einfach richtig fühlt es sich an, wenn ich das höre.
Irgendwas war also. Und dann diese Vorstellungen von der Welt. Bonn und Heidelberg, Indien und Türkei, Kindergarten und Schule. Und Studium. Und Arbeiten. Zeitung und Presseerklärungen schreiben, und dann zum Umbruch nach Geraronn in die Druckerei. Und am Schluß mußte ich zur Arbeit neben den Bundestag.
Aber was heißt da zum Schluß? Und was heißt ich? Das hört sich ja ganz so an, als ob der und ich derselbe wären. Einfach pervers.
Ich war auf der B1, und jetzt bin ich in der Übungswohnung. Das ist jedenfalls schon mal klar. Aber warum küßt mich Vera, und warum sagen die Kinder Papa zu mir? Und warum fühlt sich das so normal an? So normal und fast richtig.
Fast richtig. Fast. Scharf vorbei ist schließlich auch daneben. Vera und die Kinder jedenfalls scheinen anzunehmen, daß der andere derselbe war. Aber das würde bedeuten: Ich bin der andere. Und dann diese Vorstellungen... sie sehen ja wirklich fast aus wie Erinnerungen. Aber eben nur fast. Wenn ich daran denke... sie wirken irgendwie wie uralte, löcherige Schwarzweißfilme.
Andererseits können sich so viele Leute doch wohl kaum irren. Und ich habe wohl auch den selben Namen wie der andere. Aber wenn ich davon ausgehen würde - und es bleibt mir ja wohl garnichts anderes übrig, daß ich und der andere derselbe und gleiche sind; die Konsequenzen wären wirklich verrückt: Ich hätte zwei Leben, und Wiederauferstehungen scheinen doch auch nicht gerade so üblich zu sein. Also: Auf meine zwei Leben hätte ich gerne verzichtet.
Auf jeden Fall bin ich jetzt wirklich froh, daß meine Eltern schon tot sind. Nach all dem würden doch jetzt ihrer Lebens nicht mehr froh. Auf dem Friedhof haben sie wenigstens Ruhe.
Aber natürlich komme ich nicht immer zum Grübeln. Wir sind ja auch genug Leute in der Übungswohnung, und sein Päckchen hat eigentlich jeder zu tragen. Zum Beispiel die Reitlehrerin, die vom Pferd gefallen ist. Soll sie ihre Pferde verkaufen? Es ist schließlich ziemlich unwahrscheinlich, daß sie je wieder wird reiten können. Oder der Schuster, der beim Pflaumenpflücken von der Leiter gefallen ist. Das war wohl ein verdammt hoher Pflaumbaum. Die Landung war dementsprechend. Auch die Familien der meisten lerne ich bald kennen; Besuch ist fast jeden Abend da.
So für Bernd, den ich hier endlich kennenlerne. Bernd kommt auch aus der Gegend und ist früher für Ministerien Auto gefahren. Dienstwagen. Jetzt jedenfalls kann er nicht fahren. Er hofft sehr, daß er das Autofahren nochmal schafft. Vera kennt ihn schon vom LKH. Er lag dort zur selben Zeit auf der Intensivstation wie ich. Vor allem hat sie schon dort auch Bernds Frau kennengelernt. Jetzt lerne auch ich ihn kennen, was im Koma natürlich noch nicht so gut ging. Aber nicht nur Bernd selber lerne ich kennen, sondern auch seine Frau und zwei Schwestern, die ihn oft besuchen kommen. Vera lernt dafür mit mir zusammen seine Söhne kennen.
Manchmal kommt das Kennenlernen ja auch ziemlich unerwartet über mich. Ich komme in mein Zimmer, ganz ohne Hintergedanken, und, es ist unglaublich, da liegt wahrhaftig eine Frau auf meinem Bett. Sie liest, und, hhmm, schlecht sieht sie eigentlich nicht aus. So blonde Locken. Und dann liegen noch so komische Klamotten im Zimmer. Macht ja schon einen eher netten Eindruck, die Frau, aber als ich sie frage, was sie hier eigentlich macht, meint sie einfach, daß sie auf dem Bett lese. Und das dürfe sie doch wohl auf ihrem Bett. Was ich eigentlich hier zu suchen hätte?
Ein echter Hammer. Da könnte ja jeder kommen. Ich kenne doch wohl mein Zimmer. Aber ich bleibe cool. Ich hab doch keinen Bock auf `nen Aufstand. Das läßt sich ja wohl leicht abklären, und, rein theoretisch, könnte ja auch ich mich mal geirrt haben. Ich mache gute Miene zum bösen Spiel und gehe vor die Tür, um auf das Namensschild zu sehen. Und wenn das nichts hilft, kann ich ja auch Herrn Clasen Bescheid sagen. Spätestens das wird ja wohl helfen.
Aber auf dem Namensschild steht mein Name nicht. Komisch. Da steht wahrhaftig Brigitte von Groote. Jetzt suche ich sicherheitshalber mein Zimmer woanders und finde es schnell. Und hier liegt keine Frau. Das ist ja jetzt wirklich beruhigend. Und schon habe ich Frau von Groote kennengelernt. Sie ist Altenpflegerin und schwer in Ordnung, aber ziemlich krank. Ein Auto hat sie auf ihrem Motorrad umgenietet, und jetzt müssen die Alten erst mal eine Weile ohne sie auskommen.
Auf jeden Fall war das ja eine etwas eigenartige Art, uns kennenzulernen, die Brigitte nie vergessen wird. Trotzdem mögen wir uns. Und als milder Mensch, der ich ja nun bin, nehme ich ihr die Geschichte auch nicht übel. So lernen wir uns kennen.
Doch in der Übungswohnung sollen wir uns nicht nur gegenseitig, sondern auch uns selber besser kennenlernen. Zum Beispiel, wie wir mit unseren Aktivitäten nach außen wirken. Dabei helfen uns die Psychologinnen per Videokamera. Denn das können sie auch, das Stativ aufbauen, die Kamera draufsetzen und dann auf die richtigen Knöpfe drücken. Und sie können einen Fernseher, der sonst weißnichtwo steht, hereinrollen, samt Videogerät. Dann können wir endlich bewundern, was wir alles so fertigbringen. Schließlich füllen wir nicht nur Spülmaschinen.
Aber die Psychologinnen der Übungswohnung haben auch noch ganz andere Geräte als nur Videos. Ich sage nur: Snoozeln. Snoozelkönigin ist Frau Klett, und der Snoozelraum, denn ein eigener Raum gehört schon dazu, ist ihr Reich. Der Weg dorthin ist ganz weit, und wir gehen ihn zusammen hin und zurück.
Unruhig versammeln wir uns in der Nähe des Ausganges der Übungswohnung, wo es zu den Treppen und Aufzügen geht. Dann geht es runter und durch den langen Gang mit einem Colaautomaten, aber ohne Fenster - ja, der, der zwei Häuser verbindet und, unauffällig eine Straße unterquerend, zur Sitzgruppe führt - und schon stiefeln wir durch eine Halle mit Glasfront an der Pforte vorbei. Gleich dahinter liegt schräg gegenüber die Kantine, wo die anderen essen, die nicht in der Übungswohnung schlafen und hier auch verpflegt werden. Das heißt: am Wochenende essen wir auch in der Kantine. Ich natürlich meistens nicht; dann bin ich ja zuhause. Spätestens in der Kantine wird klar, wozu wir den Reha-Ausweis haben, den wir uns um den Hals hängen können. Damit bekommen wir Essen.
Aber jetzt wollen wir ja nicht essen gehen, sondern snoozeln. Und dazu müssen wir noch weiter, als zur Kantine. Ein paar Meter hinter Reha-Eingang und Kantine geht es in der Halle ein paar Stufen runter. Natürlich nicht für mich mit meinem Rollstuhl; ich nehme den Aufzug gleich neben der Treppe. Und jetzt kommen wir auf einen Kiosk zu, wo es zum Beispiel Zeitungen und Batterien gibt. Nein, keine Zigarretten. Zigarretten gibt es nirgens in der Reha. Genau vor dem Kiosk müssen wir links um die Ecke, um einen großen Raum mit vielen Tischen und Stühlen herum, wo meistens eine Reihe Leute drin sitzt. Einmal spielt da einer wunderschön Gitarre. Mir wird ganz wehmütig.
Und schon biegen wir nach rechts ab, in einen schmalen Gang, in dem der Snoozelraum zu finden ist. Aber nicht so schnell doch. Zuerst prüft Frau Klett, ob wir alle noch vorhanden sind. Das ist nach einer solchen Expedition nicht so ganz sicher. Aber Frau Klett ist beruhigt; wir sind alle angekommen. Also auf mit der Türe. Gleich kann das Snoozeln losgehen.
Aber erstmal müssen wir uns alle einen Platz aussuchen. Im Snoozelraum gibt es eine Art flaches Becken voller kleiner Bälle, eine niedrige Liegefläche, und ein Wasserbett gibt es hier auch.
Ein paar Decken sind auch hier, falls sich, und das ist meistens so, einer oder mehrere von uns zudecken wollen. An einer Stelle an der Wand kommen Gerüche aus einer Art Plastikrüssel. In diese Gerüche können wir uns hineinversenken. Natürlich müssen wir die Schläuche dazu an die Nase halten. Auf sowas können ja nur Holländer kommen, wirklich. (Sind sie auch.)
Und schon geht es los mit der Snoozelei. Zuerst verteilen wir alle uns auf die Plätze, die wir uns ausgesucht haben. Ich lege mich auf die Liegefläche; das heißt, erstmal ziehe ich mir die Schuhe aus und rutsche vom Rollstuhl. Das geht ganz gut, und selbst wieder rauf auf den Rollstuhl werde ich es mit ein bißchen Hilfe ganz gut schaffen. Schwieriger wird es, wenn ein Rollstuhlfahrer, der nicht so fit ist wie ich, in das Becken mit den Bällen will. Dann steht Frau Klett bald der Schweiß auf der Stirn. Jetzt muß sie ja auch aus Leibeskräften ziehen. Spätestens mit tatkräftiger Unterstützung schafft sie es dann, zu helfen; ihr Atem wird tief und tiefer dabei. Außerordentlich beruhigend ist, daß nirgendwo Gerippe von Liegengebliebenen zu entdecken sind.
Kaum habe ich mich zugedeckt, da beginnen erklingen sphärische Klänge ihr Spiel. Frau Klett hat wirklich wieder mal eine total snoozelige CD aufgelegt. Und die Lichtpunkte an der Wand... sie wandern über die Tapete, immer im Kreis herum, unaufhaltsam und unerschütterlich. Irgendwie psychodelisch. Ja ja, diese Holländer. Schon lange habe ich solche rotierenden, verspiegelten und angestrahlten Glaskugeln nicht mehr gesehen. Sowas habe ich aus ganz anderen Situationen, in ganz anderen Umgebungen in Erinnerung.
Na ja, das erste Mal, das war in einem Beatschuppen, und das war noch garnicht psychodelisch. Aber dann in Muffendorf! Im Underground habe ich nicht nur Man, Nektar und Champion Jack Dupree gehört, mit einer mächtig psychodelischen Lightshow. Eintritt gezahlt habe ich überigens nie dafür. Und in der Scheune... Nein, die gehörte nicht zum Underground, sondern Freunden. Die Musik dort war auch sehr psychodelisch, die Lightshow - sie war selbstgebastelt - ebenfalls und der Rauch, wie der roch! Am psychodelischsten war zugegebenerweise der kleine Raum direkt unter dem Dach, total ausgelegt mit Matratzen. Da war ich nur einmal, aber mit der Frau war es wirklich sehr psychodelisch. Sie war mächtig snoozelig, und ich muß immer daran denken, wenn die Musik sphärisch wird und die Lichter rotieren.
Ach, dagegen ist das Snoozeln in der Reha ist ja wirklich nur wie ein Abklatsch, aber ich kriege doch so ein warmes Gefühl, und ich bin beruhigt. Und das ist ja wohl Sinn und Zweck des ganzen. Aber auch das Snoozeln geht vorüber und wir müssen wieder hoch in die Übungswohnung. Und das gibt wieder eine Portion Schwerarbeit für Frau Klett, vor allem wenn die Hilfsbedürftigen etwas schwerer sind. Und dann alle beisammen bleiben! Niemand darf verloren gehen! Und es geht heimwärts, an der Pforte vorbei, durch den langen Gang und den Aufzug hoch. Und da ist die Übungswohnung, und wir sind alle gut angekommen.
Gottseidank.
Aber das sind bei weitem nicht alle Abenteuer, die ich erleben kann. Die Welt ist ja um einiges größer als der Snoozelraum. Ja, selbst als die Übungswohnung. Ich selber war sogar schon zuhause, und das ist ganz woanders und auch anders, als hier in der Godeshöhe! So weit muß ich garnicht, um Abenteuer satt zu erleben. Es ist ja wirklich hochinteressant, was ich draußen, außerhalb der Übungswohnung, so alles unternehmen kann. Zum Beispiel Essen holen. Irgendwoher muß das Essen ja schließlich auch kommen. Jeden Tag geht einer von uns runter in die Kantinenküche, um zu holen, was da zu holen ist. Natürlich bin ich auch mal dran.
Im Rollstuhl, na klar, erst mit dem Aufzug runter und dann den ganzen langen Flur fast bis zum Haupteingang. Nicht, daß mir das was ausmachte, furchtlos, wie ich nun mal bin. Sehr unheimlich wird mir nicht mal in dem langen, schmalen und schlechtbeleuchteten Gang an der Rückseite der Küche entlang. Wie ich da hinkomme, ist mir ausgiebig erklärt worden: Durch die Glastür nahe der Sitzgruppe.
Hier stehen dann vierrädrige, ja, man könnte diese Karren fast Schränke nennen. Aus Metall, und da ist alles drin wie bestellt. Denn bestellen müssen wir natürlich schon, was wir essen wollen.
Nicht, daß wir alles in der Küche unten bestellen könnten, manches müssen wir richtig einkaufen. Bei jedem Essen in unserer Küche können wir auf die Liste an der Wand schauen und prüfen, ob auch nichts Wichtiges fehlt. Und einmal in der Woche fährt einer von uns auf Expedition. Natürlich fährt er, denn ohne Busfahrt wäre der Weg einfach zu weit. Klar, sie oder er fährt nicht alleine, denn die Geschäfte müssen ja auch erst mal gefunden werden, ganz abgesehen davon, daß wir das Richtige einkaufen müssen, und schließlich geht es ja auch um Geld. Um viel Geld, um Reha-Geld.
Und schließlich ist diesmal, und dieses Mal bin ich dran. Frau Nettekoven kommt mit. Schon sehr oft hat sie geholfen, im Globus einzukaufen, denn zu begleiten ist ja jede Woche jemand. Erst einmal fährt sie im Aufzug mit mir runter; das ist ja noch alltäglich. Ab der Pforte wird es schon ein bißchen spannender. Schließlich sind bis zu Bushaltestelle etwa 200 Meter zurückzulegen, und der Weg dorthin ist abschüssig. Daher neigt mein Rollstuhl hier natürlich energisch zum Rollen.
Bevor wir die Bushaltestelle erreichen, müssen wir zuerst noch die Straße überqueren. Die sehe ich jetzt auch zum ersten Male von so nahem. Schon was anderes, als sie aus sicherer Entfernung zu betrachten, wenn ich mich vor dem Haupteingang herumtreibe! Es wird meine erste Ampel seit Monaten. Aber es klappt ohne Probleme, schließlich kenne ich den Unterschied zwischen Rot und Grün.
Schwieriger wird der Einstieg in den Bus. Zum Glück klappt die Eingangstreppe etwas herunter. Sonst würde es Frau Nettekoven wohl kaum schaffen. Ich übrigens auch nicht.
Und so fahre ich Bus. Zum ersten Mal im Rollstuhl. Schon bald müssen wir dann auch wieder aussteigen, und wieder hilft uns der Ausgang, der sich friedlich summend zu Boden senkt. Kein Problem, und da ist ja auch schon das Globus. Weit darüber schwebt eine Burg. Majestätisch, halb hinter Bäumen verborgen: Die Godesburg. Und ab geht die Post, ab ins Globus.
Das Globus ist groß, sehr groß. Und so viele Leute, die alle etwas kaufen wollen, und alle ganz verschiedene Dinge. Das Globus ist eine riesige Halle, ein Schilderwald mit einem dichten Unterholz von vollen Tischen, voller voller Tische. Und so viele Schilder obendrüber. Es ist gewaltig. Und so viele Leute. Frau Nettekoven blickt ganz ernst. "Sie sehen doch, Herr Gamme, was auf der Liste steht", meint sie. "Wissen Sie schon, wo Sie das kriegen können?"
Eine gute Frage. Ich blicke auf das Dickicht von Tischen voller Waren und Schildern, auf die drängenden Menschen, und ich höre ihr Stimmengewirr. Was ich nicht sehe, ist etwas, ist auch nur ein Ding, das auf meiner Liste steht. Ich sehe die ernsten Blicke von Frau Nettekoven. Leider stehen die nicht auf meiner Liste.
Aber so schnell geben wir nicht auf. Wir nehmen es zum Anlaß, wild kreuz und quer durch das Geschäft zu kurven; und Frau Nettekoven macht sich mit Schieben nützlich. Mich in meinem Rollstuhl. Ohne Schweiß kein Preis. Ein alter Spruch vielleicht, aber ganz falsch ist er wirklich nicht. Klar, von hier unten kann ich das Angebot nicht gut überblicken, aber es dauert nicht lange, bis ich trotzdem etwas entdecke, das auf meiner Liste steht. Das hebt den Mut schon gewaltig.
Im Laufe der Zeit entdecke ich dann mehr und mehr von all den Dingen auf meiner Liste. Und wahrhaftig, endlich habe ich alles zusammen. Nun ab an die Kasse! Und hier gibt mir Frau Nettekoven das Portemonnaie. Damit bekomme ich zum erstenmal seit vielen Monaten wieder Geld in die Finger, so daß ich alles bezahlen kann. Ganz so weit ist es aber jetzt noch nicht, denn erst einmal muß ich alles an der Kasse zurechtlegen, was ich grade eingekauft habe. Das Hinlegen des Eingekauften ist kein Problem; auch nicht das Rauspulen aus dem Einkaufswagen. Na klar, ganz so einfach ist das nun auch nicht vom Rollstuhl aus. Und mache ich mich ans Bezahlen und Nachzählen des Wechselgeldes. Und selbst jetzt läuft alles so glatt, daß Frau Nettekoven geradezu wieder zu atmen anfängt.
Danach müssen wir aber gleich weitermachen; wir sind noch nicht fertig mit dem Einkauf. Die Übungswohnung bietet auch hier alle möglichen Hilfen, jedenfalls hat Frau Nettekoven eine Einkaufstasche mit kleinen Rädern an ihrem Metallgestell dabei. Nein, selbverständlich ist es nicht Frau Nettekovens Metallgestell, sondern das der Tasche, die daran hängt. Und die wird gleich vollgemacht, mit dem Eingekauften natürlich.
Frau Nettekoven hat jetzt wirklich reichlich Gelegenheit, sich nützlich zu machen. Das schon auf dem Weg zum Bus, denn alleine mit dem Rollstuhl bin ich schon vollauf beschäftigt. Einen Test als Rollstuhlprofi würde ich ja doch noch nicht schaffen. So richtig cool läuft auch der Einstieg in den Bus nicht, aber zum Glück haben wir schließlich doch noch Erfolg damit und schaffen es hinein. Und da hinten sehen wir ja auch schon die Reha. Jetzt aber raus aus dem Bus, über die Straße und hoch zur Pforte. Und hier, wo es bergauf geht, ist Frau Nettekovens Hilfe - wieder schiebt sie mich hier - wirklich mehr als nützlich.
Oben in der Übungswohnung wird überprüft, ob ich erfolgreich Einkaufen geübt habe. Schließlich bliebe sonst mancher Wunsch unerfüllt. Und mehr als das: mancher Bauch würde auch nur halb gefüllt werden. Endlich steht fest, daß nichts fehlt, und Herrn Clasens Miene hellt sich auf und bleibt hell, als er den Inhalt der Geldbörse und die Rechnung überprüft. Puh. Alles geschafft.
Daß ich meinen ersten einkauf in der Stadt gut schaffen würde, war ja nun nicht von vorneherein klar; mir nicht und Herrn Clasen auch nicht. Herr Clasen hat auch schon ganz anderes erlebt. Erst vor ungefähr zwei Wochen mußte einer von uns aus der Übungswohnung in ein Heim überwiesen werden.
Na klar, der Typ war schon etwas bescheuert, und mit ihm hatte ich auch nie etwas zu tun. Aber daß auch ich nicht mit dem vollen Durchblick gesegnet bin, ist mir schon klar. Nicht selten frage ich mich, ob man mich, wenn man es darauf anlegte, nicht entmündigen könnte. So weit weg ist die Welt da draußen, und ich zweifle sehr daran, daß ich dort selbständig leben, arbeiten oder auch einfach nur Mann und Vater sein könnte.
Grade auf diesem Gebiet gibt es für mich noch zahlreiche Möglichkeiten, mein Verhalten zu trainieren. Schließlich habe ich Kinder. Auch in ihrer Gestalt leckt die Realität, greift die Verantwortung nach mir. Mit Konrad und Daniel muß ich überhaupt nicht weit fahren, um etwas Besonderes zu erleben. Mit ihnen reicht dazu schon eine Fahrt durch die Gänge. Vera schiebt mich im Rollstuhl Richtung Ausgang, Konrad setzt sich zu mir, auf meinen Schoß. Daniel, ich kann ihn verstehen, will auch auf meinen Schoß. Ich freue mich sehr darüber.

Konrad weniger, weil er und Daniel natürlich nicht zusammen auf meinen Schoß passen. Sie bocken und streiten sich. Wie sehr die beiden mich lieben! Ich streichle sie und lächle glücklich. Anders Vera, die ganze Situation, das Schreien und Heulen entsetzt sie; vor allem aber scheint sie nicht einverstanden damit zu sein, wie sehr ich mich über meine Kinder freue. Was sie jetzt tun kann; sie weiß es nicht. Ist jedenfalls mein Eindruck. Ich weiß ja auch nicht, was ich jetzt tun könnte, aber ich bin glücklich.
Grund genug habe ich ja wohl wirklich dafür. Mit meiner guten Frau, mit meinen lieben Kindern. Daß ich die habe! Sogar, wie ich zu meinen Söhnen gekommen bin, ist mir wieder klar. Und wenn ich Genaueres darüber wissen möchte, wie wir alle zusammenkamen, wie unser, und damit auch mein Leben eigentlich abgelaufen ist, bisher, kann Vera es mir erklären. Oft sieht sie dann so ernst aus dabei.
Bei einem Besuch kurz nach meiner Einkaufs-Expedition bringt Vera nicht nur Konrad und Daniel, sondern auch ein Memoryspiel mit. Nicht, daß von meinem Gedächtnis noch viel übrig wäre, aber ihre Idee, bei dem schönen Wetter heute im Park Memory zu spielen, wir alle zusammen, finde ich gut. Natürlich mache ich gerne mit!

Klasse finde ich das. Natürlich habe ich nicht immer Lust, schon wieder so ´ne Karte umzudrehen. Immer genau hinzukucken, ist dabei auch nicht wirklich so wichtig. Dann dreh ich einfach irgendeine um. Hauptsache, es macht Spaß; und solange Vera und die Kinder da sind, tut es das wirklich. Muß ich doch nicht immer alles so genau nehmen! Tun die Kinder schließlich auch nicht; nach einer Weile wollen sie nicht mehr weiterspielen und ziehen ab. Und Vera hat jetzt schließlich auch keine Lust mehr; ziemlich nachdenklich sieht sie aus, garnicht glücklich. Hat ja auch so viel am Hals!
Ich habe es da schon leichter. Klar, ich will Vera mit den Kindern helfen; echt. Sehr schön ist es mit ihnen. Wollen tue ich das schon. Klingt auch immer ganz logisch, wenn mir Vera erklärt, was ich wie hätte richtig machen können. Logisch klingen tut es schon, wenn ich es dann höre. Dabei gebe ich mir doch solche Mühe! Und irgendwann komme ich ja auch vielleicht wieder mal raus hier. Ist ja möglich, rein theoretisch. Vorstellen kann ich mir das nicht so richtig, aber schön muß das sein. Und hoffentlich kuckt dann auch Vera nicht mehr dauernd so traurig und überanstrengt.
Natürlich bin auch ich nicht immer nur glücklich; selbst mit den Kindern nicht. Natürlich will ich ihnen ein guter Vater sein, auch mit meinen begrenzten Möglichkeiten. Und natürlich haben die Kinder die schon mitgekriegt und probieren aus, wie weit sie sie ausnutzen können. Was muß ich nicht alles neu lernen! Nicht nur, wieder möglichst klar und deutlich zu sprechen, denn davon bin ich noch weit entfernt; nein, ich liebe sie und will ihnen auch ein guter Vater sein.
Zum Beispiel weiß Konrad genau, daß ich nicht so schnell laufen kann, wie er. Und das nutzt er aus. Er wird frech und aufsässig. Muß ich ihn nicht festhalten, damit er gehorcht? Konsequent? Vera ist da anderer Meinung; meist kommt sie dann herangelaufen, kaum daß Konrad ein paar Minuten schreit. Sie fragt mich, ob ich nicht gemerkt hätte, daß Konrad schon total panisch geworden sei; ja, vielleicht schon einen Knacks weghätte. So stur dürfe ich nicht sein mit den Kindern. Sehr traurig sieht sie aus dabei. Dabei gebe ich mir solche Mühe.
Und ich werde auch wirklich immer noch selbständiger. Klar, es ist wenig genug. Aber aus der Übungswohnung komme ich jetzt schon an jedem Tag raus, und das sogar ganz alleine. Denn ich muß die Übungswohnung für viele Behandlungen verlassen. Das ist nicht wie auf der B1. Wer hier hinkommt, muß sich schon etwas selbständig bewegen können. Und das schaffe ich doch locker. Die Aufzüge, die Gänge und den Colaautomaten würde ich jetzt schon blind finden. Und im Souterrain Richtung Snoozelraum, aber dann weiter geradeaus: Dort gibt es Ergotherapie. Schon ein ganzes Stück vorher sehe ich die große Tafel: ERGO. Beides sehe ich schon von weitem, jedes Mal.
Bei der Ergotherapie geht es um die Geschicklichkeit meiner Hände. Vor allem der linke Arm und die linke Hand sind recht wackelig. Und ich war mal Linkshänder. Und Gitarre spielen konnte ich wohl auch sehr gut; jedenfalls wenn der Beifall nach meinen Auftritten ehrlich war. Aber die ganze Bewegungssteuerung ist ja wohl im Blut in meinem Kopf abgesoffen; ich muß alles neu lernen.
Am Anfang, auf der B1, als ich zum ersten Mal nach meiner Verletzung wieder eine Gitarre in die Finger bekam, war mein Geklimpere darauf so ungeschickt - habe ich gehört, daß man kaum glauben konnte, daß ich schon jemals dergleichen getrieben hätte. Ich soll die Gitarre fröhlich betrachtet und sie augenscheinlich lustig gefunden haben, aber sie zu stimmen, geschweige denn, daß so ein Ding zum Musik spielen da ist, davon hatte ich erst einmal keine Vorstellung. Am Schluß konnte ich dann schon Töne produzieren, die sich richtig nach Gitarrengriffen anhörten, öfters jedenfalls. Aber ein bißchen mehr Geschicklichkeit kann ja bei sowas nie schaden. Und da kommt Ergo gerade richtig.
Für so etwas reicht eben weder Rollstuhlfahren noch Nasebohren. Gerade um die Geschicklichkeit der Hände bei Problemen, wie meinen, wieder zu trainieren, ist Ergotherapie entwickelt worden. Die Bewegungsteuerung speziell der Hände soll wieder auf Vordermann kommen. Und dazu fahre ich zur Ergotherapie, und vollbringe dort täglich spätestens beim Umsteigen auf den Stuhl mein erstes Kunststück. Möglichkeiten für kleine Kunststücke gibt es viele bei der Ergotherapie, denn sowas zu fordern ist ja gerade die Methode.
Meine Therapeutin ist aus dem Emsland. Mit einer Emsländerin habe ich, lang ist es her, mal in einer WG zusammengewohnt; oder auch nicht, ich kannte sie nur gut und übernahm das Zimmer, als sie auszog. Die Therapeutin ist nett, aber öfters springt auch mal eine andere ein. Zum Glück ist die auch nett, obwohl sie nicht aus dem Emsland ist. Jedenfalls geben beide mir reichlich Gelegenheit, Kunststückchen zu üben. Zum Beispiel Puzzles zusammensetzen. Natürlich sind es keine Puzzles, schon garnicht die dreidimensionalen, aber über einen besseren und richtigeren Namen dafür werde ich nicht aufgeklärt. Das würde ja auch nicht die Geschicklichkeit meiner Hände erhöhen. Aber ich frage sie auch nicht. Für mich ist ja wirklich schon die Fummelei alleine aufregend genug.
Einmal mache ich mich richtig nützlich. Ich bastele ein Tablett, den Rand jedenfalls bastele ich. Vorher bohrt eine meiner Ergotherapeutinnen rundherum am Rand entlang Löcher in eine Holzplatte, und dahinein kommen Holzstäbe. Zwischen sie flechte ich einen Rand, und siehe da - nach einiger Zeit funktioniert das Tablett. Vera nimmt es mit nach Hause. Und - wahrhaftig, es ist nicht unbrauchbar - über den Rand ist jedenfalls noch nichts gesaust.

KG habe ich sogar zweimal am Tag. KG, das ist Krankengymnastik. Der Weg zur KG ist weit, und zuerst mal genau gleich, wie der zum Snoozeln oder zur ERGO. Aber kurz hinter dem Kiosk und noch vor der ERGO, also in der Nähe des Snoozelraumes muß ich mit dem Fahrstuhl ein Stockwerk tiefer. Den Weg dorthin finde ich ja gut, aber hier sind so viele Leute, die ich noch nie gesehen habe, aus allen möglichen Stationen. Ab und zu wird sogar ein Mädchen im Rollstuhl hierhin geschoben.
Krankengymnastik wird hier in der Reha meist in einer großen Halle im Keller mit mächtigen, viereckigen Säulen getrieben, und immer muß ich hier warten, bis Frau Freund oder Frau Sapsed kommen. Denn ich habe vor und nach dem Mittagessen KG, jeden Tag. Frau Freund kommt von einem Bauernhof in der Eifel, und Frau Sapsed ist Engländerin. Mit beiden habe ich Glück gehabt: Sie sind nett und können was, und das kann ich ja wirklich sehr gut gebrauchen. Frau Sapsed findet bald heraus, daß ich noch ganz gute Englischtrümmer im Kopf habe; es macht ihr Spaß, ab und zu ein paar Worte in ihrer Muttersprache mit mir zu wechseln.
Einmal sehe ich sie in der Nähe der Pforte mit einem Mann Arm in Arm. Ob sie etwa noch mehr im Kopf hat oder kann als KG und Englisch? Nun ja, nicht für alle ist Krankengymnastik alles im Leben.
Normalerweise muß ich erst etwas in der Halle warten, bis ich dran bin. Dafür stehen genug Stühle vor dem KG-Büro dort, und eine Toilette gibt es auch in der Nähe. Natürlich steige ich um in einen Stuhl, wenn nicht gerade alle voll sind, aber das kommt nicht sehr häufig vor. Und dabei kann ich schon einige Patienten betrachten, die gerade in der Halle üben. So kann ich Bernd bewundern, wie er gerade laufen lernt. Er ist sogar schon beim Dauerlauf. Imponierend.
Und wie ich feststellen kann, gibt es gibt hier auch die Chance, Fahrradfahren zu üben. Fahrräder stehen jedenfalls genug da.
Ein paar mal sehe ich auch den jungen Türken, der auf der B1 im Bett neben mir lag. Seine Schwester hatte mir da ja mal die Haare geschnitten. Auf der B1 kann er jetzt auch nicht mehr sein, sonst würde er nicht hier rumlaufen. Denn das kann er inzwischen ganz gut. Und daß das Gehen mal wieder klappen würde bei ihm, war ja noch garnicht so klar, als er auf meinem Zimmer lag, zumindestens mir nicht.
Aber immer kann ich nun nicht nur darauf achten, was hier so abgeht, denn da kommt ja schon Frau Freund um die Ecke. Ich also schwinge mich schnell wieder auf meinen Rollstuhl, der jetzt schon ungeduldig mit den Hufen scharrt.
Und schon geht es ab in einen der verschiedenen KG-Räume. Davon gibt es ettliche, und ziemlich unterschiedliche. Mal sehen, wo ein Platz frei ist. Und schon eilt Frau Freund voraus und läßt ihre Blicke schweifen. Irgendwo findet sie immer einen freien Platz, den wir ansteuern können.
Dort angekommen versuche ich, mich wieder vernünftig zu bewegen. Dazu kann ich die Hilfe von Frau Freund wirklich gut gebrauchen, weil die Steuerung in meinem Kopf defekt ist und eine Reparatur gut brauchen kann. Und schon bald sitze ich auf einem großen grünen Ball, was ja nicht ganz so einfach ist, wie es auf einem Sessel wäre. Bälle haben das Rollen so an sich, ich aber will lieber sitzen bleiben. Das gibt ein gutes Training für das Gleichgewicht.
Doch ich sitze nicht immer nur auf Bällen. Frau Freund und Frau Sapsed haben wirklich genug Tricks auf Lager, wie ich trainieren kann, mich zu bewegen und mich aufrecht zu halten. Ich liege auf Matten und sitze auf Liegen, und manchmal stehe ich sogar daneben, vor mir die Liege und hinter mir Frau Freund oder Frau Sapsed. Auch an's Gehen geht es: Dazu gibt es diesen Barren in der Halle, der mich immer so unangenehm an den Turnunterricht erinnert. Hier kann ich dann wahrhaftig ein paar Schritte wagen, auf jeder Seite einen Holm fest in der Hand, und nach einigen Schritten gibt es Grund, eine Drehung zu üben (der Barren ist zu Ende).
Auch Treppen bieten eine gute Gelegenheit zum Üben, und sie haben glücklicherweise Geländer. Praktisch zum Festhalten, und Frau Freund oder Frau Sapsed kommen ja auch mit. Wie gut, daß es in der Reha auch Treppen gibt, und nicht nur Aufzüge. Langsam fällt richtig auf, daß ich immer fitter werde und schließlich ist klar, daß ich bald entlassen werden kann.
Vorerst einmal geht es noch einmal auf die große Reise, nach Siegburg. In Siegburg gibt es ein wirklich schönes Kloster, das auf seinem Berg weithin unübersehbar ist. Nein, auf dem Berg war ich noch nie, und in dem Kloster schon garnicht. Wirklich bekannt in der ganzen Gegend ist aber das Nummernschild SU. Die Rheinländer mit der ihnen eigenen Sensibilität deuten SU als Abkürzung für "suche Unfall" oder "Sau unterwegs". Na ja. Mein Taxi hat ja eine Bonner Nummer, und ins Kloster will ich auch nicht.
In Siegburg soll ich in einen Computertomographen. Damit soll festgestellt werden, was von meinem Gehirn noch übrig ist. Also auf nach Siegburg. Das sind dann etwa 20 km. Aber erst einmal mit dem Rollstuhl runter zur Pforte und Bescheid sagen, daß ich auf ein Taxi warte. Dann zur Sitzgruppe um die Ecke; der Taxifahrer wird vorbeigeschickt, wenn er da ist. Natürlich kriegt er dann auch die Unterlagen für Siegburg verpaßt.
Auch diesmal dauert es nicht lange, bis das Warten vorbei ist. Die paar Meter bis zum Taxi vor der Tür sind zum Glück kein Problem, und auch das Einsteigen läuft glatt. Und die Taxifahrer, die zur Reha kommen, haben regelmäßig mehr als ausreichende Übung mit dem Zusammenklappen von Rollstühlen. Ich selber weiß nicht mal, wie das geht, und ich kriege auch nicht so genau mit, was sie da hinter dem Auto eigentlich immer treiben. Es kann aber nicht besonders schwierig zu sein, meinen Rollstuhl in den Kofferraum zu kriegen. Sind eben echte Profis, die Taxifahrer.
Auf jeden Fall ist es ja nach Siegburg nicht weit: Über den Rhein, Richtung Köln/Flughafen, Sankt Augustin und schon taucht da am Horizont der Berg mit dem Kloster obendrauf auf. Und bald sind wir in Siegburg, und hier taucht eine Frage auf, und zwar: Wo müssen wir eigentlich hin? Natürlich hat der Taxifahrer einen Zettel mit Namen und Anschrift unseres Zieles, aber so richtig auskennen tut er sich nicht in Siegburg. Er ist eben ene Bönnsche Jung.
Also kurven wir durch Siegburg und suchen unser Ziel. Bisweilen fragen wir auch. Und oft wissen die Siegburger dann auch weiter weiter. Natürlich nicht, wo es in Siegburg einen Computertomographen gibt, aber der steht zum Glück im Keller eines Krankenhauses. Hier hat einer seiner Ärzte auf eigene Rechnung sozusagen eine Firma Computertomograph eröffnet und untersucht Patienten aus dem Köln/Bonner Raum. So braucht sich nicht jedes Krankenhaus so ein teures Monstrum anzuschaffen. Und das ist unser Glück: Wir müssen nur nach dem Krankenhaus fragen.
Das Krankenhaus kennen die Siegburger, jedenfalls finden wir es noch am gleichen Tag. Jetzt aber den Rollstuhl raus aus dem Taxi. Nein, der Taxifahrer klingelt vorsichtshalber erst mal. Und siehe da: Er klingelt. Und klingelt. Was ihn schließlich veranlaßt, im Krankenhaus zu fragen, ob die Adresse wohl stimme. Sie stimmt, und er erhält einen guten Tipp, wo er mal nachschauen könne.
Schon nach kurzer Zeit kommt der Taxifahrer voller Zuversicht zurück - woher eigentlich, ist mir nicht klar, und kurz danach erscheint eine Dame und winkt uns freundlich zu, geht zur Tür und schließt sie auf. Ich soll mit. Der Taxifahrer bleibt draußen. Dort wartet er, bis ich zurückkomme. Aber zunächst einmal liest die Dame die Papiere, die der Taximensch mitgebracht hat. Aha. Alles klar. Es kann losgehen.
Und so lerne ich den Computertomographen kennen. Ja, sogar nähere Bekanntschaft mache ich mit ihm. Ist ja echt nen Ding. So groß, wie ein Kleinwagen, aber viel teurer. So eine Art dicke Walze mit eingebauter Riesenröhre. Und was soll ich da? Reinkriechen? Nein, mich auf die Bahre legen, alles gar kein Problem? Und mein Kopf kommt in die Röhre und dann soll ich nicht wackeln? Und auf den Bildern kann man sehen, ob ich was im Kopf habe? Wackeln soll ich jedenfalls nicht mit ihm. Wenn ich es auf die Liegefläche vor dem Loch am Ende schaffe - denn diese Liegefläche gehört dazu - kann ich den Kopf ins Loch stecken und der Tomograph macht dann die Aufnahme. Und da kommt auch schon der Doktor. Er reicht mir die Hand, und mein Kopf verschwindet in der silbergrauen Versenkung mit ihrem verwirrenden Innenleben.
Und schon beginnt der Tomograph sein geheimnisvolles Werk. Jetzt aber ganz ruhig, und bloß nicht wackeln mit dem Kopf. Es geht ja schnell und tut garnicht weh. Nach einer viertel Stunde ist alles vorbei, und gleich sind auch schon die Bilder fertig. Der Doktor betrachtet sie mit Kennerblick und nickt zufrieden: Nicht verwackelt, scharf. Gut so.
Natürlich fahre ich nicht immer so weit. Am Wochenende, nein: An jedem Wochenende werde ich nach Hause abgeholt, also am Samstag nach dem Übungsausflug; zurück komme ich am Sonntag abend. Einmal übernachte ich also zu Hause, einmal jede Woche. Natürlich bedeutet es für die Kinder (und auch für Vera) sehr viel, wenn ich jetzt wieder öfter zu Hause bin.
Konrad und Daniel können mich noch garnicht so genau einschätzen. Papa haben sie mich ja eigentlich immer genannt, aber was ich für einer bin, ist ihnen wohl nicht ganz klar. Besonders gilt dies für Daniel, der keine Erinnerung an mich als gesunden Vater hat. Na klar fällt ihm auf, was ich alles nicht kann. Und dann soll er auf mich hören? Sogar dann, wenn er grade was ganz andres vorhat?
Nun ja, Vera hat jetzt schon Übung darin, den Rollstuhl einzupacken, und ich komme ohne Hilfe die Treppe hoch. Sogar sicher, wenn es auch nicht gerade elegant aussieht. Aber Treppengeländer sind ja schließlich dazu da, sich daran festzuhalten. Einmal erzählt mit Vera dann von der CD. Von was für einer CD? Von meiner.
Die hatten wir schon im Winter aufgenommen. Wir, das sind Cash Rabbit. Nein, keine Band, nur eine Menge Auftritte haben wir zusammen gemacht, meistens Blues. Nicht die ganze CD ist von uns, sondern nur ein Stück darauf. Es sollte so eine Art Demoaufnahme für uns werden; ganz abgesehen von dem Spaß, den es uns machte.
Aufgenommen hatten wir es in Michael Schneiders Tonstudio. Eigentlich hatten wir Michael ja als Posaunisten kennengelernt. Zu der Zeit war Michael gerade dabei, sich eine Existenz als Musikproduzent aufzubauen und brachte uns auf die Idee, ein Stück auf CD zu bringen. Die Aufnahme machte er dann umsonst in seinem Kellerstudio (Wie gesagt war er erst dabei, sich eine Existenz als Produzent aufzubauen. Heute produziert er Gruppen und Orchester aus dem In- und Ausland). Sein Aufnahmestudio war damals im Keller des Hauses seiner Eltern in Heisterbacherrott. Das ist ganz in der Nähe von Heisterbach mit seiner berühmten Klosterruine, nur ein bißchen weiter den Berg hoch. Und zu diesem Kloster mußte ich eines Tages auch hin, Fotos machen lassen. Michael hatte die Idee, den Fotografen genau in das Kloster zu bestellen, wo ein Mönch der Sage nach 1000 Jahre unterwegs war und hörte: "Mönchlein, Mönchlein, du gehst einen schweren Gang." Jetzt aber bin ich an der Reihe mit meinem schweren Gang. Garnicht sagenhaft ist der, und hundert oder tausend Jahre werde ich auch nicht schaffen.
Vera also erzählt mir von der CD. Die ist jetzt schon seit vielen Monaten fertig, und ich habe sie noch nie gehört; nein, ich habe noch nicht mal daran gedacht. Na ja, wir sind nicht genial, aber doch sehr, sehr ordentlich. Es gibt viel schlimmere Stücke auf der CD. Natürlich sind nicht alle Stücke schlechter. Aber dafür, daß die Aufnahme so glatt und schnell gelaufen ist, klingen wir wirklich sehr gut. Auch das dazugehörige Foto kriege ich endlich mal zu sehen. Es ist ja schon weit über ein halbes Jahr alt. Irgendwie gut, wie wir da auf dem Kloster rumturnen.
Zurück im Reha finde ich einen Zettel auf meinem Bett, über einen Besuch, der sich angekündigt hat. Herr Wittel. Herr Wittel ist Polizist und hinter den Tätern her, die mich vom Fahrrad geworfen haben. Natürlich werde ich auch aufgeklärt, wann und wo ich ihn treffen soll. Wenige Tage später ist es soweit: Er ist da.
Ich erwarte ihn beim Eingang. Dort, wo er fragen muß, wie und wo er mich finden kann. Und das tut er, und erfährt, daß ich da neben ihm "ja, der da im Rollstuhl", der Gesuchte bin. Er macht keine langen Faxen, sondern sieht mir tief in die Augen und stellt sich vor: "Wittel, Kriminalpolizei".
Wir besprechen uns nicht im Zimmer, sondern im Souterrain. Ja, in der Nähe des Snoozelraumes. Da gibt es mehr als genug Tische und Stühle. Normalerweise sehen die Leute hier fern oder sie treffen sich einfach, spielen oder trinken etwas. Herr Wittel sieht nicht fern. Er spielt oder trinkt auch nichts. Er ist dienstlich hier und fragt mich, ob ich mich an meinen Sturzflug erinnern kann. Wann, wie und wo. Und ob ich die Täter gesehen hätte. Von wo sie auf mich zugelaufen wären.
Na klar weiß ich Bescheid. Ich hatte ja lange genug Zeit, darüber nachzudenken und meine Erinnerungen zu sortieren. Wie ich mit dem Fahrad zur Arbeit wollte, und nie ankam. Wie ich das Loch in der Menge sah und den sanft abfallenden Weg neben dem See im Rheinauenpark runtersauste. Und wie ich dann auf die Wiese auswich, als vor mir Demonstranten den Weg versperrten.
Herr Wittel ist doch ziemlich erstaunt, was ich noch alles so weiß. Nur daß die Angreifer, die mich dann erwischt hätten, von rechts gekommen seien, stimme nicht. Sie seien von links hinten gekommen und hätten das Fahrrad hochgerissen. "Das war uns ja zuerst auch nicht klar. Aber inzwischen haben wir Zeugen gefunden, die das so berichtet haben", meint er. Bloß die Namen der Täter kenne er leider noch nicht. Es sei anzunehmen, daß diese Leute aus Göttingen gekommen seien, jedenfalls sei klar, daß genau da, wo ich hingeworfen worden war, die Göttinger Demonstranten postiert gewesen seien. Er sei aber zuversichtlich, daß er noch mehr erfahren werde. Seine Kollegen gäben sich mächtig Mühe dabei, und er natürlich auch. Und ein bißchen Erfahrung habe er auch mit soetwas. Natürlich nicht lebenslange, aber reichliche und intensive. Schließlich habe er schon ganz andere Sachen gemacht; Terroristen gejagt zum Beispiel.
Das Gespräch gibt mir natürlich zu denken. Ich habe ja noch Gesichter in Erinnerung, aber ob das die Täter waren? Ganz sicher bin ich da nicht, und gefragt hat er auch nicht. Sollte ich wohl selber nach Göttingen fahren? Natürlich müßte ich Vera bitten, mich hinzufahren. Aber die Täter würde ich wohl bestimmt finden. Die richtigen Göttinger Kneipen sowieso, und da rein mit dem Rollstuhl, und rumfragen. Natürlich schaffe ich das nicht mit Sicherheit am ersten Wochenende, aber nach ein paar Mal bestimmt. Und dann schnell das Messer hochziehen und zwischen die Beine damit... Das gäbe dann ja einen Spaß, mitzuerleben, was die mit mir im Gefängnis anstellen würden. Das wird schwierig für die. Behindertengefängnisse haben die doch bestimmt nicht. Aber für Vera wäre es einen lange Fahrt. Und wo sollen die Kinder hin solange?
Aber was wollten die eigentlich, die Antifaschisten? Ist mir ja nicht so klar, bloß eins ist doch wohl logo: Antifaschisten waren es, und der, der solche Leute als Chaoten verteufelt, entlarvt sich eindeutig als Erzreaktionär. Aber Antiwas?
Die Nazis hatten eben diesen unangenehmen Namen, der peinlicherweise so sehr dem der Genossen ohne "Volks-" ähnelt. Da ist "Antifaschist" schon angenehmer, und kaum einer sinnt lange über die Bedeutung von Rutenbündeln in diesem Ausdruck nach.
Praktisch ist die Wahl dieser Bezeichnung (heute meist "Antifa") ja schon. Praktisch und kennzeichnend für jemanden, der den Knüppel aus dem Sack holen will. Will heißen: "Wir sind ja so gegen das Böse!"
Ist ja wirklich sehr bequem, sich als Antifa aufzuspielen und ruhmreich gegen Albträume zu kämpfen, die schon vor langer Zeit von anderen besiegt wurden.
Aber nicht nur über die Gründe, aus denen ich fast umgebracht wurde, habe ich schon oft nachgegrübelt, sondern auch darüber, was ich jetzt mit den Ruinen meines Lebens anfangen soll. Seit ich noch auf der B1 lag. Soll ich mich erschießen? Denke ich oft, wenn ich nachts wach werde. Und das ist eigentlich jede Nacht, obwohl: Meistens schlafe ich ja. Natürlich müßte mir Vera erst mal ein Gewehr besorgen. Da wäre sie bestimmt auch nicht grade begeistert. Und wenn ich das nicht richtig packe? Wenn ich nicht richtig treffe? In den Mund geballert, sähe ich dann bestimmt überhaupt nicht mehr so schön aus. Und womöglich wäre ich irgendwann wieder bei Bewußtsein und würde mitkriegen, wie ich dann aussähe, und daß ich dann nicht mal mehr Rollstuhl fahren könnte. Ich verzichte.
Aber zum Glück werde ich nicht bei jedem Besuch so beunruhigt wie bei dem von Herrn Wittel. Schließlich kommen nicht nur alte Terroristenjäger. Nein, einmal - ich schnappe gerade Luft vor der Haustüre und lerne die Vorteile eines Vordaches kennen (und bei dem Wetter 1993 bietet das Vordach wirklich sehr große Vorteile) - am frühen Abend kommt zu meiner Überraschung Frau Siedler. Frau Siedler ist Bundestagssekretärin, und arbeitete nebenher für die GFE, also mich. Dazu angeworben hatte ich sie über ihre Tochter, die in einem Büro zwei Stockwerke unter mir arbeitete, und als die GFE mal eine neue Sekretärin brauchte, mit den Tip gab, mich an ihre Mutter zu wenden.
Gesagt, getan. Und wahrhaftig, es klappte: Frau Siedler arbeitete auch für die GFE; das heißt dann, wenn sie mit der Arbeit für ihren Abgeordneten fertig war. Gut klappte es dann deshalb, weil die Geschäftstelle der GFE nur ein paar Häuser neben dem Bundestag liegt (damals hätte ich mir nicht in meinen wildesten Fieberträumen vorstellen können, welche Nachteile mir daraus erwachsen würden). So jedenfalls konnte ich ihr leicht die vollen Kassetten bringen und die geschriebenen Seiten schnell und problemlos wieder abholen.
Jetzt also steht sie vor der Reha-Tür und will mich besuchen. Ist ja wirklich Glück, daß wir uns einfach nur so und ohne jede Verabredung treffen. Viel Glück sogar. Denn wir haben uns viel zu erzählen. Wie sie auf einmal nichts mehr zu schreiben bekam, und dann erfuhr, warum. Mindestens bis zu den nächsten Bundestagswahlen aber habe sie wirklich auch so genug zu tun. Für die GFE arbeite sie jedenfalls nicht mehr seit meiner Verletzung. Ist schon toll, Frau Siedler mal wieder zu sehn und mit ihr sprechen zu können. Nein, es ist keine Zeitmaschine, denn sonst würde ich ja jetzt keinen Rollstuhl brauchen; aber schön ist es trotzdem.
Aber ich bekomme vor meiner Entlassung auch noch anderen Besuch, von der GFE. Herr Bohr, ein Vorstandsmitglied, will wissen, wie es mir denn geht und ob ich irgendwann noch mal gesund werde. Das würde ich ja, im Vertrauen gesagt, auch gerne wissen. Herr Helmrich findet das ja wohl auch nicht so gut, daß meine Arbeit für die Eindämmung der Bürokratie erst mal flachfällt und auch noch garnicht abzusehen ist, ob und wann ich weitermachen kann. Und ich habe das so gerne gemacht. Minister Helmrich weiß als alter Bundestagler nur zu genau, wie tief dieser Sumpf ist; und ich wußte es von meiner Arbeit beim Bund der Selbständigen. Ein paar Gräben, ein paar Versuche, den Morast zu entwässern, sowas kann da wirklich nicht schaden.
Auch eine Cousine kommt vorbei. Ganz ohne Familie geht es nicht, und wir haben uns schon immer gut verstanden. Doro hat inzwischen erfahren, wer in dem Krankenwagen lag, den sie am 26. Mai mit Tatütata vorbeifahren gehört hat. Sie bringt ein Geschenk mit, ein sehr persönliches Geschenk. Es ist ein Buch über Guatemala und seine Flüchtlinge. Indianer. Wie die versuchen, in ihre Heimat zurückzukehren. Viele Fotos darin sind von ihr. Sie hat eben Interesse an Menschen, und gerade auch an denen ferner Länder. Darum kam sie ja auch am 26. Mai den ganzen weiten Weg aus Darmstadt zur Demo. Mich hier zu besuchen, das geht ja nun wirklich nicht mehr lange.
Aber erstmal bin ich eben noch in der Übungswohnung, und das heißt: Essen selber holen oder kochen, morgens treffen sich alle, und vieles mehr. Natürlich auch Ergo und Krankengymnastik, und regelmäßig Bilder malen und rahmen. Und Snoozeln zum Wochenabschluß. Eben ein voller Tagesablauf. Natürlich gehört zu so etwas nicht nur eine Horde von Patienten, sondern auch eine fähige Mannschaft (Frauen inclusive). Und da habe ich wirklich Glück; mit manchen freunde ich mich an. Da ist vor allem Sandra. Kennengelernt habe ich sie natürlich als Frau Soundso, und ich habe sie mit Sie angeredet (sie mich auch, versteht sich). Inzwischen nennen wir uns einfach Sandra und Reinhard, und schließlich tauschen wir unsere Adressen aus.
Und das ist auch angesagt, denn in der Reha sehen wir uns nicht mehr: Ich werde entlassen. Aber ein paar Tage vorher erlebe ich noch ein neues Abenteuer: Ich soll wieder laufen lernen, mit einem Rollator. Mit einem Rollator? Das ist so eine Art weggelassener Kinderwagen. Übriggeblieben sind da nur die vier Räder und eine Art Fahrradgriffe zum Festhalten. Glücklicherweise läßt sich der Rollator flachklappen und paßt dann in unseren Kofferraum. Und, ach ja, beim Gehen hilft er auch.
Denn dabei bietet er Sicherheit, und bremsen und draufsetzen kann ich mich auch. Na ja, ein Sessel bietet da mehr, aber der Rolli - manche nennen das heiße Ding ja Mercedes; ich für mein Teil habe zuerst meinen Ohren nicht getraut - ersetzt schon mal die helfende Hand. Es kann ja nicht immer und überall jemand mitlaufen. Gehen üben muß ich jetzt noch gewaltig. Erst mal nur in der Übungswohnung zwischen Schlafzimmer und Küche. Außerdem geht dann jemand neben mir, sicher ist sicher. Und das ist, wackelig wie ich bin, auch wirklich angebracht. Aber ich gehe.
Und dann geht es endlich nach Hause. Was heißt hier: Es geht? Ich werde natürlich gefahren. Vera kommt und holt mich. Zuerst aber mal räumt sie meine Sachen aus dem Schrank und packt sie in Koffer und Taschen. Dann schleppt sie die Sachen runter. Schließlich bin auch ich an der Reihe. Der Rollator bleibt im Zimmer. Noch aber geht es jetzt nicht raus, sondern zur Kasse, und die ist schräg gegenüber dem Aufzug zur B1.
Denn hier muß ich das Telefon bezahlen, das wir gemietet hatten und das neben meinem Bett stand. In den Reha-Zimmern gibt es in der Wand neben den Betten schon Buchsen dafür. Das Telefon muß man mieten. Ich weiß wirklich nicht, wer meins wann gemietet hat; ich war es jedenfalls nicht. Die Telefone sind abschließbar und der Mieter erhält den passenden Schlüssel, und das aus gutem Grunde, wie ich einmal merkte, als auf meiner Rechnung mir unbekannte Nummern standen. Denn die vertelefonierten Einheiten sind natürlich auch nicht umsonst. Jetzt also Telefon abgeben, Schlüssel abgeben, und die Schlußabrechnung bezahlen.
Die Reha-Kasse kenne ich jetzt also auch, nach all der Zeit hier.
Und nun ab zur Pforte und das Gepäck ins Auto. Zum Glück paßt alles. Der Rollstuhl bleibt, wie schon der Rollator, in der Reha. Kaum bin ich im Auto, da schiebt ihn Vera wieder hinein, gerade mal hinter die Glastüre. Und dann geht es los, dem Unbekannten, der Zukunft entgegen.

 

Abflug, oder: Ein Lebenslänglicher wird entlassen

Wunderschön ist es an diesem Tag; der Himmel ist blau, und die Sonne scheint und strahlt, daß es eine Lust ist. Sowas gibt es wirklich nicht jeden Tag. Das kann jeder Bonner bestätigen. Mit Sicherheit.
Wir fahren langsam runter, rein nach Godesberg und kommen auch an der Godesburg vorbei, die hoch oben auf dem Berg trohnt. In der Godesburg war ich schon oft. Erstens beruflich, wenn ich für irgendwelche Ausschüsse des "Bundes der Selbständigen" das Protokoll führen sollte (die Verbandsausschüsse haben sich sehr gerne dort getroffen), und zweitens bei unserer Hochzeit. Hier haben wir eine auserwählte Schar von Gästen bewirtet. Gezahlt haben natürlich meine Eltern. Schließlich heiraten Kinder ja nicht jeden Tag.
Und dann fahren wir langsam Richtung Bonn (Wie Sie schon wissen, ist Godesberg ein Stadtteil von Bonn), immer in der strahlenden Sonne. Mir fällt auf, wie neu alles aussieht. Die Häuser frisch renoviert, und die Autos ein paar Jahre jünger. Eine neue Epoche, eben. Vielleicht war ich auch einfach eine Weile weg vom Fenster. Aber wahrscheinlich wußte ich nur nicht mehr, wie neu oder wenigstens neu angepinselt hier in Deutschland die meisten Dinge sind. Ich war ja in vielen Ländern, wo das ganz anders aussieht.
Und dann über die Südbrücke (na klar, einen richtigen Namen hat sie auch) nach Beuel (im Vertrauen, Sie wissen schon, was jetzt kommt), und dort zur Rilkestraße. Und damit beginnt ein neues Abenteuer, denn ohne Rollstuhl war ich noch nie zuhause - außer natürlich in einer grauen Vorzeit. Vera schließt erst mal die Haustüre auf, und ich pelle mich inzwischen aus dem Auto. Natürlich stehe ich nicht einfach auf, sondern lehne mich an den Wagen. Und schon kommt sie über die Straße geeilt, ergreift energisch meine Hand, und führt mich zum Treppenhaus. Wie gut, daß in der Rilkestraße so wenig Verkehr ist.
Einen Vorteil hat es schon, daß ich die paar Meter dorthin diesmal zu Fuß gehe: Vor der Haustüre geht es eine Stufe hoch, und im Rollstuhl hätte Vera mich hier hochschieben müssen, genau so, wie das sonst auch schon den Bürgersteig hoch notwendig gewesen wäre. So bin ich schnell drin im Treppenhaus und ergreife das Treppengeländer. Inzwischen habe ich ja schon Übung darin, hier hochzukommen. Es sieht natürlich nicht gerade schön aus, aber es klappt. Und für Vera ist es sogar leichter so. Viel Gepäck, aber kein Rollstuhl.
Oben angekommen, macht sie erst mal die Tür auf. Währenddessen kann ich mich ja noch am Geländer festhalten. Wirklich kein Problem. Und kaum ist die Tür auf, da nimmt sie mich an der Hand und führt mich zur Wohnzimmercouch. Ich setze mich hin und bin doch etwas erleichtert, daß alles gut gelaufen ist. Und ich bleibe sitzen. Nicht, weil es gleich Tee gibt, sondern weil ich mich ohne Rollstuhl oder Rollator nicht bewegen kann.
Aber was heißt das schon? Natürlich könnte ich mich auf allen Vieren ohne Risiko fortbewegen, und bald, in wenig mehr als einem halben Jahr, werde ich auch schon ein paar Schritte an der Wand lang schaffen. Aber gleich jetzt... ich weiß ja noch garnicht, was noch alles drin ist mit meinen Fortbewegungsmöglichkeiten. Und allein das Fehlen jeden Programmes oder Stundenplanes: Ich muß erst mal lernen, damit klarzukommen. Das alles ist jetzt wirklich ganz neu und total anders, als ich es gewohnt bin.
Natürlich haben wir viel zu besprechen. Aber nach einer ganzen Weile muß Vera weg: Konrad vom Kindergarten abholen und Daniel von seiner Kinderfrau, bei der er solange untergebracht war. Zum Glück. Vera fragt mich, ob ich wohl eine Weile alleine zurechtkomme, und ich antworte: "Ja, klar". So schnell muß ich nun nicht gleich aufs Klo. Und sie verläßt mit sorgenvoller Miene die Wohnung.
Während Vera weg ist, um Konrad vom Kindergarten und auch Daniel abzuholen, nutze ich die Gelegenheit, bei ihren Eltern anzurufen, ohne daß sie etwas davon mitbekommt. Bis Weihnachten ist es ja nun nicht mehr lange, und es wäre mir ja doch ziemlich peinlich, sie zu bitten, dies und das Geschenk für sich selbst einzukaufen. Und sehr schön wäre es auch nicht, wenn sie mich auf meiner Einkaufstour im Rollstuhl durch Bonn begleiten müßte. Ich stelle meine Bitte mit gutem Erfolg: gerne sind sie bereit, die Geschenke an meiner Statt einzukaufen.
Es dauert vielleicht eine dreiviertel Stunde, und ich höre Veras Schlüssel in der Türe. Was ich auch höre, ist das Geschnatter von Konrad und Daniel hinter der Tür. Und wie sie gucken! Daß ich da bin, haben sie ja schon gehört. Aber wie das ist, daß ich jetzt nicht mehr wegfahre... Wie es einzuschätzen ist, daß ich jetzt auch zuhause bin, wissen sie noch nicht. (Ich übrigens auch nicht.) Der Konrad, klar, der erinnert sich an vieles, wo wir in Ferien waren und was ich so gemacht habe. Aber Daniel; ich glaube, für den bin ich so eine Art Wochenendbekanntschaft, die Papi heißt.
Jetzt kocht Vera erst einmal Essen, und als sie damit fertig ist, nimmt sie meine Hand und führt mich in die Küche zum Tisch. Und kaum sind wir mit dem Mittagessen fertig, da klingelt es. Vor der Tür steht ein Mensch mit einem Rollator. Das erfahre ich natürlich erst, als Mensch und Rollator drin sind. Dieser Rollator wird jetzt eine der kleinen Freuden meines neuen Lebens: Er ist in einem warmen, gesättigten Blauton gehalten. Wahrscheinlich garnicht so leicht zu lackieren, sowas. Also erst mal lackieren, dann zusammenbauen und Räder dran. Ich habe ja schon wirklich genug an Autos rumrepariert, um mir ein bißchen was zu denken, wenn ich sowas sehe.
Kaum habe ich dem Rolli ein paar tiefe Blicke zugeworfen, da will sich der Rollator-Mensch das Bad ansehen. Er meint, er müsse ein paar Metallgriffe in die Wand einbauen, das jedenfalls stehe in seinem Rezept. Wie Sie messerscharf schließen können, war dieses Rezept natürlich ein Rezept für mich, das er von der Reha erhalten hatte. Dazu waren noch vor meiner Entlassung zwei Krankengymnastinnen aus der Reha mit mir nach Hause gekommen, um herauszufinden, welche Hilfen ich sinnvollerweise brauchen würde, um in der freien Wildbahn zurechtzukommen.
Vera aber pfeift ihn sofort zurück: "Damit sollten wir besser noch etwas warten. Wir ziehen voraussichtlich in Kürze um, und es wäre doch Unsinn, jetzt noch sowas hier einzubauen." In wenigen Wochen schon müsse dann alles wieder herausgerissen und in der neuen Wohnung eingebaut werden. Außerdem müßten dann die alten Löcher hier wieder zugemacht werden.
Schon lange hatten wir ins Auge gefasst, in eine größere Wohnung umzuziehen. Am besten ins Derr-Projekt ganz in der Nähe. Das jedenfalls hatten wir uns seit Langem gewünscht. In dieser Siedlung wohnen viele Freunde von uns, und Konrad könnte seinen Kindergartenplatz behalten. Schade, der größte Teil der Wohnungen ist Beamten vorbehalten. Aber weiter hinten gibt es noch einen Hof mit Sozialwohnungen. Und mit Jungverheiratetenfreibetrag könnten wir da auch noch rein. Inzwischen aber haben die Wohnungen für uns noch einen ganz anderen, großen Vorteil bekommen: Den Aufzug. Denn ohne Aufzug ist es wirklich Schwerstarbeit für Vera, den Rollstuhl rauf und runter zu hieven.
Am Sylvester '92, dem letzten Tag, wo der Jungverheiratetenzuschlag für uns galt, hatte Vera einen Wohnberechtigungsschein beantragt und den gleich im neuen Jahr ans Derr-Projekt geschickt. Und jetzt, nach all der Zeit, genau an dem Tage, wo ich aus der Reha nachhause komme, haben wir wahrhaftig einen Brief bekommen, daß wir uns hier eine Wohnung ansehen sollen!
Und das tun wir einige Tage später. Natürlich mit dem üblichen Erfolg: Pustekuchen. Wir kriegen eine Absage.
Aber es passieren nun auch noch ganz andere Dinge; denn jetzt bin ich zuhause und habe viel, viel Zeit. Mehr aus Gewohnheit und ohne mir viel was dabei zu denken, schreibe ich eine Presseerklärung. Ein paar Jahre lang habe ich ja beruflich jede Woche eine Presseerklärung abdrücken und an die in der Bundespressekonferenz vertretenen Redaktionen verteilen müssen (Für den "Bund der Selbständigen"). Also reine Routinesache. Jetzt bin ich nach so vielen Monaten gerade erst entlassen, und darum soll es gehen. Ich schreibe also eine Presseerklärung? Nein, natürlich entwerfe ich sie nur. Denn sowas müßte ich ja mit der Maschine tippen. Aber das kann ich nicht; sie steht im Keller.
Wir haben einen Kellerraum mit großem Fenster, wo ich neben dem Werkzeug und einem Bücherschrank auch meinen Uralt-PC und Drucker stehen habe. Eine andere Schreibmaschine habe ich nicht. Aber da runter kann ich nicht alleine, und ich werde doch nicht Vera bitten, mir runterzuhelfen. Das wäre doch einfach ein bißchen zuviel Streß. Aber entwerfen und den Entwurf handschriftlich niederschreiben, das kann ich. Und ich habe auch ein Adressenverzeichnis der deutschen Zeitungen. Leider mit den alten Postleitzahlen, aber das Problem habe ich ja mit allen meinen Adressen. Ich kann also den Text einer Presseerklärung entwerfen und die Anschriften rausschreiben, natürlich unter Verwendung der neuen Postleitzahlen. Und das tue ich.
Zum Glück hat auch Veras Bruder einen PC und Drucker, aber nicht viel zu schreiben. Als er zu Besuch kommt, frage ich ihn, ob er Lust hat, mir zu helfen. Er hat Lust, die "Presseerklärung" zu tippen, und auch, sie dann an die fünf! ausgewählten Zeitungen zu schicken. Natürlich benutzt er die von mir adressierten und frankierten Umschläge. Und das Ergebnis? Die Bonner Rundschau bringt einen Artikel "Selbst das Gitarrespielen muß Gamme nun neu erlernen!". Was ja leider stimmt. Und der Artikel? Ein Resultat meiner Routine, erfolgreich auf die Presse zuzugehen.
Wenige Tage später klingelt es. Es sind nicht, wie meist, die Nachbarskinder, die Konrad besuchen, sondern noch einmal ein Mensch von einem Sanitätshaus. Der jetzt bringt einen Rollstuhl mit, einen nicht zu breiten Rollstuhl in einem warmen Grünton. Gut daran sind nicht nur die Farbe und das Format - er ist eher schmal, sondern auch, daß ich mich zum Waschen draufsetzen kann. Bisher war das ja nicht besonders gemütlich für mich: Rein ins Bad, Klappstuhl auf und rauf. Jetzt wird das endlich besser. Außerdem habe ich jetzt die Chance, aus dem Bad alleine auch wieder rauszukommen nach dem Waschen. Nur mit dem Rollator geht das nicht. Zu gefährlich; ich bin doch kein Märtyrer. Darum ist dieser Rollstuhl schon sehr nützlich
So ganz einfach ist mein Herumgewanke nur mit dem Rollator nun aber auch nicht; vor allem für Vera nicht. Denn immer muß sie mich dabei begleiten. Ich bin eben noch nicht so ganz sicher. Aber was heißt das schon: Immer muß sie mich dabei begleiten? Doch nur, wenn ich nicht auf der Couch sitze.
Restlos füllt mich mein Herumgewanke jedoch nicht aus; und deshalb rufe ich schon bald einen alten Schulkameraden an, in Heidelberg. Eigentlich kenne ich Roland ja von der Schule, aber richtig gut kennengelernt habe ich ihn, als wir zusammen Musik gemacht haben, erst in Bonn, und dann in Heidelberg. Da hat er mir ja schon mächtig imponiert: Er hatte in Decibel-Studio in London Plattenaufnahmen gemacht. Eine Platte ist zwar nie daraus geworden, aber diese Erfahrung!
Er ist entsetzt, als er hört, was mir passiert ist. Seit Langem hat er nichts mehr von mir gehört. Und nun das! Und ein paar Tage später steht er vor der Tür.
Mit ernster Miene kommt er herein. Er weiß ja garnicht genau, wie es mir denn jetzt geht. Trotzdem: Ich glaube, er ist ganz froh, mich mal wieder zu sehen. Jedenfalls: Kaum hat er sich hingesetzt - einen Mantel ausziehen muß er nicht dafür - da reicht er mir mit feierlicher Miene eine Kassette herüber. Das sind Aufnahmen von uns, und er mußte wahrhaftig erst seine Tonbänder restaurieren, bevor es darauf viel zu hören gab. Aber das ist ihm, und darüber ist er sehr froh, geglückt. Und er meint noch etwas: Die Musik wäre wirklich gut. Wir sollten sie, mit guten Mitstreitern natürlich, neu im Studio aufnehmen und auf CD bringen.
Ich bin fasziniert. Klar, auf CD bin ich schon mit Cash Rabbit gelandet; das war ja nicht mal eine Band, aber Auftritte haben wir viele zusammen gemacht. Wirklich, nicht zu wenig. Aber Fantasy Factory? Ein Band, die es seit zehn Jahren nicht mehr gibt? So eine Art Musik-Ötzi.
Jetzt aber sind erst mal ein paar Erklärungen fällig: Wieso ein Heidelberger - Roland lebt in Heidelberg - mit mir eine CD aufnehmen will, und wieso ich mich in Kurdistan rumgetrieben habe. Hat ja auch mit Heidelberg zu tun. Also Heidelberg.

Heidelberg, die Stadt meiner (Klein-)Kindheit und dann wieder meiner jungen Erwachsenenjahre. Ich erlaube mir, auch hier die beste, aktuelle Version von "…Niederschläge" an zu führen:

Du Feine

Also: Ich bin in Heidelberg geboren. Am 4. 2. '55. Und auch meine ersten Erinnerungen habe ich an die Zeit in Heidelberg. Obwohl wir - das heißt, meine Eltern und ich - 1959 nach Bonn gezogen sind. Unklar ist mir jedoch, was meine allererste Erinnerung ist: Wie mir die Rachenmandeln rausgenommen wurden, oder wie ich mir im Rohrbach die Strümpfe versaut habe.
Ich habe noch diese nierenförmige Schale vor Augen. Voll mit Blut und Sabber. Und dazu schnibbelt mir ein Arzt im Rachen herum (Ein klarer Fall von örtlicher Betäubung). Das blieb mir selbst als kleiner Junge von etwas mehr als zwei Jahren all die Jahre im Gedächtnis.
Besonders schön war das Abenteuer mit dem Rohrbach nun auch nicht, jedenfalls nicht für meine Mutter. Sie musste dann meine Strümpfe waschen.
Ich hatte weiße Strümpfe angezogen an diesem Sonntag; jedenfalls waren meine Strümpfe weiß gewesen, als ich sie anzog. Ein feiner Ausflug, das sollte es werden. Und er wurde auch einer, am Anfang. Für meine Eltern muss es eine eine ziemliche Mühe gewesen sein, denn ich vermute, dass meine Schwester damals erst wenige Monate alt und im Kinderwagen dabei war - erinnern kann ich mich nicht an sie.
Meine Eltern haben sie wohl im Kinderwagen hoch geschoben, durch den Wald von Rohrbach hoch zum Bierhelder Hof. Der lag hier auf dem Berg inmitten von Weiden; und zumindest am Wochenende war auch eine Gaststätte geöffnet. Sogar Kaffee und Kuchen gab es dieses Mal für uns.
Damals war ich ein kleiner blonder, verträumter Junge. Am intensivsten erinnere ich mich an das Licht über den Weiden. Und so saßen wir, hörten die Kühe muhen, aßen und tranken Kaffee und Kuchen im Schatten der Kastanien. Und es war Sonntag.
Und es blieb Sonntag, als Papi bezahlte und wir uns auf den Weg nach Hause machten; zurück nach Rohrbach. Aber in der Sonne kam mir das viel interessanter vor, quer über die Kuhweide! Die weitläufige Wiese fiel leicht ab und war von saftigem Grün. Und am Stacheldraht habe ich mir überhaupt nicht wehgetan und auch garnichts zerrissen. Nur seltsam, schon nach wenigen Metern schmatzende Geräusche bei jedem Schritt durch das Grass.
Erst achtete ich nicht darauf, aber das Schmatzen wurde nun mit jedem Schritt lauter, und meine Füße waren nur noch schwer wieder aus der nassen Erde zu ziehen; besonders da, wo kein Gras wuchs und man den schwarzen, nassen Boden sehen konnte. Und Mami rief vom Weg rüber: "Komm zurück, Reinhard! Das ist doch alles Sumpf, da unten! Deine Füße werden ganz naß!"
Womit sie nur zu Recht hatte. Jedenfalls waren meine Füße genauso naß, wie meine Schuhe und Strümpfe, die auch nicht mehr weiß waren, sondern... matschig. Ich weiß ja nicht einmal mehr, ob wir damals schon eine Waschmaschine hatten.
Ich bin also in Heidelberg geboren und habe sehr schöne Erinnerungen an die Zeit dort. Ein glücklicher kleiner Junge war ich damals. Als ich dann 1975 wieder nach Heidelberg zog, zum Weiterstudieren, war ich garnicht mehr klein. All meine glücklichen Erinnerungen an Heidelberg hatte ich nicht vergessen, und sie waren der Hauptgrund für meine Rückkehr.
Und '77 kam auch Roland, den ich aus Bonn von der Schule und als Schlagzeuger kannte. Er wollte wieder Musik mit mir machen, und wohl auch deshalb wie ich in Heidelberg weiterstudieren. Nur dass unser Name nicht Heidelberg Dream Band (sein Vorschlag), sondern Fantasy Factory wurde (Richtig, da gabs doch so ein Stück von Traffic, das auch so ähnlich hieß).
Das gab Abenteuer satt. Erst mal Musiker zu finden, die gut waren und mitmachen wollten, und auch ein Proberaum musste erst noch beschafft werden. Wir fanden einen im Keller von Leuten, die Roland kannten. Aber viel Lärm wollten die nicht hören, und die Nachbarn durften wir auch nicht stören.
Dazu bauten wir eine Schallschutzkabine, ein Holzgitter vor die Wände und unter die Decke, und dann zwei bis drei Lagen Matratzen rundherum. Wir brauchten viele Wochen, um genug davon beim Sperrmüll zu sammeln. Dazu mussten wir uns erst mal ein Auto leihen, denn ein Auto hatte keiner von uns.
Das nächste Abenteuer kam beim Umzug aus diesem Proberaum. Die Hausbesitzer wohnten ja genau über unserem Proberaum, und überhaupt nichts hörten nur die Nachbarn. Schon nach nicht all zu langer Zeit erklärten sie uns freundlich, dass wir aus zu ziehen hätten.
Dieser Umzug gab dann das nächste Abenteuer, fast so satt wie der seltsame Geruch bei uns im Keller. Eine tierische Arbeit machte der Umzug schon darum, weil unsere paar hundert Matratzen natürlich mit mussten. Um das zu schaffen, mussten wir uns einen VW-Bus mieten. Ein paar mal hin und her fahren mussten wir auch damit, und außerdem mussten wir noch etliche verschimmelten Matratzen wegbringen. Da war wieder mal Sperrmüllfahren angesagt.
Aber erst mal mussten wir die Matratzen zwischen der Wand und dem Lattengitter hervorzerren. Und was fanden wir dort?
Endlich kam raus, wo die Katze des Hausbesitzers geblieben war. Die wurde schon seit ein paar Wochen vermißt. Sie war wohl hinter die Matratzen gekrochen und zwischen Wand und Matratzen festgeklemmt. Eine Probe von Fantasy Factory war wohl das letzte, was sie mitbekam, bevor sie verdurstete. Welch ein süßes Ende! Der Geruch ihrer Leiche war nicht ganz so süß. Aber wenigstens wußten wir jetzt, warum es im Proberaum in letzter Zeit so komisch gerochen hatte.
Das war übrigens nicht der einzige Umzug von Fantasy Factory. Streß satt gab es dann immer. Ein paar Wochen lang teilten wir unseren Proberaum mit ein paar Negern, die dann meinen Marshall kaputtmachten, indem sie ihn in Betrieb nahmen, obwohl keine Box angeschlossen war. (Anmerkung 1. für Laien: Das war meine Gitarrenanlage, und 2. für Kenner: Ein 50 Watt Röhrenverstärker mit einer acht-zehn-Zoll-Lautsprecher-Box, wie sie auch Jimi Hendrix hatte. Natürlich hatte der mehr davon.)
Dabei hatte ich eben genau dazu, dass sie nicht über meine gute Anlage spielen konnten, die Lautsprecher abgehängt.
Wir sind aber nicht nur umgezogen und haben uns beim Sperrmüll rumgetrieben. Und tote Katzen gefunden haben wir auch nur einmal. Nein, meistens haben wir Musik gemacht, und das nicht zu wenig. Mit Fantasy Factory haben wir uns so konsequent zwischen alle Stile gesetzt, dass die Stücke selbst heute nicht altmodisch klingen.
Aufgetreten sind wir auch, satt und nicht nur im Raum Heidelberg. Das erste Mal spielten wir im Collegium Academicum, einem selbsverwalteten Studentenwohnheim. Sowas gab es damals wirklich. Das wurde dann schnell aufgelöst. Nein, nicht weil wir da gespielt hatten.
Auch aus Trotz gegen die lokalpolitisch begründete Schließung dieses Quartiers der "Alternativen" Heidelbergs fand hier an seinem letzten Tag ein großes Abschiedsfest statt, und wer spielte da? Ich sagte ja schon; Fantasy Factory.
Bei diesem wundersamen und wunderbaren Auftritt waren wir wirklich froh, dass nicht schon die Polizei das Collegium Academicum stürmte. Denn Heidelbergs Bürgermeister hatte ein paar Hundertschaften kommen lassen, einschließlich SEK (Sondereinsatzkommando - das sind Anti-Terror-Einheiten mit Spezialausbildung und -rüstung). Die lernte ich erst am nächsten Tage kennen.
Ich kam, wie so oft, von der Probe mit Fantasy Factory, und ging durch die Stadt nach Hause. Der Uniplatz war voll mit ratlosen, hmm, Studenten? Der wurde damals gerade renoviert, jedenfalls lagen neue Pflastersteine palettenweise rum. Plötzlich Geschrei. Das SEK stürmte den Uniplatz. Ohne Schilde, dafür mit armlangen Schlagstöcken.
Und draufhauen, das hatten sie ausgiebig geübt. Schilde hatten die doch garnicht nötig, mit ihrer Nahkampfausbildung und ihrer absoluten Einsatzfreude. Ich jedenfalls verzog mich mit ein paar anderen Leuten schleunigst in ein Geschäft.
Wie Recht ich mit meiner Vorsicht hatte, wurde mir spätestens bewiesen, als ich nach einer Weile wieder rauskam: Draußen lag einer, der hatte einen ganz blutigen Kopf. Der Uniplatz war jetzt wie leergefegt von Leuten. Außenrum eine Kette SEK, und darum herum, ganz am Rand, die Leute. Und in der Mitte? Wer schrie da so verzweifelt? Zwei Polizeioffiziere, die unbedingt herausfinden wollten, wer das eigentlich befohlen hätte. Konnte ich ihnen auch nicht erklären.
Am Sonnabend danach hatten wir wieder Probe, und an diesem Tage hatten wir sie schon am frühen Nachmittag beendet. Ich musste ja auch noch Essen einkaufen für das Wochenende. Dazu musste ich auf der Alten Brücke über den Neckar in die Stadt. In der Hauptstraße konnte man ja alles und jedes kaufen, außer wahrscheinlich Autos und Plutonium.
Und hier war an diesem Nachmittag eine Demo, gegen die Schließung des CA (richtig: Collegium Academicum, und nicht, wie oft behauptet, Anarchisticum). Jedenfalls war die Straße voll mit Leuten, die nicht demonstrierten, denn das war verboten, und mit Polizei.
So viel Interessantes war überall um mich herum zu sehen, dass ich mich nicht gleich ans Einkaufen machte. Ich wollte ja auch mitkriegen, was an diesem Tage auf der Hauptstrasse so los war. Plötzlich Bewegung. Ein paar Polizisten rissen eine Frau mit einem Korb zu Boden. Ich rief laut: "Scheiße!" Der Herr neben mir richtete seine Augen streng auf mich und mir wurde zu spät klar, dass das ein Ziviler war. Gleichzeitig wurde mir das Anliegen der Niederwerfer klar: Aus dem Korb fielen eine Menge Flugblätter.
Jedenfalls war ich festgenommen und in die Heidelberger Hauptwache gebracht. Nein, erstmal in einen Polizeiwagen, wo mich die Polizisten ratlos fragten, warum ich denn hier sei. Der Zivile ging inzwischen wieder seiner draußen Arbeit nach. In die Hauptwache kam ich im Polizeiauto, und dort musste ich mir dann die Hose runterziehen. Durchsuchung.
Aber das war noch nicht alles. Danach wurde ich in einen Kleinbus verfrachtet, und ab ging es nach Sinsheim (im Craichgau, ca. 20 km entfernt von Heidelberg). Neben mir saß ein anderer Festgenommener, der panisch zerknüllte KBW-Plakate (KBW, das war der Kommunistische Bund Westdeutschland) an die Fensterscheiben hielt. So wurde es auf dem Weg ins Gefängnis nicht langweilig. Und dort musste ich erstmal den Gürtel losmachen von meinem Parka. Erhängen sollte ich mich ja nun nicht.
Dann diese Zelle! Scheiben kaputt und in der Mitte..., nein, kein Hocker, sondern ein Kübel. Der sah aus! Draufgegangen bin ich nicht. Musste ich auch nicht, denn vor zehn Uhr wurden wir entlassen. Wie der Polizei bekannt ist, gehen Chaoten nach zehn Uhr vielleicht noch saufen oder tanzen, zum Treiben ihres Unwesens sind sie so spät jedenfalls zu erschöpft.
Jetzt durften wir telefonieren. Irgendwie mussten wir ja auch wieder wegkommen aus dem Kraichgau. Zum Glück kannte der andere KBWler Genossen, die er anrufen konnte. Mit Erfolg. Kaum eine halbe Stunde später kam jemand, der uns in seinem Mercedes mitnahm. War eben gut durchorganisiert, dieser KBW.
Viele Jahre später, vor St. Winfried, musste ich an diese Nacht denken, als die Polizei mir Schutzhaft (oder auch Gewahrsam?) androhte. Nein, vom Knast hatte ich genug! Aber das würde, wie schon gesagt, viele Jahre später sein. Jetzt musste ich erstmal zurück nach Heidelberg.
In Heidelberg angekommen, gingen die Probleme erst richtig los: Ich hatte nichts zu Essen für das Wochenende, und es war Nacht. Zum Glück kannte ich eine WG (eine Wohngemeinschaft) in Rohrbach ganz gut. Da konnte ich jetzt vorbeigehen und nach Happa Happa fragen.
Gesagt, getan, und ich hatte Glück. Sie waren zuhause und hörten staunend meine Geschichte. Zu essen bekam ich auch, und natürlich könnte ich am Sonntag auch kommen. Denn ohne was zu futtern wird ein Sonntag nun mal nicht so richtig schön.
Meine meisten Zeit verbrachte ich natürlich nicht im Gefängnis, sondern viel öfter mit meiner Gitarre. Und wir, Fantasy Factory, spielten nicht nur in Heidelberg und Umgebung, sondern auch in Bonn und Rottweil und werweißwo. Die Rottweiler freuten sich, dass wir überhaupt noch kamen.
Hier kamen wir wirklich viel, viel zu spät zum Auftritt. Der Lastwagen, den wir gemietet hatten, fuhr plötzlich nur noch vierzig, und das ist auf dem Weg von Heidelberg bis weit hinter Stuttgart doch reichlich ätzend; wo man doch eigentlich auf der Autobahn mindestens 60 km/h schnell fahren soll.
Immer noch besser spät, als nie. Jedenfalls war die Halle, in der wir spielen sollten, schon gerammelt voll, und die Leute dort fanden uns dann echt gut. Weniger gut war die Massenschlägerei nach Schluß. Es ist nun wirklich nicht die reine Sahne, Verstärker und Boxen rauszuschleppen, und nie zu wissen, wann du wo einen in die Fresse kriegst. Ich hielt die Teile möglichst hoch, damit auch mein Gesicht geschützt war. Die meisten kloppten sich in dem Gedränge am Ausgang.
Und hier wurde ich aufgehalten. Ein Reporter schluchzte mich mit Tränen in den Augen an, und ich hörte mit schweren Lautsprecherboxen im Arm den Grund seines Betrübens: Das wäre doch eine so schöne Geschichte geworden mit Fantasy Factory beim Rottweiler Schulfest, aber die Schlägerei habe alles verdorben. Natürlich dürfe darüber nichts in der Zeitung kommen, und er sei ganz umsonst dagewesen. Ganz umsonst. Den ganzen Abend lang. Und das bei so einer schönen Geschichte.
Na ja. Bei einigen der schönsten Geschichten war er auch nicht dabeigewesen. Nicht bei den Matratzen vom Sperrmüll, bei der toten Katze und auch nicht in Bonn. Einfach zu viel getrunken hatte unser Sänger da. Das war uns in Bonn vom Nam Nam-Chef spendiert worden. Denn hier hatten wir sehr zur Zufriedenheit des Veranstalters gepielt.
Damit, dass kaum Zuhörer gekommen waren, schien er versöhnt. Es lag auch nicht an uns; er hätte nur vernünftig werben müssen.
Danach wurde es dann zum Problem, dass der Maurice nicht nur sang, sondern auch Lastwagen fuhr; der Lastwagen gehörte seinen Eltern. Lastwagenfahren musste dann ich. Noch heute höre ich Maurices besorgte Stimme vom Beifahrersitz, mit der er mich ermahnte, vorsichtig zu sein mit der Luftdruckbremse. Einen Lastwagenführerschein hatte ich übrigens auch nicht.
Unser letzter Auftritt war im Schwimmbad-Restaurant, das wir gut kannten. Schon zu seiner Eröffnung waren wir hier aufgetreten. Wenig später habe ich da gegen TRIO Kicker gespielt. (Trio? Richtig, Da Da Da, Du liebst mich nicht, ich lieb dich nicht). Trio luden mich dann nach Großenkneten ein.
Groupies hatten wir nie. Nur einmal eine, wohl unsere erste Sängerin. Aber wirklich nur, bis wir merkten, dass die nicht singen konnte - da nützten ihre recht ansprechenden Kurven auch nichts. Na ja, nach drei Proben und einem Auftritt war das klar genug. Und unsere späteren Sängerinnen waren da viel besser; die konnten wirklich singen. (Wir hatten also mehr als eine Sängerin. Aber hintereinander; immer nur eine auf einmal.)
Um hier Einwürfe moralisch besorgter Lesern zu vermeiden: Ich hoffe, wir sind uns einig, dass an gut aussehenden Sängerinnen nichts Verwerfliches ist. Weiterhin hatte an ihrer Wahl gewiss auch Anteil gehabt, dass wir eine Woche vor Auftritt plötzlich als unvollständige Band dastanden.
Auch wenn ich mich zu jener Zeit zuerst als Musiker verstand, geschah in meinem Leben gewiss noch allerlei Alltägliches und Absonderliches, was nichts mit Musik zu tun hatte. So zog ich ungefähr zur gleichen Zeit in eine WG; und zwar in die WG, die mich am Wochenende nach meinem Knastbesuch vor dem Hungern bewahrt hatte.
Und abends ging ich gerne einen trinken. Na ja, einen trinken? Eigentlich habe ich mehr getanzt. Aber auch das war nicht alles. An einem dieser Abende traf ich Angela. Was zuerst nach einer unverhofften Gelegenheit ausgesehen hatte, wuchs sich schnell zu einer beiderseits sehr lustvollen Verbindung aus.
Gut, dass wir auf Mahlzeiten doch nicht vollständig verzichten konnten. So haben wir uns dann immer doch noch aus dem Bett gequält; sonst hätten wir nachher wochenlang niemanden mehr gesehen - denn all meine genügend knappe "freie Zeit" widmete ich natürlich auch jetzt meiner Gitarre.
Eine wirklich scharfe Frau war Angela, und es wurde nie langweilig mit ihr. Tolle Reisen haben wir zusammen gemacht, zuerst nach Korsika und Lindenfels, dann in die Türkei, nach Persien und Indien. Daran kann ich mich gut erinnern. Diyarbakir, das Zentrum Türkisch-Kurdistans mit seinen Stadtmauern rundherum. Und obendrüber die riesige Militärbasis. Und Militärkontrollen alle Nase lang.
Einmal waren wir dort sogar im Circus, gleich vor der Stadtmauer. Was da für ein räudiges Tier gezeigt wurde, war nicht so genau zu erkennen. Ich glaube, die Circusleute merkten, dass wir das nicht so wahnsinnig gut fanden; jedenfalls baten sie uns, ihnen vorzutanzen.
Die Zuschauer, egal ob Kurden oder Türken, fanden uns total exotisch: Ein junger Mann mit langen Haaren und eine hellblonde Frau, die sich absonderlich vor ihnen bewegten. Das konnten nur Europäer sein. Mit begeistertem Beifall zeigten sie uns, dass das schon etwas anderes war, als das normale Programm hier.
Nach einer Weile zogen wir auch zusammen, mit ein paar anderen Leuten. Die Wohnung hätten wir uns nicht alleine leisten können, aber das größte Zimmer, das konnten wir uns schon leisten, wir beide. In dem Haus wohnten auch noch viele Amerikaner, und hier habe ich gelernt, was Kakerlaken sind. Wenn wir nachts das Licht anmachten und schnell zuschlugen, konnten wir viele kriegen, bevor sie weggekrabbelt waren.
Eine Amerikanerin wohnte bei uns, außerdem eine Italienerin und eine Chinesin. Und dann wohnte noch Hartmut da, der mir beim Getriebewechseln half (um ehrlich zu sein: ich war nur beim Einkauf mit dabei, auf dem Schrottplatz). Die Chinesin ließ mich nicht lange im Unklaren darüber, dass sie frigide war. Das fand ich schon schade, denn sie war schön, wie ich am Baggersee beim FKK-Baden sehen konnte, einfach schön. Also eine kam aus Amerika und je eine aus Italien und China. Und Angela? Sie kam aus Ostfriesland.

Ich möchte jetzt ganz deutlich aussprechen, dass meine im jetzt folgenden Kapitel aufgeführten Argumente in der noch auf ihre Verlegung wartenden Version von "…Niederschläge" noch erheblich überzeugender darauf warten, auch von Ihnen gelesen zu werden.

Ohne Hakenkreuz?

Rolands Angebot - oder soll ich besser sagen: Antrag - gibt mir zu denken. Wär ja wirklich ein Witz, so eine Wiederauferstehung. Aber immer kann ich wirklich nicht darüber nachdenken. Ich habe wirklich auch so genug zu grübeln. So prima geht es mir ja nun doch nicht.
Langsam wird mir nun ja immer klarer, daß ich früher mal wirklich gearbeitet habe. Wirklich, ich hab gearbeitet. Und das war wirklich ich. Entbürokratisierung. In der Welckerstraße. Mal gucken, was das für eine Telefonnummer ist.
Und dann war doch das mit den Chaoten. Chaoten? Nein, natürlich waren es Antifaschisten. Aber warum und wofür ich? Vielleicht muß ich ja wieder gutmachen, was meine Eltern oder Großeltern verbrochen haben? Oder doch ich? Immerhin war ich schon einmal ins Gefängnis gewofen worden, s. http://www.a-gr.net/CA-aus.html .
Einen bestimmten Grund muß es doch geben. Ein klarer Fall von Sippenhaftung. Ein klarer Fall?
Also. Ich habe mit einer Italienerin, einer Amerikanerin und einer Chinesin zusammengewohnt. In einem Zimmer zusammengelebt habe ich sogar mit einer Ostfriesin.
Einen Amerikaner hatte ich als Sänger, und mit einem anderen habe ich sooft am Neckar zusammen Gitarre gespielt, bis er aus der Armee flog. Vorher lud er mich noch nach Montana ein. 'Wär doch gut, wenn wir da auch zusammen spielen könnten. Und die Leute würden bestimmt drauf stehen. Und das waren noch lange nicht alle Amerikaner, mit denen ich zu tun hatte. Einer war Neger und Profischlagzeuger (sogar mit Stanley Clarke hatte er schon gespielt). Auch mit mir wollte er gerne spielen, aber es wurde nie eine Band aus uns (weil ich nach Indien reiste).
Aber ich habe aber nie nur Musik gemacht. Ich habe in Heidelberg auch in der Walnuß geholfen. Die Walnuß war die Teestube der Free-Clinic, und die Free-Clinic war ein Laden zur Rehabilitation von Drogenabhängigen. Und hier traf ich Micha. Micha war in Polen geboren. Er war Jude. Nein, Micha war nicht rauschgiftsüchtig, sondern er hat auch in der Walnuß mitgemacht. Müsli machen und Tee kochen. Und erstmal muß das Zeug ja mal eingekauft werden. Jedenfalls lernten Micha und ich uns ganz gut kennen. Er wäre nie auf die Idee gekommen, mich vom Fahrrad zu schmeißen.
Getrieben habe ich's mal mit einer Spanierin. Im Baggersee. Immer schön drauflos ganz nach dem Motto: Gluck Gluck Gluck! secht he und verswund.
Und die Sippenhaftung? Ich will ja nicht immer nur auf diesem tollen Reinhard - äh, bin ja ich - rumreiten.
Also. Meine Mutter hat im Krieg Abitur gemacht. Als Tochter eines diskriminierten Vierteljuden hatte sie nichts für die Nazis  übrig, und ihr war sehr früh klar, dass der Krieg verloren war.
Nach ihrer Flucht hat sie in Schafstedt Jüdinnen gepflegt. Das hatten die auch dringend nötig, dazu waren sie lange genug in der Ostsee rumgeschwommen. Unvorsichtigerweise waren sie mit der Arcona schiffgefahren. Unvorsichtigerweise? Na ja. Die Alliierten, und mir ist nicht klar, ob das die Engländer oder die Amerikaner waren, haben die Arcona in Grund und Boden bombadiert. Konnten ja nicht wissen, daß da Menschen drauf waren. Die dachten, das wären die üblichen Flüchtlinge. Jedenfalls pflegte meine Mutter in Schafstedt auch die Frau eines ihr bekannten Königsberger Arztes. Wieso meine Mutter ausgerechnet einen Königsberger Arzt kannte? Meine Mutter kam auch aus Königsberg.
Abitur gemacht hat sie natürlich nicht die ganze Zeit im Krieg. Gleich danach mußte sie noch zum RAD (Reichsarbeitsdienst). Dann hat sie im Memelland Heu geerntet. Ein tolles Gebläse gab es da auch. Das Neuste vom Neuesten. Damit bekamen die Arbeitsmaiden das Heu prima hoch in der Scheune.
Und mein Vater? Sind ja meist Männer, die Verbrecher. (Ich glaube, ich bereite mich seelisch besser schon mal auf einen geharnischten Protest von Alice Schwarzer vor.)
Jedenfalls war mein Vater unvorsichtig. Gleich nach seinem Schulabschluß meldete er sich mit seinen siebzehn Jahren zum Militär. Für das Militär wollte er doch später nicht sein Studium unterbrechen müssen! Mußte er auch nicht. Dafür mußte er lange warten, bis er halbtod wieder aus der russischen Kriegsgefangenschaft kam. Für Verbrechen hatte er in diesen Jahren auch nicht viel Gelegenheit. Denn er war vom ersten bis letzten Tage des zweiten Weltkrieges an der Front, wenn er nicht gerade verletzt war.
Als der Krieg zu Ende ging, lag er in Prag im Lazaret. Durch das Fenster konnte er schon die Amerikaner mit ihren Panzern näherkommen sehen. Vor der Tür hörte er das Geschrei der Tschechen, die alle verletzten Deutschen hier umbringen wollten. Zum Glück waren auch noch Slovaken da, die die Türen mit Gewehren bewaffnet bewachten. Also, so richtig klar kamen die Tschechen und die Slowaken ja schon damals nicht miteinander.
Und meine Großeltern? Den moralischen Ariernachweis habe ich so ja noch nicht voll. Und hier muß ich sagen, daß meine Großmütter (verzeih mir, Alice) mit meinen Großvätern mitgelaufen sind und nichts besonderes zu berichten ist. Nicht mal bombardierte Jüdinnen haben sie gepflegt.
Also: Der Vater meiner Mutter war arm dran. Er war Beamter, und darum wurde ihm zur Bekämpfung der Inflation das Gehalt gekürzt. Und später trater nie in die Partei ein (na klar, die Partei ist hier die NSDAP). Und solange er nicht in der NSDAP war, konnte er nicht mit einer Gehaltserhöhung rechnen.
Und das wäre auch nicht möglich gewesen, denn anders als Adolf Hitler hatte der Vater meiner Mutter zwar eine hervorragende militäriche Ausbildung, aber als Vierteljude musste er im 2. Weltkriege nie kämpfen.
Und mein anderer Großvater? Mit irgendwelchen Schandtaten hatte der nichts im Sinn. Rechtsanwalt Otto Gamme hatte genug damit zu tun, die deutschen Reparationsschulden wegen des ersten Weltkrieges zu regeln. Und das war mehr als mühselig, ja, es war tödlich. Am 15. 9. 1931 stürzte er in Rumänien auf einer Dienstreise ab und starb.
Die Reparationen blieben zu regeln. Das tat dann mein Vater viel später im Auftrage des Bundesfinanzministeriums in, ich glaube, der Laden hieß Villa Kastanien. Einmal nahm er mich mit dorthin. Was für eine langweilige, internationale Verhandlung mit den Vertretern der Entente! Ich hatte Mühe, nicht dazwischen zu rufen. Da waren seine Akten schon viel interessanter, mit den handschriftlichen Anmerkungen meines Großvaters.
Nun aber genug dergleichen. Nur für Sippenhaftungsfanatiker will ich kurz anmerken, daß die meisten meiner Urgroßeltern in Deutschlands finstersten Jahren schon tot waren, nur zwei Urgroßmütter waren noch nicht ganz so weit. Aber viel los war mit denen damals wohl auch nicht mehr.
Ich bin verwirrt. Sollten die Antifaschisten sich geirrt haben? Ich gestehe: Ich begreife ihre edle Handlungsweise nicht; ja, ich zweifele am tiefen Sinn ihrer Aktion. Vielleicht aber wollten sie sich ja vor allem gegen sehr persönliche Albträume wehren und haben dazu meiner Familie und mir unseren eigenen Albtraum beschehrt? Wer weiß? Vielleicht sind sie ja von den Erfahrungen mit ihren eigenen Vorfahren ausgegangen? Muß ja ungeheuer beruhigen, so ein Etikett "Antifaschist". Na ja, passen würde das. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
Und da ein Großvater Vierteljude war, jagte die Göttinger Antifa mit mir einen Menschen, dessen jüdischer Vorfahr 1944 unter den Nazis zu Tode kam - mein Ururgroßvater. Ausgleichdende Ungerechtigkeit? Von dergleichen Unsinn hatte ich ich nach meiner Familiengeschichte  mehr als genug und wollte mich nicht Gewalt beugen, die mich als Deutschen bedrohte. Ich  musste auf das Brutalste erfahren. dass mein Bundesland Nordrhein- Westfalen sich für klüger hält.
Vielleicht wird es aber auch Zeit, daß ich mir ein Hakenkreuz umhänge, bei solchem Unverständnis für die Motivation der Antifaschisten. Noch einmal muß ich glatt gestehen: Begreifen kann ich sie nicht. Andererseits: Die Polizei würde bestimmt nicht viele Tage warten oder erst eine Anzeige brauchen, um mich in den Kerker zu werfen bei einem solchen Verbrechen gegen die edelsten Anliegen unseres Volkes.
Aber bitte doch nicht Volk! Hier geht es doch um unsere politische Kultur und um Menschenrechte, und damit um höchste gesellschaftliche Werte! Allein die Benutzung einer völkischen Terminologie würde mir ja schon den Verfassungsschutz auf den Hals hetzen. Und im Gefängnis gäbe es bestimmt noch nicht mal Krankengymnastik. Und Monate und Jahre nur so einen Kübel zum Reinmachen - nein, Danke.

Auf der Schäl Sick

Aber allzuviel komme ich nicht zum Grübeln. Wäre ja auch ungesund. Daniel jedenfalls unternimmt energische Schritte dagegen, daß ich mich meinen Gedanken hingebe. Schon früh morgens, es ist noch finster, kommt er hastig in unser Zimmer getrappelt und erklimmt das Bett. Kaum hat er entdeckt, daß da, wo er sich hingeworfen hat, schon so ein Kerl liegt, ruft er entschlossen: "Geh da weg, Papa! Du sollst da weggehn!"
Und dreimal in jeder Woche habe ich Krankengymnastik. In Röttgen. Röttgen liegt auf der anderen, westlichen Rheinseite, hinter dem Venusberg. Auf dem Venusberg steht das Krankenhaus, in dem mein Vater gestorben ist. Jedesmal, wenn ich am Venusberg vorbeikomme, geht mir das durch den Kopf. Die Krankenhäuser da oben, also die Uni-Kliniken, liegen am Weg nach Röttgen und sind bei der Fahrt dorthin wirklich nicht zu übersehen.
In Röttgen selber hatte ich mal Gesangsstunden, als ich nach dem Stimmbruch wieder fit werden wollte im Singen. Natürlich wollte ich nicht mehr im Kirchen- oder Schulchor singen, und auch nicht mehr für Adenauers Geburtstag. (Leichen haben keinen, alles klar?) Und mit meinem Bariton könnte ich ja auch nicht mehr im Gassenbubenchor von Carmen singen. Aber in ´ner Band, das wäre echt gut. Echt, ej!
Aber das ist lange vorbei, jetzt fahre ich zur Krankengymnastik, mit dem Taxi. Mit einem KTS. Das Ding heißt Krankentransportschein und ist eine Art Rezept für zahlreiche Fahrten (ein SammelKTS, also). Und das gibt es beim Arzt. Da war ich natürlich schon vorher, sonst hätte ich ja keinen KTS. Wie er meinen Blutdruck gemessen hat, und wie lange er sich in die Reha-Befunde vertieft hat. Das ist ja geradezu ein Buch, diese Reha-Befunde. Denn die Reha, die ist ein wirkliches Ärzte-Nest, ungelogen. Eine ganze Horde Ärzte gibt es da, nicht nur KrankengymnastInnen, LogopädInnen, ErgotherapeutInnen und PsychologInnen.
Bevor ich zur Krankengymnastik fahren kann, muß ich erst zum Taxi runter kommen. Das geht bald schon ganz gut, wenn ich mich am Geländer festhalte. Na ja, Vera muß dazu den Rollstuhl einen Abssatz hochholen. Der steht unter der Treppe und nimmt ein paar Fahrrädern den Platz weg. Und dann nichts wie rein in den Rollstuhl und ab zum Taxi.
Die Taxifahrer sind ziemlich oft neugierig und wollen wissen, was mir denn eigentlich so fehlt. An diese Demo können sich die meisten noch ganz gut erinnern. Da hatten viele auch mächtige Schwierigkeiten mit ihren Fahrten. Meist bekomme ich dann interessante Geschichten zu hören. Aber auch die Strecke läßt diese Fahrten nicht langweilig werden: Über den Rhein, am Poppelsdorfer Schloß vorbei (ja, Hauptstadt war Bonn schon früher. Für die Kölner Kurfürsten) und hoch nach Röttgen. Und immer denke ich daran, daß hier mein Vater gestorben ist und ich dort Gesangstunden hatte.
Meistens sind die Taxifahrer dann ganz dankbar, wenn ich ihnen in Röttgen zeige, wohin genau es geht. Und ich werde langsam zum Fachmenschen für Fahrten mit KTS: Der Fahrer ruft die Zentrale an, gibt seine Nummer durch und bittet, ihn auf den KTS einzutragen. Denn der liegt schon in der Zentrale. Schlimm ist es nur, wenn ein angestellter Taxifahrer nicht mitbekommen hat, daß die Fahrt auf KTS geht. Wenn er dann sein Taxometer anstellt, muß er die angezeigte Gebühr an seinen Chef zahlen. Deswegen frage ich immer vor Fahrtantritt, ob er oder sie weiß, daß die Fahrt auf KTS geht.
Und gut genug sprechen kann ich inzwischen auch schon dazu. Klar, oft genug muß ich etwas zweimal sagen, bevor der Taximensch mich versteht; aber das ist ja wirklich kein Problem.
Manche Taxifahrer haben ernste Rückenprobleme. Kein Wunder bei dem ewigen Rumgesitze. Auch manche Taxifahrerinnen - aber bei weitem nicht alle - haben Probleme. Sie kriegen den Rollstuhl nicht so gut in den Kofferraum. Eine meint, ich hätte der Zentrale doch sagen sollen, daß bei der Fahrt ein Rollstuhl dabei ist. Habe ich ja schon. Ich kann nur nie sicher sein, ob das auch angekommen ist. Jedenfalls erkläre ich sicherheitshalber immer, wie so ein Rollstuhl zusammenzulegen ist. Die meisten winken ja lässig ab; aber: Sicher ist sicher. Einmal helfe ich sogar einer verzweifelten Taxifahrerin, die meint, ich solle doch besser auf einen Kollegen warten, den Rollstuhl in den Kofferraum zu hieven. Natürlich kann ich nur mit einer Hand helfen. Mit der anderen muß ich mich am Auto festhalten.
Also ran ans Taxi und erst mal klarstellen, daß die Fahrt auf Krankentransportschein geht, oder besser: Auf KTS; nur falls Sie Taxifahrer sind. Dann kurz erläutern, wie der Rollstuhl flachgelegt werden kann (muß ja meistens in den Kofferraum). Und ab über die Rheinbrücke und hoch bis nach Röttgen. Schnell noch zeigen, wo es hingeht. Ganz unauffällig. Der Eindruck, ich nähme an, Sie wüßten hier nicht Bescheid, ist vollkommen unzutreffend. Na klar ist das ganz klar, wo es hin geht.
Und schon geht es ab zur Krankengymnastikpraxis. Dabei muß mir natürlich der Fahrer helfen, ich muß ja irgendwie den Bürgersteig hoch. Aber wo die Klingel ist, weiß ich jetzt schon. Das ist alles Übung. Irgendwann irgendwie will ich ja schon mal wieder frei gehen können, auch ohne Rollator. Und schon garnicht mit Rollstuhl. Auf den kann ich nun wirklich verzichten. Ohne Probleme. Nur jetzt, da brauche ich ihn noch. Na ja, richtig gut werde ich wohl nie mehr im Skifahren.
Auf jeden Fall höre ich nun schon dieses Summen im Türschloß. Jetzt aber auf die Tür! Kurzer Blick: Die Frau mit den dicken Unterlagen ist nicht meine Krankengymnastin. Kenne ich nicht. Wahrscheinlich eine Kollegin. Und da kommt auch schon die Richtige. Nun aber gut aufpassen, in welches Zimmer wir gehen. Aha. Dasselbe wie vorgestern. Und gut aufpassen bei der Tür. Ich will ja nicht mit dem Rollstuhl dagegenkrachen.
Jetzt aber äußerste Konzentration. Geht es auf die Matte, die Liege oder an die Sprossenwand? Möglichkeiten gibt es viele. Meine Körperhaltung und -bewegungen will ich schon gerne wieder stabilisieren. Rangehn, rangehn! Und auf keinen Fall schlapp machen! Vielleicht komme ich ja auch wieder auf einen Ball. Gar nicht so einfach, auf so 'nem Ball sitzen und nicht runterfallen.
Eine Stunde KG ist meistens erstaunlich schnell vorbei, wieder und wieder. Und das sollen 60 Minuten sein? Kommt mir garnicht so lange vor. Also ich wieder die Schuhe an und auf den Flur. Kann ja nicht lange dauern, bis das Taxi da ist. (Erstaunlich, wie lange so ein "nicht lange" dauern kann.) Und dann geht es ab. Wieder zurück auf die Schäl Sick.
Die Schäl Sick, aber, was ist denn das? Eine solche Unsicherheit stellt Sie eindeutig bloß: Bonner oder Kölner sind Sie nicht. Also: die Schäl Sick, das ist doch ganz klar. Natürlich. Welche Seite könnte denn schäl sein? Was? Sie wissen nicht mal, was schäl ist? Noch nie Witze von Tünnes & Co gehört? Na also. Das heißt also, daß er schielt. Und die Schäl Sick schielt auch. Das ist die andere, die östliche Rheinseite.
Na ja, so schlimm ist es ja garnicht, daß sie das nicht wußten. Für Sie nicht. Peinlicher war es für die SED. Die hätten sich das Märchen mit ihrem Antiimperialistischen Schutzwall echt sparen können. Hat sowieso keiner geglaubt. Nicht in Köln oder Bonn jedenfalls. Die wären doch nie freiwillig in der Schäl Sick einmarschiert. Wo ich zugegebenerweise sogar vollkommen freiwillig wohne. Und ganz so schlimm ist es hier nun doch nicht. Sogar ganz schön, eigentlich. Selbst die Friedhöfe hier.
Aber die hab ich ja jetzt erst mal verpasst. Deswegen muß ich ja auch zur Krankengymnastik. Und zurück. In die Wohnung und zu Frau und Kindern. Und zur Psychologin. Nein, eine Psychologin ist sie natürlich nicht, die Frau Große-Oedler. Sie ist Neurologin, und das heißt: Sie ist eine Nervenärztin. Zu ihr soll ich schon in wenigen Tagen! Hoffentlich kann sie mir helfen. Schließlich will ich irgendwann wieder fit werden mit der Musik; wieder Gitarre und Saxophon spielen können. Das ging doch mal wirklich gut, wenn ich meinen Kassetten trauen darf. Und unsere Stücke waren auch gut.
Aber viel Arbeit wird das bestimmt. Wenn es überhaupt mal irgendwann wieder richtig klappt. So ganz sicher ist das ja nun nicht. Jedenfalls fange ich bald an, mehr und mehr zu üben. Eine Stunde Gitarre und... Halt, das Saxophon muß erst noch repariert werden. Eine Klappe klemmt. Das Saxofon muß nach Rheidt jetzt, ist doch klar. Nach Rheidt? Nach Rheidt, wohin denn sonst, zu diesem Saxophonheini.
Zu so einem Saxophonheini muß jedes Sax früher oder später. Meines jedenfalls war schon früher bei Anton G. So steht dieser Knabe wahrhaftig im Telefonbuch; und Vera weiß, wo er zu finden ist. Die Reparatur dauert voraussichtlich zwei Wochen, jedenfalls bekommt Vera dies so erzählt und so erzählt sie es mir. Nach zwei Wochen rufe ich vorsichthalber erst mal an, und richtig: In einer Woche kann ich vorbeikommen. Dann rufe ich aber vorsichtshalber lieber nicht mehr an.
Stattdessen fahren wir nach Rheidt, Vera, mein Rollstuhl und ich. Im strahlenden Sonnenschein über die Sieg (die Sieg ist für einen Bach zu groß und zu klein für einen Fluß). Irgendwie kommt mir der Weg ja bekannt vor; die Felder und Weiden, die Bäume im Überschwemmungsgebiet um die Sieg herum, und diese Gaststätte am Siegufer. Da waren wir ja auch schon oft. Diesmal aber fahren wir über die Siegbrücke und die Schnellstraße weiter durch Mondorf bis Rheidt. Und da muß es doch irgendwo rechts abgehen. "Am Schildchen heißt das", meint Vera. "Pass auf, wo Du das siehst!"
Das ist ja wirklich nicht zu verfehlen; es geht gleich von der Straße ab, auf der wir gekommen sind. Und viele Stufen müssen wir auch nicht hoch, kein Problem mit dem Rollstuhl. Der Laden ist offen und mein Saxophon fertig. Prima. Sogar geschmiert sind die Mechaniken, bloß der Preis! Über 200,- DM für eine Klappe! Da ist ja gut, daß wir überhaupt so viel Geld mithaben.
Mit der Rückfahrt läuft dann auch alles glatt, und das hat Folgen: Ich kann jetzt wieder auf meinem Saxophon spielen (Zuhause, natürlich). Da war ich ja garnicht so sicher. Auf dem Sax kommt mir das Spielen sogar leichter vor, als auf der Gitarre. Dabei war Saxophon doch immer nur mein Zweitinstrument, das ich erst ungefähr seit der Zeit spiele, als ich bei Fantasy - Factory raus bin. Klar, so richtig genial ist mein Getute nicht, aber daß ich überhaupt noch spielen kann... Endlich!
Auch ein paar Texte will ich nun endlich wieder lernen. Texte kannte ich früher haufenweise, doch die liegen jetzt unter den Trümmern meines Hirns begraben. So muß ich nun die allermeisten neu raushören, und dazu muß ich sie erstmal auf Kassette aufnehmen; meine Hände sind zu unsicher, zum Plattenauflegen, ich habe doch keine Lust, meine Schätzchen zu zerkratzen. Außerdem hängt mein Plattenspieler so hoch, daß ich aufstehen müßte, um eine Platte aufzulegen. Aufstehen, mit einer Platte in der Hand? Nein danke!
Aber mit Veras Hilfe beim Plattenauflegen ist es zu schaffen, schon bald kritzele ich wieder herausgehörte Texte auf. Natürlich muß ich auch noch ein paar Akkorde raushören, denn alles kann ich nun wirklich nicht mehr. Und dann geht es ans Üben, eine Stunde Gitarre, eine halbe Saxofon. Jeden Tag. Mal sehen, ob das was bringt. Anstrengend genug ist es jedenfalls, und lange genug wird es bestimmt auch dauern.
Vielleicht kann mir ja auch Frau Große-Oedler helfen. Weiß ja nicht so genau, was die Ärzte so alles draufhaben., und schon beim Abschied aus der Reha war mir geraten worden, mich von einem Neurologen (ja, oder einer -in!) behandeln zu lassen; Frau Große-Oedler ist Neurologin.
Und dann ist der Termin bei der Nervenärztin fällig. Vera fährt, denn das kann ich ja nicht mit meinen Reaktionen oder mit dem, was davon noch überig ist. Schade. Früher war ich mal prima am Kicker (So nannten wir den Tischfußball). Und richtig auf Gas und Bremse treten kann ich ja nun auch nicht mit meinem rechten Fuß, schon garnicht mit dieser Schiene, die das rechte Bein ein bißchen stabilisieren soll. Aber hinkommen muß ich zu Frau Große-Oedler, so oder so.
Und jetzt bloß nicht die Hoffnung aufgeben auf einen Parkplatz. Denn viel Hoffnung ist jetzt wirklich dringend nötig. Ist da nicht einer? Aber der ist für Schwerbehinderte, und einen Ausweis dafür habe ich noch nicht. Die Täter sind ja noch unbekannt. Und so schön ist ein Knöllchen nun auch nicht.
Aber da hinten ist ja ein Parkplatz! "Guck doch mal, da hinten!" "Ob ich da reinkomme?" Reinkommen ist ja wohl drin, aber dann Daniel rausheben, ohne das Nachbarauto zu verkratzen? Und ich kann ja nicht helfen dabei. Wir wagen es. Schließlich wollen wir Frau Große-Oedler nicht unnötig lange warten lassen. Während ich mich in Richtung Kofferraum vorarbeite und mich dabei immer mit den Händen auf unserem Wagen abstütze, holt Vera den Rollstuhl raus. Und ich falle hinein. Endlich.
Jetzt aber über die Straße! Daniel kommt an die Hand, ich trippele im Rollstuhl rüber, und alles geht glatt. Gottseidank. Jetzt muß Vera Daniel loslassen, denn ohne ihre Hilfe komme ich nicht auf den Bürgersteig. Das wäre auch geschafft. Und jetzt noch um die Ecke... "Daniel, kommst du wohl her! Du darfst nicht einfach alleine auf die Straße laufen. Komm sofort her!"
Aber da ist ja schon die Klingel. Dr. Große-Oedler, Fachärztin für Neurologie. Gleich draufdrücken. Und es dauert nicht lange, bis der Türöffner summt. Nur eine Stufe, und wir sind im Hausflur. Und da gleich rechts ist ja der Aufzug. Verdammt eng, ob ich da reinkomme mit dem Rollstuhl? Und Vera? Und die Kinder? Scheint glatt zu klappen mit ein bißchen Quetschen.
Und schon geht die Tür auf. Wir sind da! Bei der Anmeldung, zumindest. Die Praxis ist hinter einer Milchglasscheibe. "Möchten Sie ins Wartezimmer? Gleich hier vorne rechts? Und wollen Sie auf einen Stuhl?" Klaro will ich das. Hoffentlich müssen wir nicht so lange warten. Das ist ja nun nicht so schön mit den Kindern. Und auf eine Überdosis "Frau Im Spiegel" kann ich auch verzichten.
Aber zum Glück müssen wir nicht lange warten; Termin ist Termin. Schon bald kann ich zu Frau Dr. Große-Oedler. Vera auch, und angenehmerweise dürfen sogar die Kinder mit. Und schon stellt Frau Dr. Große-Oedler Neurologen-Fragen: Ob ich denn mit Appetit essen könne? Da kann ich sie zum Glück beruhigen. Und wie es denn mit meinem Gedächtnis so klappe? Da bin ich mir unsicher. Ich kann mich ja nun nicht an alles erinnern, was ich so vergessen habe. Aber hier kann uns Vera beruhigen: Ich vergäße wirklich genug.
Nach einem intensiven Gespräch sind wir froh, daß die Kinder kein Unheil angerichtet haben. Und bald geht es wieder in dem engen Aufzug runter und auf die Straße. "Komm bitte an die Hand, Daniel!" Und schnell rüber, "Augen links, Augen rechts!" Das wäre geschafft. Bis zum Auto komme ich alleine hin; dazu muß ich ja nicht den Bürgersteig hoch. Und dann durch zwischen den Autos, und nur aufgepasst, daß ich beim Einsteigen die Türe nicht gegen das Nachbarauto knalle. Und mit dem Rollstuhl, zusammenlegen und in den Kofferraum, damit hat Vera schon Übung.
Zuhause angekommen, können wir uns über den neuesten Hochwasserstand informieren. Der Blick aus dem Küchenfenster läßt keinen Zweifel offen: Jawohl, Schäl Sick. Das Feld da unten ist ein alter Rheinarm und total überschwemmt. Vielleicht kann ich jetzt ja schon bald erfahren, wie das so wird mit meinem Rollstuhl im Gummiboot. Die neuesten Hochwassermeldungen sind jetzt wirklich spannend.
Auch für Vera. Die hat ja nun wirklich schon genug am Hals; zum Beispiel mich. Ihr Studium ist jetzt schon eine lange Weile total flachgefallen. Das ging nun wirklich nicht bei ihren Besuchen im LKH und in der Reha, jeden Tag. Und jetzt bin ich auch noch zu Hause. Leichter wird es dadurch ja auch nicht so richtig für sie.
Und wie sie mich am Hals hat. Nicht nur, daß sie mitmuß, wenn ich irgendwo hin will, und sei es auch nur das Nachbarzimmer. Denn richtig sicher bin ich noch nicht mit diesem ollator. Das wäre wirklich zu gefährlich alleine. Da will sie doch nicht auch noch mein Blut und meine Zähne wegputzen müssen; bei allem Fleiß, das wäre zuviel. Und so ganz klar bin ich ja nun auch noch nicht wieder; manchmal kommt es Vera vor, als ob sie einen ziemlich schlechten Tausch gemacht hat: Ihren Mann gegen noch ein Kind.
Nicht mal was einkaufen kann ich noch selber, auch wenn ich das schon mal in der Übungswohnung geübt habe. Im Rollstuhl geschoben von Frau Nettekoven; und aus dem Keller müßte Vera den jetzt auch hochgeschleppen dazu. Davon, daß ich alleine die 800 m bis zum Supermarkt oder sogar die Strecke bis zum Bäcker schaffe - und natürlich zurück, kann ich noch nicht einmal träumen.
Das tägliche Rumgegurke hin zur Reha und zurück war ja nun wirklich schwer genug für Vera, aber wenigstens war ich versorgt. Aber das ist nun vorbei. Nun hat Vera alles alleine am Hals. Ohne Hilfe. Und die könnte sie langsam sehr gut gebrauchen. Denn auf dem Zahnfleisch, da läuft sie inzwischen herum, und grübelt: Wenn ich nicht mehr kann und zusammenbreche, dann komme zur Abwechslung mal ich in die Reha. Da würde dann gut für mich gut gesorgt, sehr gut und sehr teuer. Wäre es da nicht besser, wenn ich vorher etwas Hilfe bekäme? Viel besser und viel billiger?
Auch für Konrad und Daniel ist es nicht ganz so einfach, daß ich jetzt (wieder) bei ihnen lebe. Daniel muß sich erst einmal langsam, ganz langsam daran gewöhnen, daß dieser Reinhard sein richtiger Vater sein soll. Bewußt kennt er mich ja nur von seinen Besuchen im LKH und in der Reha, nur in letzter Zeit auch von den Wochenenden, wenn ich mal nach Hause kam.
Für Konrad ist es aus einem ganz entgegengesetztem Grunde jetzt auch nicht gerade leicht; gerade, weil er mich auch ganz anders kennt. Natürlich muß er ausprobieren, wo er mit mir dran ist, und ob er mich noch als Vater ernstnehmen kann. Ihm fallen wirklich viele Möglichkeiten ein, das zu testen. Erstaunlich viele, und schnell merkt er, daß ich nicht so schnell hinter ihm her kann und keine Chance habe, ihn einzuholen.
Was also bleibt mir übrig, als Konrad im Zweifel festzuhalten? Anschreien oder schlagen finde ich ja nun auch nicht so schön. Aber so richtig gut ist das mit dem Festhalten auch nicht. Vielleicht regele ich auch nicht immer alles perfekt, Konrad schreit jedenfalls ängstlich, und Vera meint: "Merkst Du eigentlich nicht, daß Konrad einen Knacks bekommen hat? Er hat gerade so ängstlich gejammert und geschrien. Fällt dir da nichts anderes ein, was du tun kannst?"
Aber zum Glück gibt es auch noch andere Dinge im Leben. Es dauert nicht lange, und es ist Heiligabend. Aus Köln kommen Schwiegermutter und Schwiegervater. Sie haben Geschenke mitgebracht, für Vera, auch von mir, für mich, und auch für Konrad und Daniel, ihre Enkel. Aber erstmal geht es in die Kinderchristmette. Die ist in St. Joseph.
Woraus leicht zu ersehen ist, daß dies ein katholischer Gottesdienst wird. Katholisch? Meine Mutter war doch Presbyterin. Überhaupt haben meine Eltern ihren Glauben sehr ernst genommen, genau so, wie dies Veras Eltern tun. Früher wäre eine - wie unsere - gemischte Ehe nur schwer möglich gewesen. Ich erinnere mich nur zu gut, was das für Prügeleien gab, wenn sich Evangelische und Katholische im Schulhof auf die falsche Seite verirrt hatten.
Aber Veras Eltern waren tolerant. Meine auch. Vielleicht meinten sie ja, jetzt nach dem Dritten Reich sei doch mehr Toleranz angesagt. Möglicherweise aber hatten sie auch noch andere Gründe. Vera und ich wollten ja eigentlich erst mal nur ein Kind miteinander produzieren, und ihr Bruder hatte uns sein Schlafzimmer dazu zur Verfügung gestellt. Es wurde auf Anhieb ein voller Erfolg. Konrad war schon auf dem besten Wege. Unübersehbar. Jedenfalls hatten unsere Eltern nichts dagegen, daß wir heirateten, als wir dann auch dadrauf kamen.
Aber Weihnachten hin, Kinderchristmette her, ganz so einfach ist es grade jetzt nicht, bis zur Kirche zu kommen. Viele Parkplätze in ihrer Nähe sind überschwemmt. Und wo wir schließlich doch einen finden, ist der Bürgersteig naß von Wasser, das gurgelnd aus dem Keller gepumpt wird. Jetzt aber genug mit dem Gegurgel! Wir müssen jetzt erst mal in die Kirche. Konrad und Daniel sind glücklich, als auch Oma und Opa bald auftauchen. Denn die haben glücklicherweise einen Parkplatz nur ein kleines Stück weit weg gefunden.
Nun aber erst mal die Stufen zum Eingang hoch! Ich halte mich am Geländer fest und Vera trägt den Rollstuhl. Der Mittelgang der Kirche ist zum Glück breit genug. So kommen die Leute dort gut auch dann noch durch, wenn da mein Rollstuhl steht.
Ganz katholisch ist der Gottesdienst übrigens nicht. Er ist ökumenisch, leicht zu erkennen an zwei Priestern und einer Pfarrerin, die ihn zusammen halten. Das heißt, sie wechseln sich ab. Überhaupt ist hier ja vieles geradezu modern. Nicht nur die Übertragung der Worte der Geistlichen über Lautsprecher, sondern auch die Anzeige der nächsten Lieder, die hell an den Wänden aufleuchten. Das war doch früher ganz anders; als ich mal Urlaubsvertretung für unseren Küster gemacht habe, mußte ich Plastikziffern in Gestelle klemmen. Und schon wird die Weihnachtsgeschichte von Kindern nachgespielt.
Auch am Schluß des Gottesdienstes kommen die Leute zum Glück ganz gut an meinem Rollstuhl vorbei. Natürlich müssen sie schon drumherum. Und die Kinder, dem Himmel sei Dank, waren auch die ganze Zeit brav. Auch nicht schlecht. Wir jedenfalls warten erst mal, bis die meisten Leute draußen sind. Aber - wie soll ich denn Kollekte spenden, ohne Portmonaie? Sowas trage ich ja schon seit ein paar Monaten nicht mehr bei mir, seit... (Sie wissen schon).
Jetzt aber langsam ab nach Hause! Die Kinder freuen sich schon auf ihre Geschenke. Und Veras Eltern sollen nicht so lange auf uns warten müssen. Immerhin sind sie extra von Köln gekommen, um mit uns zu feiern. Und ich bin stolz auf den Weihnachtsbaum im Wohnzimmer. Natürlich habe ich ihn nicht aufstellen können, aber beim Schmücken geholfen habe ich schon. Also raus aus der Kirche und runter die Treppe (Der Rollstuhl kommt vor mir an). Wo wir hinmüssen, ist leicht zu erkennen. Das Gurgeln der Pumpe, die den überschwemmten Keller leerpumpt, ist unüberhörbar. Kennen wir auch schon vom Aussteigen. Nun aber rein ins Auto! Daniel auf seinen Kindersitz und der Rollstuhl in den Kofferraum. Und bald sind wir schon in der Rilkestraße.
Und hier mit dem Rollstuhl ins Treppenhaus und die Treppe hoch. Aber lieber gut aufpassen , und nicht ganz so schnell; sicher ist sicher. Das wäre ja ein Weihnachten! Der Rollstuhl kommt wieder unter die Treppe, wie immer. Wir kommen gut hoch, und Daniel will ausnahmsweise mal nicht hochgetragen werden. Sogar als erste zuhause angekommen sind wir.
Oben in der Wohnung habe ich dann den Rollator und kann damit sicher die Couch erreichen. Kein Problem. Es klingelt. "Das sind bestimmt Oma und Opa!" Sonst ist ja auch niemand zu erwarten. Und wirklich, sie sind es. Und mit viel Gepäck. Das müssen wohl die Weihnachtsgeschenke sein. Jedenfalls jetzt sind sie da. Es kann losgehen.
Wir beginnen mit Liedersingen. Die Kinder wollen natürlich erst mal etwas ganz anderes: Schließlich ist Weihnachten, und da sind doch wohl die Geschenke das Wichtigste! Aber ein paar Lieder kriegen wir schon hin. Natürlich müssen wir erst mal testen, welche Lieder die Kinder auch kennen. Sogar ich kann auch mitsingen, natürlich nicht ganz so sicher, wie früher, aber immerhin. Gesungen habe ich ja schon seit Mai nicht mehr.
Dann kommen die Geschenke an die Reihe. Wie gut, daß Veras Eltern ihr auch in meinem Namen Geschenke besorgt haben. Ganz schön wichtig für mich, denn alleine hätte ich das nie geschafft. Natürlich hätte ich mit ihrer Hilfe auch Geschenke für sie selbst kaufen können, aber das wäre echt ätzend gewesen. Ich soll mich im Auto hinfahren und dann ins Geschäft schieben lassen? Herzlichen Dank. Angekotzt hätte mich das.
Nach der Bescherung gibt es dann auch noch zu essen. "Guten Appetit, und gesegnetes Fest!" Die Kinder jedenfalls sind erstaunlich ruhig. Erst so schöne Geschenke, und dann auch noch so viel Gutes zu essen. Anstrengend ist das.
Auch die schönsten Feste haben ein Ende, und Veras Eltern müssen ja noch nach Köln. Das sind fast dreißig Kilometer. Und schließlich muß auch ich irgendwann schlafen. Deshalb ist es für mich ein Glück, daß sie nicht ewig bleiben, meine Schwiegereltern.
Allzulange dauert es dann nicht, bis wir uns wiedersehen. In Brauweiler. Da wohnt Veras Bruder, und seine kleine Tochter wird getauft. Das ist jetzt so langsam auch Zeit, ein halbes Jahr ist sie bestimmt schon alt; und für mich ist es die erste Taufe in meinem neuen Leben.
Das wird eine Fahrt; für mich jedenfalls, wo ich doch kaum noch wo hinkomme! Über die Autobahn Richtung Köln - natürlich erst, wenn der Rollstuhl eingepackt ist. Und da, etwa auf der halben Strecke, kommt Wesseling. Wesseling mit seinen Riesen-Raffinerien, wo die Flammen aus den Schornsteinen schlagen und unzählige Laternen ihr Licht verbreiten, nicht nur nachts. Ist ja doch schön, das mal wiederzusehen. Gewiß, Umweltschutz ist was anderes, aber ich kenne das schon so lange und war doch in meinem zweiten Leben noch nicht wieder hier.
Und dann um Köln herum Richtung Aachen. Dorthin geht es ganz kurz vor dem Kölner Verteilerkreis ab. Wie immer hier - und jedenfalls jetzt - kommen wir kurz danach an der Ausfahrt vorbei, wo es zu dem Baggersee mit diesem Studentenwohnheim daneben geht. Hier habe ich mal gebadet, und da bin ich mal aufgetreten. Wenn ich bloß noch genau wüßte, ob es an der Ausfahrt da vorne oder wo eigentlich sonst das war!
Nur eins ist ganz klar: Brauweiler ist von hier aus nicht mehr weit, und bald sind wir schon angekommen und melden uns. Wir alle; nicht nur Vera und die Kinder, nein, auch der Rollstuhl und ich. Zarah meldet sich nicht; sie ist ohnehin schon hier. Schließlich geht es um Zarah. Auch Oma und Opa sind schon hier. Zum Glück ist es nicht so weit zur Abtei, so eine kurze Strecke schaffe ich wirklich auch mit dem Rollstuhl ganz gut, und ich kenne sogar noch dem Weg, so ungefähr. War ich mir nicht richtig sicher drüber, vorher.
Darum brauchen wir für den Weg nicht lange. Die Abtei ist wirklich schön, nicht so ein Neo-Dingsda. Es sind eine Reihe Täuflinge und noch mehr Verwandte gekommen, denn dies ist ein Taufgottesdienst. Von Zarah sind auch eine ganze Reihe Verwandte da, die mich zum Teil kennen. Ich bin leider oft unsicher, wen ich nun eigentlich kennen müßte und wen nicht. Natürlich nicht bei allen. Zarah jedenfalls kann ich noch nicht kennen. Als sie geboren wurde, war ich weg vom Fenster. Nun endlich lerne ich also meine Nichte kennen.
Nach der Taufe versammeln sich Familien und Freunde der Täuflinge vor der Kirche. Ein paar Blitzgeräte legen los. Mir wird nicht so recht klar, wozu das gut sein soll; schließlich ist es heller Tag. Nach der Fotoorgie machen wir uns allmählich in Richtung Zarahs Zuhause auf den Weg, wir, Zarah und ihre Sippe und die versammelten Freunde. Zarahs Sippe, das sind natürlich erstmal ihre Eltern, also Veras Bruder Michael und seine Frau, Zarahs eigener Bruder, ihre Großeltern und damit gleichzeitig die von Konrad und Daniel, und wir. (Ich will hier mal gnädig sein und Ihnen weitere Ausführungen ersparen.)
Der Rückweg ist zum Glück nicht weiter als der Hinweg, also gut zu schaffen. Schon bald treffen wir alle uns im Wohnzimmer von Michael und Petra wieder. Ins Haus hilft mir angenehmerweise Michael. Er trägt den Rollstuhl die drei Stufen zur Wohnung hoch und ich hangele mich ein paar Schritte an der Wand lang. Eins allerdings ist schade: Ich soll wegen meiner angeschlagenen Gehirnzellen weder Bier noch Wein trinken. Schade, sogar sehr schade. Wozu soll denn dann die ganze Taufe noch gut sein?
Michael jedenfalls erzählt stolz, was er wieder so alles renoviert hat. Er hat ja wirklich ein Händchen vom Feinsten. Und er nimmt mich beiseite und sagt, er habe für mein Mischpult einen Koffer gebaut. Gebrauchen können habe er es ganz gut. Hä, Mischpult? Mein Mischpult?
Ach ja. Ein Achtkanal-Mischpult mit eingebauter Endstufe. (Für die Laien unter Ihnen, falls es welche geben sollte: Hier geht es um Musik. Die Signale aus verschiedenen Quellen, wie z. B. Mikrophone, werden gemischt, z. B. für Platten-Aufnahmen oder bei größeren Konzerten. Meines hat einen eingebauten zwei mal 200W-Verstärker, ist also Stereo. Ich habe mir inzwischen erzählen lassen, daß es sehr gut sei. (Aber fragen Sie mich bloß nicht, wie es eigentlich heißt, bisher habe ich noch kein einziges Mal darüber gespielt.)
Eine wirklich schöne Taufe. Bei diese Gelegenheit erfahre ich also nicht nur, daß ich ein Mischpult habe, sondern auch, wo es denn ist. Interessant. Und ein bißchen Bier gibt es auch für mich; aber nur ein halbes Glas. Wirklich.
Das ist ja echt schön, aber eine neue Wohnung brauchen wir trotzdem. Dieser Rollstuhl unter der Treppe, wo er den abgestellten Fahrrädern der Nachbarn den Platz wegnimmt, ist ja nun wirklich nicht so gut. Und dann im Bad den Klappstuhl aufstellen, damit ich mich wenigstens waschen kann - da könnte ich mir auch was besseres vorstellen.
Und dann dieser neue Brief, dieses neue Angebot vom Derr-Projekt... Na ja, einmal muß es ja irgendwo klappen. Wir sehen uns also schon wieder eine Wohnung hier an. Die ist zwar im ersten Stock, aber das ist mit dem Aufzug in diesem Haus egal. Sechs Stufen hoch muß ich hier auch schon zum Parterre. Das schafft Vera. Ganz bestimmt schafft sie das. Übung wird sie ja schnell genug bekommen.
In der Rilkestraße gefällt es uns zwar besser, aber in der uns angebotenen Wohnung gibt noch einen Raum mehr, ganz abgesehen von den Vorteilen eines Aufzuges. In den Raum mehr kann ich dann endlich alle meine Bücher und meinen PC reinstellen. Im Keller stehen sie ja doch nur vereinsamt rum, und hier käme ich wenigstens auch mal dran. Hat ja schon seine Vorteile.
Und darum haben wir uns haben zu einem Umzug entschieden, obwohl Konrad bestimmt die Nachbarkinder vermissen wird, die so ziemlich jeden Tag vorbeikommen, meistens ein paar Mal. Deshalb reißen wir den nächsten Brief vom Derr-Projekt schnell auf, und sogar eine Zusage bekommen wir! Länger als ein paar Tage hat die Antwort diesmal nicht gedauert: JA. Wir können die Wohnung kriegen. Natürlich sind wir sehr froh, aber ein bißchen anders, als alle unser Umzüge bisher, und ein Schritt ins Unbekannte, weg von unseren Freunden nebenan, wird dieser Umzug schon.
Immerhin liegt die neue Wohnung nur etwa 300 m vom Supermarkt weg. Finde ich ja schon gut, selbst wenn ich gerne in der Rilkestraße wohnen bliebe. Von da aus kann Vera dann viel bequemer einkaufen. Vera; und selbst ich kann nun davon träumen, daß ich es vielleicht noch mal bis zum Supermarkt schaffen werde; irgendwann, irgendwie.
Irgendwann vielleicht schon. Auch deshalb ist dieser Umzug sinnvoll. Na klar, mit dem Rollstuhl werde ich es wohl nie vor die Türe schaffen, ohne Unterstützung. Aber falls ich noch mal ein großes Stück fitter werde beim Rumwanken, bringe ich es vielleicht sogar mal fertig, den Rolator mit einer Hand rauf und runter zu hieven; mit der anderen muß ich mich natürlich solange am Treppengeländer festhalten. Und dann, ist ja möglich, rein theoretisch, werde ich es vielleicht doch noch mal selber bis zum Geschäft schaffen.
Es ist mein und unser erster Umzug mit Hilfe von Möbelpackern. Früher konnte ich ja selber schleppen, und bei ganz schweren Sachen haben schon ein paar Freunde mitgemacht. Mit dem Rollstuhl geht das natürlich nicht, da ist es wirklich das Höchste, ein paar Bücher aus oder in Schränke und Regale räumen zu helfen. Zum Glück helfen uns unsere Freunde diesmal, schon mal das Linoleum zu verlegen, wo Möbel draufkommen sollen. Das und ein paar Teppiche haben wir natürlich vorher gekauft.
Und dann kommt der entscheidende Tag, die Möbelpacker kommen um neun Uhr. Sind die Schränke leer? Sind alle Bücher in Kisten gepackt? Ist die Waschmaschine abmontiert? Veras Bruder Michael hat ein Meisterstück abgeliefert: In der neuen Küche sind schon Spüle und Herd aufgebaut und angeschlossen. Also, umziehen können wir. Die Möbelpacker können ranklotzen. Na ja, ein bißchen nehmen wir selber mit. Auf den Rollstuhl wollen wir lieber nicht warten müssen, bis irgendwann auch die Möbelpacker anrücken. Kein Problem. In den Kofferraum paßt er locker, natürlich zusammengeklappt.
In nicht mehr als fünf Minuten sind wir da; wir ziehen ja nur etwa 500m um. Zwischen der alten und neuen Wohnung liegt der alte Rheinarm, der noch ein bißchen überschwemmt ist, aus dem Küchenfenster können wir sogar noch das Dach von unserem alten Nachbarhaus sehen. Und das mit dem Rollstuhl ist so, wie wir es von der Besichtigung in Erinnerung haben: Die sechs Stufen bis zum Erdgeschoß und damit bis zum Aufzug kriegt Vera den Rollstuhl gut hoch; bei dieser, größeren Wohnung muß mein Rollstuhl nicht mehr unten im Treppenhaus bleiben, und auch für mich wird es hier einfacher, als mich bis zum zweiten Stock ständig am Geländer hochzuhangeln.
Und gleich sind auch schon die Möbelpacker da. Natürlich wollen sie jetzt wissen, wo alles hinkommt. Haben wir uns ja auch schon überlegt. Das ist jetzt ein Gerenne, und was da überall rumsteht! Und da sollen wir leben? Eine Wohnung wird das? Unsere Wohnung? Beruhigenderweise schaffen die Möbelpacker es wahrhaftig, alle Möbel und Kisten an ihren Platz zu stellen. Natürlich müssen die Schränke noch eingeräumt werden, und bis Vera damit fertig ist, ist sie ziemlich fertig. Viel helfen kann ich ja nicht, beim besten Willen nicht. Trotzdem scheint alles zu laufen, wie geschmiert. Sogar einen schönen Höhepunkt gibt es jetzt: Kühlschrank und Herd funktionieren. Gottseidank! Verhungern ist nicht so ganz unser Ding.
Das wird ja nun eine Umstellung! Wir kennen hier noch niemanden, und Konrad und Daniel auch nicht. Mal sehen, wie die Leute hier sind. Und noch eine Veränderung ist jedenfalls schon mal klar: Ich fahre jetzt nach Oberkassel zur Krankengymnastik. Nach Röttgen war es mir einfach zu weit. So hohe Taxikosten will ich der Berufsgenossenschaft nicht länger zumuten.
Denn das ist mir inzwischen klar: Ich lebe von der Berufsgenossenschaft, die auch für meine Krankengymnastik aufkommt. Die Berufsgenossenschaft ist so eine Art gesetzlicher Krankenversicherung für alle Berufsunfälle. Und so wird mein Sturzflug eingeschätzt. Schließlich war ich auf dem Wege zur Arbeit. Die Kosten trägt also die Berufsgenossenschaft, oder besser: Die VerwaltungsBG. VerwaltungsBG paßt wenigstens in die Quittungen für Taxifahrten auf KTS.
Von der Schäl Sick komme ich nun nicht mehr so oft runter, sondern fahre zur KG einfach ein Stück nach Süden, Richtung Königswinter. (Was, Königswinter kennen Sie nicht? Da liegt doch der Drachenfels! Also, Holländer können Sie nicht sein; nicht ohne Grund wird der Drachenfels auch als "höchster Berg Hollands" bezeichnet!) Aber bis Königswinter fahre ich auch nicht, sondern bloß bis Oberkassel. Wenn ich in Oberkassel auf ein Taxi warte, sehe ich oft ältere Herren mit Kosackenmützen rumspazieren, weil hier viele Umsiedler leben. Mir ist nicht so klar, ob die Krankengymnastik hier schöner ist, und ich deshalb zufriedener bin. Schöner ist jedenfalls die Musik, die ich hier in Oberkassel von oben höre. Das ist die Tochter meiner Krankengymnastin, die Klavier spielt. Garnicht schlecht.
Also: Hin und zurück komme ich auch jetzt mit dem Taxi, mit KTS; nur, daß die Strecke nach Oberkassel viel kürzer ist. Vera muß mir auch hier helfen; ein paar Stufen muß der Rollstuhl eben auch in der neuen Wohnung rauf- und runtergetragen werden. Einmal ziehe ich den Rollstuhl zwar auch die paar Stufen hinter mir her (geht zur Not auch), aber tragen kann ich ihn nicht - mit einer Hand muß ich mich ja schließlich am Geländer festhalten - und das gibt einen wahnsinnigen Krach, den ich den Nachbarn lieber nicht zumuten will.
Berufsunfälle werde ich jetzt so schnell nicht mehr haben, denn arbeiten kann ich erst mal nicht mehr. Erwerbsunfähig wird so etwas genannt. Die Bürokratie jedenfalls hat jetzt gründlich Ruhe vor mir, und es ist garnicht klar, ob sich das noch ändern wird, und wenn, wann. Dies fällt natürlich früher oder später auf. Auf jeden Fall bekomme ich einen Brief von der GFE, daß es dort so nicht weitergehen kann mit mir, und darum erhalte ich nun eine Kündigung. Eine Kündigung, die ich gut nachvollziehen kann. Die GFE hat sich ja wirklich Zeit gelassen, sogar der Sohn von Herrn Helmrich ist einige Zeit eingesprungen, aber ewig geht das natürlich nicht so weiter.
Allerdings müssen wir die GFE darauf hinweisen, daß eine Kündigung ohne Einwilligung der Hauptfürsorgestelle für Schwerbehinderte nicht möglich ist. Sogar ein Risiko wäre es für mich, die Kündigung so einfach über mich ergehen zu lassen. Ich darf sie nicht hinnehmen, ohne mich zu wehren. Falls ich sonst noch mal wieder arbeitsfähig werden sollte und nicht gleich Arbeit fände, könnte es sein, daß ich erst mal ohne Arbeitslosengeld dastünde. Statt dessen bekäme ich eine Sperrfrist.
Sperrfrist? Wie wir darauf kommen? Eine andere Kindergartenmutter hat eine Schwester beim Sozialamt, und die hat uns das so erzählt.
Auf unseren Brief mit dem Hinweis darauf erhalten wir bald eine Antwort. Von der Schwerbehindertenstelle im Rathaus Beuel. Häh, Beuel? Beuel heißt Bonn auf der Schäl Sick, fast überall wenigstens. Wenigstens amtlich wird der Name des Bonner Stadtteils hier Beuel geschrieben. Genauer wäre ja Böjl, aber Beuel sieht doch wirklich viel vornehmer aus. Wir müssen jedenfalls in die Schwerbehindertenstelle im Rathaus Beuel - ein richtiges Rathaus ist es nicht, denn das heißt in Bonn Stadthaus; im Beueler Rathaus gibt es nur Büros für den Stadtteil Böjl, und dort einigen sich die GFE und ich, wie wir unsere Probleme lösen können.
Wir trennen uns per Vergleich. Jetzt bin ich also auch ganz offiziell ohne Arbeit. War ja garnicht so einfach, meine Arbeit zu verlieren. Natürlich waren erst mal alle Parkplätze besetzt, sogar der Schwerbehindertenparkplatz, aber dann fuhr ein Auto weg, und wir konnten in der Nähe der Schwerbehindertenstelle parken. Ich weiß garnicht, wie ich das sonst hätte schaffen sollen, meine Arbeit loszuwerden.
So vieles muß ich, oder will ich wenigstens schaffen. Ganz normale Dinge; aber die sind für mich jetzt auch schwer geworden. Oder sind es die Kinder, die mit dieser Situation nicht klarkommen? So oft wird es schwierig mit uns zusammen. So auch, als ich mit den Kindern im Sandkasten bin. Aber was heißt "ich bin"? Schließlich muß ich da erst mal hinkommen. Und das ist wirklich schon schwierig genug.
Denn dazu müssen die Kinder vorher wärmere Sachen anziehen, und ohne wen geht das nicht? Stimmt, hier ist Vera gefragt. Genauso wie beim Runterbringen des Rollstuhls. Gut, daß ich mir wenigstens die Klamotten für unten selbst anziehen kann; Vera hat jetzt wirklich genug zu tun, wie so oft.
Also erstmal sind die Kinder ausgehfertig zu machen. Natürlich dauert das nicht viel mehr als zehn Minuten, aber diese zehn Minuten kommen zu so vielen, vielen anderen dazu. Dann wir alle in den Fahrstuhl; der Rollstuhl, Vera, Konrad, Daniel und ich. Daß das eng wird, aber geht, haben wir nun schon ausgiebig erfahren. Unten, im Parterre, wird es dann ernst.
Denn bis zur Haustüre müssen wir jetzt noch sechs Stufen nach unten. Und das heißt, ich muß aufstehen und mich am Treppengeländer runterhangeln, während Vera meinen Rollstuhl runterschleppt. Aber was sind schon sechs Stufen? Wenigstens können die Kinder hier ohne Gefahr rausrasen, denn vor dem Hauseingang fahren keine Autos wie in der Tiefgarage. So kann Vera meinen Rollstuhl wenigstens ohne Streß die Treppe runterschleppen.
Kaum daß wir sicher unten angekommen sind, geht Vera zurück nach oben, um die Wohnung zu putzen. Daß sie das jetzt ungestört kann, war ihr das Anziehen der Kinder und Schleppen des Rollstuhles schon wert. Und ich finde es schön, auch mal runterzukommen und mitzukriegen, was so abgeht am Sandkasten. Und mal mehr mitzubekommen von meinen Kindern, sowieso.
Toll, auch mal hierzusein. Da mag es frisch und der Sand etwas zu feucht sein, aber das ist doch egal. Mir, und den Kindern sowieso. Schön ist es, sie spielen zu sehen. Ganz gut geht es mir dabei in meinem Rollstuhl. Nur, daß Daniel sich dann seine Stiefel auszieht, finde ich nicht so gut. Dazu ist es doch eindeutig zu kalt, und der Sand eindeutig zu naß. Und das sage ich Daniel auch. Aber Daniel ist anderer Ansicht, er will seine Stiefel nicht anziehen; da muß ich ihn doch festhalten und es selber tun. Schließlich will ich ein guter Vater sein, trotz meiner eingeschränkten Möglichkeiten.
Daniel strampelt seine Stiefel ab. Ich ziehe sie ihm wieder an. Er zetert. Ich halte ihn fest. Schön ist das natürlich nicht, für ihn nicht, und für mich auch nicht; aber ich bin konsequent. Muß ich ja wohl auch. Nikolai zetert weiter, bald schreit er wie am Spieß. Konrads Gesicht wird schon nach wenigen Minuten - mehr als zehn können es kaum gewesen sein - immer besorgter, und ich bleibe konsequent.
Bis plötzlich die Tür aufgeht und Vera herausgelaufen kommt wie eine Furie. Die Tränen laufen ihr über das Gesicht, und sie reißt mir Daniel aus dem Arm. Dabei war sie vorhin, als sie die Kinder und mich runterbugsiert hat, noch ganz ruhig. Und schon das war ja wohl anstrengend genug für sie. Aber sie hoffte, daß, während ich auf die Kinder aufpaßte, sie die Wohnung putzen können würde. Jetzt laufen ihr die Tränen über das Gesicht, und sie sieht sehr einsam aus.
Konrad genauso. So oft hat er "Laß ihn los!" geschrien. Aber als Vera anfängt, mir Vorwürfe zu machen, verteidigt er mich. Und selbst Daniel zeigt jetzt, daß er mir nicht mehr böse ist.
Da können uns meine krankengymnastischen Übungen auch nicht helfen; und auch nicht das, was ich in der Ergotherapie oder in der Übungswohnung geübt habe. Was ich hier tun könnte, weiß ich einfach nicht.
Abends kommt Vera noch einmal auf diese Szene zurück, obwohl sie jetzt ziemlich müde ist. So etwas sei nun schon zu oft passiert. Viel zu starr sei ich dann. Ein Wunder, daß die Kinder immer wieder von neuem auf mich zugingen. Damit mag sie ja recht haben, aber nun bin ich auch müde, ja, erschöpft. Und daß ich erwerbsunfähig bin, hängt ja auch damit zusammen, daß ich den Überblick über komplexe Handlungsabläufe nicht lange genug halten kann. Traurig genug, hier wie da. Und ich gebe mir doch wirklich Mühe!
Komplizierte Probleme. Ob es wohl irgendwann noch mal besser klappen wird damit?
Langsam kriege ich jetzt schon Übung, wie ich mit einem Rollstuhl die Treppe rauf und runter runter komme: Im Aufzug. Vera auch. Die paar Stufen zwischen Haustür und Parterre, wo der Aufzug hält, schafft sie locker. Und ein Rollstuhl in der Wohnung ist wirklich viel, viel praktischer. Schon daß ich ihn nachts im Dunkeln beim Weg aufs Klo oder morgens beim Waschen benutzen kann, ist wirklich viel besser als Rollator und Klappstuhl.
Also: Ich fahre mit dem Aufzug runter und gehe noch ein paar Schritte an der Wand entlang, während Vera den Rollstuhl runterträgt. Ich warte auf das Taxi und klettere rein, wenn es kommt. Ich sage: "Sie wissen ja, Sie können der Rollstuhl zusammenklappen, wenn Sie die Sitzfläche in der Mitte hochziehen. So. Die Fahrt geht auf KTS. Der liegt in der Zentrale. Ach ja, es geht nach Oberkassel." Und dort geht es in die KG-Praxis, natürlich nicht nur zum Klavierhören. Und nach einer Stunde wieder raus zu den Leuten mit Kosackenmütze. Und ein Taxi kommt auch bald. Heute mal wieder mit einer Frau am Steuer.
Ich steige ein. Natürlich. Natürlich nicht ohne mich festzuhalten; so sicher bin ich nun doch noch nicht. Einmal halte ich mich auch fest, als ich die Tür zuschlage. Dabei muß ich mich schließlich vorlehnen.
Die Tür schlägt zu. AUA! Mein Daumen, oder jedenfalls seine Leiche, steckt zwischen der Tür und dem Dach. AUA! Echt stabil, diese Daimlers. Ich kann es versuchen und ziehen, wie ich will, aber meinen Daumen kriege ich nicht mehr heraus zwischen Tür und Rahmen. Gut, daß die Taxifahrerin die Tür schnell aufmacht. Und hastig um das Taxi herumspurtet und mir eine Rolle Kleenex reicht. Und ich hatte schon Angst, das Taxi mit Blut vollzukleckern. Muß ja nicht unbedingt sein.
Da ist das Kleenex um den Daumen schon praktisch, damit gibt es keine Flecken im Taxi, und selbst ich bleibe von Blutgesudel verschont. Auf die besorgte Frage der Taxifahrerin, in welches Krankenhaus sie mich denn jetzt bringen soll, antworte ich: "Ich würde jetzt gerne nach Hause fahren" und gebe ihr meine Adresse an. Und komme schnell nachhause, bloß daß mir auf mein Klingeln nicht geöffnet wird. Nach einer halben Stunde kommt Vera, und ich erfahre, warum ich solange im Treppenhaus warten mußte. Blutbekleckert bin ich zum Glück immer noch nicht, das Geblute hat inzwischen aufgehört; so ziemlich jedenfalls.
Vera war mit Daniel in der Kindergruppe, er ist ja noch zu klein für den Kindergarten. Und Konrad hat sie vom Kindergarten abgeholt. Natürlich ist sie schockiert. Heute wollte sie es nach all dem vielen Streß beim Umzug mal etwas schöner haben, und dann das. Die Kinder mit ins Krankenhaus nehmen? Heute sind das nicht nur Konrad und Daniel, sondern auch Max. Max ist Konrads bester Freund und durfte heute mal mitkommen. Und jetzt ausgerechnet das!
Also fahren wir erstmal zum Kindergarten und fragen, ob die Kinder heute außer der Reihe dort bleiben können. Vera fühlt sich jetzt schon richtig als Katastrophenfrau vom Dienst, und das gefällt ihr natürlich überhaupt nicht.. Konrad und Max dürfen heute außerplanmäßig auch nachmittags im Kindergarten bleiben, nicht aber Daniel. Der wird ja erst in ein paar Monaten drei Jahre alt, also muß ausgerechnet er mit ins Krankenhaus. Und einen Krankenschein konnten wir in der Hektik sowieso nicht finden.
Im Anschluß daran fahren wir zum Josephskrankenhaus, gleich gegenüber St. Joseph, wo wir Weihnachten mit meinen Schwiegereltern waren. Und hier gehen die Abenteuer los. Immerhin gibt es eine Rollstuhlrampe neben den Stufen vor der Tür, aber bergauf geht es da natürlich schon. Ganz so leicht komme ich da mit meinem Daumen bestimmt nicht hoch. Und den Rollstuhl vollbluten will ich nun auch nicht unbedingt. Na ja, da muß ich jetzt einfach mal etwas zarter und vorsichtiger zugreifen. Zum Glück ist das wirklich nicht so schwer. Vera schiebt mich.
Und so stehen wir schon bald vor dem Empfang, einer Art Pförtnerloge. Wir fragen nach der Ambulanz. "Einen Stock tiefer, da vorne links mit dem Aufzug runter." Wir folgen ein paar Schildern, kommen um einige Ecken rum und gut an, ohne uns zu verlaufen. Bei der Ambulanz müssen wir uns erst einmal anmelden und erläutern, wieso und warum. Und wir erfahren: "Bitte warten Sie einen Augenblick. Dr. Hinze ist gleich wieder da."
Und so geschieht es. Wir warten einen Augenblick, weniger als 20 Minuten, bis Dr. Hinze zurückkommt. Dr. Hinze wirft einen Blick auf meinen Daumen und meint mit beruhigendem Tonfall: "Da müssen wir erst mal eine Röntgenaufnahme von machen. Das ist drei Stockwerke höher, im zweiten Stock. Ich nehme an, Sie wissen, wo es zum Aufzug geht?" Ja, das wissen wir schon. Und finden den Aufzug problemlos. Gut, daß ich mit dem Rollstuhl auch jetzt noch ohne große Probleme zurechtkomme. Vera muß Daniel tragen.
Oben muß ich erst mal eine Erklärung unterschreiben, daß ich problemlos geröntgt werden kann. Ich habe ja leider gar keine Ahnung, wo und wieviel ich letztes Jahr geröntgt worden bin, aber an der Hand bin ich bestimmt noch nie geröntgt worden. Also unterschreibe ich. Und ich werde geröntgt.
Das heißt, erstmal kriege ich eine rötliche Bleischürze vor den Bauch geschnallt, als Schutz gegen die Röntgenstrahlen. In der Gegend sind ja wohl noch gewisse andere Körperteile. Wär' ja schade, wenn die zuviel abbekämen. Die Schwester, die diese Schürze gebracht hat, verschwindet kurz aus dem Raum: "Halten Sie bitte den Arm ruhig solange." Und ich kann schon wenige Minuten später das Röntgenbild mit meiner Hand drauf bewundern. Jedenfalls sieht es ganz so aus, wie ich mir ein Röntgenbild meiner Hand vorstelle.
Und runter geht es wieder, mit dem Aufzug und dann die verwinkelten Gänge lang, die wir zum Glück ja schon kennen. Und gleich wieder in das Behandlungszimmer der Ambulanz. Warten müssen wir jetzt nicht mehr, wir sind die einzigen hier. Dr. Hinze ist auch noch da. Und es ist ruhig hier, selbst Daniel macht zur Abwechlung mal gar keinen Krach.
Dr. Hinze betrachtet das Röntgenbild so intensiv, als ob er da mehr drauf sieht als meine Finger. Er sieht auch mehr und meint beruhigend, das sei doch alles garnicht so schlimm. "Nur ein kleiner Knochensplitter. Das geht auch ohne Gips. Ein paar Wochen, und der Knochen ist wieder heil."
Und macht sich ans Werk. Das heißt, zuerst sind natürlich ein paar Spritzen fällig, in die Daumenwurzel, von beiden Seiten. Das tut vielleicht weh! Höllisch! So sehr schmerzte meine Hand noch nicht mal dann, als der Daumen noch in der Türe steckte und nicht rauszuziehen war. Wie sich das jetzt anfühlt, schätze ich, Dr. Hinze hat den gesuchten Nerv glatt getroffen. Also, wenn ich die Wahl hätte zwischen solchen Stichen oder einer Autotür, ich würde glatt die Autotür wählen.
Dr. Hinze tut seine Arbeit, und er tut sie gründlich. Das heißt, erst einmal schneidet er den zersplitterten Nagel ab und legt ihn wieder in das Nagelbett. Jetzt pieksen mir die Nageltrümmer wenigstens nicht mehr ins Fleisch. Außerdem näht er natürlich auch den aufgeplatzten Daumen. Schließlich fehlt nur noch, daß er mir ein Loch in den Fingernagel bohrt und ihn auch annäht; doch statt dessen bekomme ich einen dicken Verband um, hoch bis zum Handgelenk. Wirklich, auf diese Erfahrung hätte ich liebend gerne verzichtet.
Die Katastrophenfrau vom Dienst auch. Denn jetzt geht es ja erst mal zum Kindergarten, Konrad abholen. Der Besuch von Max fällt heute flach. Schade, aber wenigstes hat Daniel kein Theater gemacht.
Gut, Vera mußte ihn ein bißchen rumtragen, aber das hat sie ohne Probleme geschafft, locker. Jetzt geht es wieder nachhause mit uns: Dort steigen wir alle aus dem Auto, Rollstuhl aus dem Kofferraum und auseinandergeklappt, ich rein, natürlich nur die wenigen Meter bis zur Treppe, ich gehe und Vera trägt den Rollstuhl die paar Stufen bis zum Aufzug, und hoch. Endlich.
Aber ich mache auch noch andere Dinge, als mir den Daumen einklemmen. Ich spiele Gitarre (und endlich auch wieder Saxofon). Na klar, leicht ist das nicht mit meinem kaputen Daumen, aber ganz unmöglich ist es nicht. Natürlich muß ich vorsichtig sein, sonst tut es einfach zu weh. Aber ich will ja noch einmal eine Fantasy Factory CD aufnehmen; die Musik gefällt mir so gut, und klingt überhaupt nicht altmodisch. Ich habe wirklich schon Bescheideneres im Radio gehört. Und ein bißchen den Daumen hinter den Gitarrenhals halten, ist bei genügender Vorsicht durchaus aushaltbar. Hauptsache, der Knochensplitter wächst wieder fest.
Ich versuche also, wieder vernünftig Gitarre zu lernen und übe jeden Tag mehr als eine Stunde. Sogar unsere alte Sängerin schreibe ich an. Nein, nicht die, sondern eine, die auch singen konnte. Aber so einfach wird das nicht, das Gitarreneulernen. Allein das Üben wird wohl lange dauern, und eine Antwort bekomme ich auch nicht auf meinen Brief; dabei habe ich der Sängerin eine Kassette mit Aufnahmen von uns, auf denen sie auch zu hören ist, mitgeschickt. Aber ich kriege eine Rückmeldung vom Arzt, als ich ihm von meinem Gitarreüben erzähle. "Das geht doch wirklich nicht! Beim besten Willen nicht!" Er sieht ganz so aus, als ob er einem Nervenzusammenbruch sehr nahe ist.
Blöd, wo ich doch nicht nur so einfach vor mich hindudele. Schließlich will ich wohin mit meiner Musik, und dazu muß ich noch einiges unternehmen. Üben alleine ist da nicht genug. Eine CD zu produzieren, kostet Geld. Und ich habe überhaupt keine Böcke, selbst dafür zu latzen. Ich meine doch, meine Musik mit Fantasy Factory bringt es. Und wenn es auch früher vielleicht ein Problem war, daß wir uns so extrem zwischen alle Stile gesetzt haben, so ist es heute ein Vorteil; heute wirkt die Musik geradezu modern. Aber ein bißchen Reklame müßte schon sein, Plattenfirmen sind schließlich keine Wohltätigkeitsvereine. Sie müßten schon ihre finanziellen Möglichkeiten gezeigt kriegen.
Und die Plattenfirmen auf ihre Möglichkeiten hinweisen, das kann ich schließlich, sowas Ähnliches habe ich ja schon ein paar Jahre gemacht, beruflich. Bloß, daß das beim Bund der Selbständigen natürlich nicht Reklame hieß, sondern Öffentlichkeitsarbeit. Klingt ja irgendwie viel vornehmer. Und zum Tippen brauche ich den Daumen auch nicht. Also gar kein Problem.
Aber so schnell geht das nun auch wieder nicht. Zwar stehen Computer und Drucker seit dem Umzug nicht mehr im Keller, sondern in dieser Kombüse, die wir Arbeitszimmer getauft haben, aber eins fehlt: Das Kabel, das dazwischengehört. Ist wohl irgendwie weggekommen beim Umzug. Glatt verschollen. Das ist ja nun nicht so gut. Ohne Kabel fehlt dem Drucker komplett die Inspiration. Irgendwann geben wir die Suche auf, und Vera kommt mit freudiger Miene auf mich zu: "Du, ich habe dir was mitgebracht." Und sie legt ein neues Druckerkabel auf den Tisch.
Danach bin ich erstmal eine ganze Weile damit beschäftigt, das Kabel in den Drucker und im Computer hinten einzustöpseln. Hinten, auf den Rückseiten, ganz weit weg. Die richtigen Buchsen kann ich leicht erkennen, schließlich müssen die Stecker reinpassen. Aber ich muß die Stecker ja auch reinkriegen. Natürlich muß ich mich dazu aufstützen, denn einfach so kann ich nicht stehen, und vom Stuhl aus komme ich nicht an die Buchsen heran. Schließlich und nach einer Reihe immer neuer Anläufe klappt es dann doch. Genial! Und dabei bin ich nicht mal mit der Nase im Drucker oder Bildschirm gelandet! Mal sehen, ob der Drucker druckt. Wahrhaftig, tut er. Kann man deutlich hören.
Wenn mir nun das Gitarrespielen zu viel wird, schreibe ich an ein paar Zeitungen. Ob sie wohl Interesse hätten, dann, wenn die CD raus ist, zu berichten. Es gäbe ja wirklich genug Abenteuer, über die sie schreiben könnten: Sperrmüll, tote Katzen und vieles mehr. Jedenfalls kriegen sie genug Geschichten zur Auswahl vorgesetzt. Schriftlich. Schade. Eine Antwort erhalte ich nie. Finde ich garnicht so gut. Ist doch irgendwie auch eine Frage der Höflichkeit. Und positive Antworten wären ja auch ein Argument gegenüber Plattenfirmen. Und dabei sind die Zeitungen sonst immer so hungrig nach allem, woraus sie einen Artikel stricken könnten.
Allerdings sind sie das. Das Telefon klingelt. Und dann! Vera ruft: "Für dich, Reinhard!" Und
dann meint sie: "Ein Anruf vom General-Anzeiger".
Es meldet sich ein Herr Steffen. Herr Steffen schreibt für den General-Anzeiger (Falls das noch nicht klar sein sollte: Der General-Anzeiger ist eine Zeitung, eine Bonner Zeitung). Das sei ja bestimmt ein hartes Schicksal, meint er - soweit bin ich ja ganz seiner Meinung - und er würde gerne berichten. "Kann ich in ein paar Tagen denn mal bei Ihnen vorbeikommen?", fragt er. "Ein Photograph würde mitkommen." Ich überlege kurz. Eigentlich wollte ich ja etwas ganz anderes erreichen, aber schaden kann ein Artikel über mein persönliches Schicksal nun auch nicht. Ich sage zu.
Der Termin klappt; ich bin rechtzeitig von der Krankengymnastik zurück. Es klingelt: Herr Steffen steht vor der Tür. Es wird ein langes Gespräch, ohne Photograph. Der kommt viel später. Herr Steffen fragt nach meinen Erinnerungen an die Demo, wie ich dahingekommen wäre, und was ich denn jetzt so mache. Natürlich erzähle ich ihm auch von meiner Arbeit für die GFE und von meiner Musik. Es wird ein langes Gespräch. Sehr lang. Und dann kommt auch noch der Photograph.
Es wird auch ein langer Artikel. Sehr lang, mit Foto: "Demo-Opfer muß mühsam ins Leben zurückfinden." Stimmt ja leider. Ein besonderer Artikel, für mich. Und ein bißchen erfolgreich bin ich auch. Ich meine doch, daß nicht viele Musikgruppen zwölf Jahre nach ihrer Auflösung in der Zeitung auftauchen. Fantasy Factory (kurz: Fanta) schon. Na ja; zum ersten Male sind wir nicht in der Zeitung, aber lange her ist es schon. Und schaden kann ein neuer Artikel über uns bestimmt nicht.
Aber ein bißchen schadet das schon. Mir nicht, aber Vera. Sie ist ja viel mehr draußen, als ich. Ich komme nicht so oft aus der Wohnung. Jedenfalls ist sie total genervt, wie oft sie jetzt angesprochen wird: "Ich habe diesen Artikel im General Anzeiger gelesen. Das ist ja eine ganz schreckliche Sache mit diesem Unfall." Das Wort "Unfall" kann ich schon nicht mehr hören.
Vera bittet mich, keine Artikel mehr in die Zeitung setzen zu lassen. Na ja. Sie bekommt die Reaktion der Leute auf solche Artikel auch viel deutlicher mit, als ich; ich wundere mich vor allem, wieviel die Leute lesen. Außerdem macht es mir wirklich nichts aus. Ich bin ja auch viel mehr an soetwas gewöhnt, als sie: Ich weiß doch noch genau, ich wie nach größeren Auftritten häufig nicht über die Heidelberger Hauptstraße gehen konnte, ohne daß mir alle naselang irgendwelche Leute zugewinkt und gerufen haben: "Ganz prima, gestern. Hat mir total gut gefallen."
Aber nicht nur Vera sagt mir, worum sie mich bittet, sondern auch ich wünsche mir etwas von ihr. Einen sehr persönlichen Wunsch habe ich an sie, einen Wunsch, den nur sie mir erfüllen kann. Nur sie, Vera. Ganz allmählich wird mir immer klarer, daß sie nicht so ein liebes Wunderwesen ist, das irgendwie um mich herumschwirrt, sondern meine Frau. Natürlich weiß ich das schon eine ganze Weile, und auch, daß sie die Mutter von Konrad und Daniel ist, aber so richtig klar wird mir das erst jetzt. Jetzt, wo ich täglich miterleben kann, was das eigentlich bedeutet. Etwas, das ich so brauche.
Leider ist mein Gedächtnis ja nun ziemlich ruiniert, und mein früheres Leben - langsam glaube ich wirklich, daß es mein Leben war - habe ich wie in einem jahrzehntealten, schlechtgelagerten Film im Kopf; einschließlich der Geschichte, wie wir aufeinander zugegangen sind, um Kinder zu bekommen. Rein theoretisch ist mir das natürlich klar. Aber alles ist irgendwie so grau und undeutlich. Schade. Wäre doch wirklich toll, sowas noch einmal zu erleben, wir zusammen. Kinder haben ist ja nun wirklich nicht alles, aber so ein absolutes "Ja" zueinander, das wäre doch wirklich saustark. Super sahnemäßig, meine ich.
Von diesem Wunsch ist Vera ist ganz und gar nicht begeistert. Wir hätten doch jetzt wirklich schon genug Schwierigkeiten. Natürlich wäre es toll, so zueinander zu kommen, aber ich sei doch wohl etwas unrealistisch. Vollkommen unverständlich ist mir das ja auch nicht, aber schade ist es schon. Wirklich sehr schade.
Aber es gibt ja auch noch anderes im Leben. Zum Beispiel bekomme ich so langsam doch mehr Übung mit diesem Ding, mit dem Rollator. Nebenhergehen muß Vera nicht mehr, das kann ich jetzt auch schon alleine. Bloß übertreiben sollte ich das dann doch nicht. Eines Nachts weckt mich ein Klingeln. Ich stürze mit dem Rollator Richtung Eingang; ankommen werde ich nicht. Nach ein paar Metern stürze ich im Dunkeln Richtung Boden. Zum Glück wird es eine weiche Landung, ich kann mich noch etwas an einer Tür in der Nähe festhalten. Wirklich Glück, Türen sind ja nicht überall.
Also rappele ich mich wieder hoch und öffne die Tür. Niemand will herein. Statt dessen will Vera wissen, was ich denn eigentlich auf dem Flur wollte. Bei meinem Sturz ist sie aufgewacht und meint, das Klingeln müsse ich mir eingebildet haben. Ich bin mir da nicht ganz so sicher, es gibt ja wohl auch Klingelmäuschen. Und sowas eingebildet habe ich mir noch nie.
Ein drastischer Fall, und ich ziehe ich Lehren aus diesem Sturzflug: Neben mein Bett stelle ich nicht mehr den Rollator, sondern den Rollstuhl. Das ist einfach sicherer im Dunkeln. Natürlich auch nicht hundertprozentig. 100% Sicherheit gibt es nicht, egal ob beim Gehen oder beim Fahren.
Das lerne ich wenig später. Ein Rollstuhl hat ja vier Räder, jedenfalls sollte er das. Hinten die großen mit den Metallreifen zum Anfassen und vorne kleine lenkbare Rollen. Ich gurke also durchs Wohnzimmer, als der Rollstuhl auf einmal unaufhaltsam kippt. Zum Glück wird auch diese Landung weich, dafür sorgt unser dicker Wohnzimmerteppich, und mit dem Kopf knalle ich auch nicht auf.
Aber wie konnte das eigentlich passieren? Und was liegt da eigentlich auf dem Teppich? Sowas kleines rundes. Ach ja, die kleine Rolle vorne rechts, am Rollstuhl ist sie jedenfalls nicht mehr dran. Muß wohl die Ursache meines Sturzes sein.
Was für'n Glück, daß ich einen gut sortierten Werkzeugkasten habe. Schraubenschlüssel genug sind auch darin. Die nötige Größe, na klar, ist auch dabei. Ich habe ja wirklich nicht so gern meine Schrauben locker. Hhm, muß wohl vom Werk aus nicht richtig festgezogen gewesen sein; auf jeden Fall will ich in Zukunft lieber mal alle paar Tage prüfen, ob die Schrauben fest sind.
Das tue ich. Und ich erreiche meinen neununddreißigsten Geburtstag ohne weitere Sturzflüge. Neununddreißig Jahre alt bin ich! Nächstes Jahr werde ich schon vierzig. Ich wanke meinem Grabe zu! Wenn ich es überhaupt noch so weit schaffe. Dabei ist es doch jetzt noch garnicht so lange her, da war ich grade mal siebzehn. Natürlich in meinem vorigen Leben, aber erinnern kann ich mich schon. Ich bin eben noch nicht daran gewöhnt, so ein Greis zu sein.
Auf jeden Fall ist jetzt Feiern angesagt. So ein Geburtstag ist doch ein prima Vorwand, Leute einzuladen, die man viel zu lange nicht mehr gesehen hat. Und das sind eine ganze Masse bei mir. Ich war eben ein halbes Jahr total weg vom Fenster und jetzt komme ich auch nicht so viel raus wie normal.
Eingeladen habe ich ein gutes Dutzend Freunde. Irgendwie muß ich ja unser neues, großes Wohnzimmer ausnutzen. Wir karren alle Stühle zusammen, d. h. Vera karrt alle Stühle zusammen, die wir haben, aber es kommen nur fünf Gäste. Schade. Trotzdem wird es ein schöner Abend mit den Leuten, die da sind. Sogar die Geschenke sind gut.
Schon wenige Tage später kommen aber auch noch ganz andere Leute: Die Gemmers. Rolf, ihren Sohn, habe ich schon vor langer Zeit kennengelernt, als wir beide erst vier Jahre alt waren. Seine Eltern natürlich auch. Natürlich waren nicht auch die Eltern vier Jahre alt, sondern ich habe sie damals auch schon kennengelernt. Ein paar Jahre war Rolf mein bester Freund, und der Kontakt ist nie abgerissen.
Und darum sind die Gemmers auch jetzt, viele Jahre später, herzlich willkommen bei mir. Herr Gemmer kann mir das mit dem Rollstuhl gut nachfühlen, schließlich wurde ihm im Krieg ein Unterschenkel abgeschossen. Und Frau Gemmers Augen! Soviel Gefühl im Blick! Sie weiß noch so gut, was das für einen Ärger gab, wenn ich mit Rolf auf dem Rasen Fußball spielte. Das gab eine Aufregung! Ein paar Nachbarn rannten dem Hausmeister die Bude ein, und der arme Mann mußte sich pflichtgemäß bei unseren Eltern beschweren. So ändern sich die Zeiten!
Gemmers Besuch dauert lange; wir haben uns viel zu erzählen. Natürlich richte ich auch herzliche Grüße an Rolf aus; und schließlich ist es schon fast Abend, bis die Herr und Frau Gemmer gehen. Und sie sind nicht die einzigen, die kommen.
Klaus rufe ich auch an, und er kommt auch vorbei. Klaus ist mein Klassenkamerad. Seine Adresse kenne ich nicht erst, seit ich für unser Klassentreffen die Adressen aller meiner Klassenkameraden gesammelt hatte. So ein Klassentreffen mußte ja schon sein, zwanzig Jahre nach dem Abi. Die meisten hatte ich seitdem nicht mehr gesehen. Sie wohnten überall. Nein, am Nordpol wohnte keiner. Und so hatte ich schon nach ein paar Monaten suchen alle aufgetrieben; wahrhaftig.
Schon wenige Tage, nachdem ich ihn angerufen habe, kommt Klaus vorbei und erzählt mir von dem Treffen; wie er zum Ort der Feierlichkeit gekommen sei und gefragt habe, wo das Treffen denn stattfinde. Das war in einer Gaststätte, und der Kellner meinte: "Sehen Sie da hinten die Herren?" Klaus mußte mit Entsetzen feststellen, daß die grauhaarigen, gesetzten Herren am Nachbartisch gemeint waren. Na klar konnte er sie sehen, aber erkennen konnte er sie nicht.
Ist ja wirklich doll, was einem alles erspart bleibt im Koma. Denn als grauhaarige Herren waren wir nun wirklich nicht zur Schule gegangen; weder waren wir grauhaarig noch Herren. Obwohl, unsere Lehrer sagten ja manchmal schon: "Meine lieben Herren!" zu uns. Aber so ganz ernst meinten sie das wohl nicht. Auch Klaus und ich haben uns seit damals doch etwas verändert. Einst haben wir die Ränder unserer Schulbücher vollgekritzelt, und einmal sind wir sogar nach Köln gefahren, zur Kunstmesse. Da habe ich dann sogar ein Bild verkauft, für sage und schreibe zehn Mark. Hauptsache, ich hatte die Straßenbahnkosten wieder raus.
Klaus ist jetzt Kunstlehrer, und auch er hat zwei Kinder. Aber nicht immer muß ich anrufen, wenn ich Freunde wiedersehen will. Manchmal rufen die Freunde auch mich an. Eines Tages jedenfalls klingelt das Telefon und Vera ruft: "Reinhard! Komm mal! Da ist eine Sandra für dich am Telefon!"
Eine Sandra? Richtig, die Sandra. Schwer in Ordnung. Bin ich immer gut mit ausgekommen. Ich kenne sie aus der Übungswohnung. Da machte sie gerade ihr soziales Jahr oder so etwas in der Reha. Voll ok. Lange nicht gesehen. Ist ja jetzt wirklich schon eine gute Weile her. "Was, kommen willst Du? Aber gerne; find ich ganz prima. Natürlich, na klar." Bloß wann sie kommen könnte, verabreden wir nicht.
Eines Morgens ein paar Tage später klingelt es dann. Und wer steht da vor der Tür? Richtig, Sandra. "Das ist ja wirklich prima, daß du vorbeigekommen bist. Aber leider haben wir nicht viel Zeit. In einer Viertelstunde muß ich zur Krankengymnastik. Schade." Sandra hätte wirklich besser erst mal klargemacht, wann es hinhaut mit einem Besuch. Denn ich habe ja jede Woche dreimal Krankengymnastik. Wie ausgerechnet jetzt, grade.als sie auftaucht! So ein Pech!
Das ist ja wirklich sehr schade. So eine nette Frau, und in der Reha werde ich sie nicht mehr sehen. Ihr soziales Jahr macht sie in einem Kindergarten weiter. So ganz gut gefällt es ihr da nicht. Schade. Aber warum genau, und was sonst noch so los ist bei ihr, kriege ich nicht mehr raus. Ich muß zur Krankengymnastik.
Und so muß sie schon nach kurzer Zeit wieder nach Godesberg, den ganzen langen Weg und über den Rhein mit der Straßenbahn. Lange dauert das, und ganz billig ist es auch nicht. Diesen Vormittag kann sie vergessen. Aber es gibt vielleicht noch ein kleines Gutes: Auf dem Weg zur Krankengymnastik komme ich an der Rheinbrücke vorbei. Ich frage sie, ob sie Lust hat, soweit im Taxi mitzukommen. Sie hat.
Das ist wirklich gut, findet auch sie. Rollstuhlschieben kann sie ja, und heute schiebt sie meinen Rollstuhl runter und steigt mit in mein Taxi. Das ist ja auch viel schneller und sie spart einmal Umsteigen. Und wir können ein paar Minuten länger quatschen. Schade ist es trotzdem. Kommt viel zu schnell, das "Tschüß!"; "Tschüß!"
Wirklich nett, die Sandra. Nicht so arrogant wie die Demonstranten, die mich fast umgebracht haben. Nicht so selbstgerecht. Klar, Scheiße gibt es genug auf der Welt. Das erfahre ich spätestens dann, wenn ich Zeitung lese oder fernsehe.
Ist ja Wahnsinn, was grade alles los ist! Krieg in Jugoslavien und sowas. Ethnische Säuberungen scheinen jetzt ja wirklich in Mode zu kommen. Kommt mir doch alles irgendwie bekannt vor. In den Schluchten des Balkans scheint nun ja schon eine ganze Weile ziemlich was los zu sein, und mit dem ersten Weltkrieg hatte das doch auch was zu tun. Ausländerfeindlichkeit ist da ja wirklich übertriebener Fleiß. Die Ausländer können das auch ganz alleine.
Läßt mich nicht kalt; und auch durch die Medien rieselt ein sanftes Bedauern darüber. Aber richtig darüber aufregen tut sich hier keiner; die Täter sind ja auch keine Deutschen.
Ich bezweifle ja wirklich, ob Willi Brandt heutzutage noch seinen Nobelpreis erhalten würde. Es ist doch eigentlich nur noch eine Frage der Zeit, bis andere Vertriebene, nein, richtig heißt es natürlich, ethnisch Gesäuberte, darauf kommen, daß seiner Versöhnungspolitik das konsequente Vorgehen gegen Ethnische Säuberungen fehlt, und von Deutschland Schadensersatz fordern. Schließlich seien massenhaft auch Deutsche vertrieben worden, und dies so stehen zu lassen, sei kein gutes Beispiel für die Zukunft.
Natürlich vergäßen Vertriebene von heute, die Schadensersatz für das Deutsche Vorgehen forderten, in ihrer Verzweiflung die notwendige strikte Unterscheidung zwischen Menschen und Deutschen. Aber schließlich stinkt Geld nicht. Die Serben haben sich hier auch verwirren lassen, und im zerfallenen Jugoslavien für hunderttausende Vertriebene und Tote gesorgt; kaum daß die Tinte unter den Deutsch-Polnischen Grenz- und Freundschaftsverträgen trocken war. Aber dagegen hat hier niemand demonstriert; und ich muß ja schon froh sein, wenn ich die verschiedenen Völkerschaften dort mit meiner Matschbirne noch auseinanderhalten kann. Aber zum Glück war ich schon mal in Jugoslavien; meistens schaffe ich es trotz meines ruinierten Gedächtnisses.
Daß selbst manche Alliierten nicht immer strikt zwischen Menschen und Deutschen unterschieden haben - und zwar genau andersherum - dafür bin ich ein lebender Beweis. Als meine Mutter auf der Flucht ein Stück auf einem Wehrmachtslastwagen mitfuhr, kam ihr ein feindlicher Panzer entgegen. Als seine Besatzung Frauen auf dem deutschen Lastwagen sah, schoß sie nicht, sondern ließ den Panzer abdrehen.
Und heute gibt es in Deutschland ja wirklich auch was Besseres zu tun, als Leute vom Fahrrad zu werfen. Meine ich jedenfalls. Zwar war das nun wirklich nicht so schön, als sie in Lübeck eine Synagoge angezündet haben. Oder in Solingen? Nee, da war doch das mit den Türken. Eine ziemliche Scheiße. Aber was hilft es da, Leute vom Fahrrad zu reißen?
Was mich dann doch wundert, ist, wie das täglich im Fernsehn kommt, und die dauernden Demonstrationen. Ja, wie jetzt auf einmal alle für die Menschenrechte anderer kämpfen, da bin ich neidisch. Natürlich nicht auf den Anschlag, sondern auf die Aufregung. Dabei hatte dort, beim Anschlag auf die Synagoge, doch niemand auch nur einen blauen Fleck abbekommen, außer vielleicht der eine oder andere Täter. Und ein Landesminister hat nach den Ausschreitungen, bei denen ich fast getötet wurde, auch nicht versichert, daß das Vorgehen der Polizei doch ganz in Ordnung gewesen sei (konnte er nun auch wirklich nicht). Also sowas kommt mir erst mal ganz ungewöhnlich vor, ganz anders, als bei mir. Bis mir der Unterschied hell und klar wird: Die Opfer dort sind ja auch Menschen.
Verdammt schmerzhaft, diese Erkenntnis. So viele gutwillige, edle Menschen, die ich zum Teil ganz schön gern habe. Und dann legen sie in einem ganz zentralen Punkt plötzlich unterschiedliche Maßstäbe an.
Mit dem Demo-Konzept ging das ja schon los; von wegen menschenfreundlich! Und dann die Polizei: Sie half mir nicht, drohte mir Knast an und verschloß dann, als ich halbtot dalag, feste die Augen. Schließlich bin ich kein Bimbo.
Probleme, die natürlich auftauchen, wenn es zur Gewohnheit wird, ganz elementare Rechte nur bestimmten Gruppen zuzugestehen; wenn es "normal" wird, sie - aus welchen Gründen auch immer - anderso zu verweigern und Gewalt auch gegen "Nichtkombattanten" anzuwenden, wie es heutzutage fast schon Tradition geworden ist, Hauptsache, "politisch korrekt".
Natürlich kann ich nicht immer nur an sowas denken. Langsam wird es jetzt wirklich Zeit, sich um das nächste Mal Reha zu kümmern. Ich soll ja nach einem halben Jahr wieder hin. Jedenfalls schreiben wir an die Godeshöhe; schließlich wollen wir auch mal wissen, wann wir in Urlaub fahren können.
Eine ganze Weile nach unsere Anfrage im Neurologischen Rehabilitationszentrun Godeshöhe - denn so heißt der Laden offiziell - hatten wir noch keinen Termin bekommen. Jetzt aber mal nachgefragt! Schließlich müssen wir allmählich wirklich wissen, wann wir unseren Urlaub beginnen können. Denn wir haben unseren Urlaub schon in Djerba, das ist eine Insel in Tunesien, geplant. Und wenn wir jetzt noch lange warten müssen, sind nachher keine Zimmer mehr frei!
Deswegen versuchen wir, zu erfahren, warum eine Antwort so lange dauert. Wir erfahren, daß - ist doch wohl klar - in absehbarer Zeit noch keine Plätze frei sind. Keine Plätze für Pflegebedürftige. Keine Plätze für Pflegebedürftige? Bin ich doch garnicht, so pflegebedürftig. Natürlich kann ich ohne Spezialgriff nicht in die Badewanne, und meinen Rasierapparat benutze ich erstmal auch lieber weiter. Ins Gesicht schneiden will ich mich ja nicht so gerne, ich bin jetzt eben schon reichlich ungeschickt. Aber pflegebedürftig?
Wir leisten Aufklärungsarbeit in dieser Sache und erfahren, daß ich in zwei Wochen wieder in die Reha soll. Jetzt aber schnell den Urlaub gebucht!
Aber Djerba ist nicht. Meine Neurologin schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, als ich ihr von unseren Plänen erzähle. Nach Tunesien! Mit dem Flugzeug! Dieser Unterdruck in Flughöhe! Da können ja zigtausende Gehirnzellen verrecken! Bloß das nicht, nach so einer Verletzung.
Ich wäre ja doch so gerne dahin gefahren. Das wäre ja wirklich was ganz Neues für mich. In Afrika war ich noch nie. In Asien sonstwo, aber nicht in Afrika. Na klar habe ich Bedenken, wie das so würde mit dem Rollstuhl. Aber das ist bestimmt auch irgendwie zu schaffen. Also. Nach Afrika geht es natürlich nicht ohne Flugzeug, und selbst bis ans Mittelmeer ist es mit zwei kleinen Kindern im Auto ein bißchen weit. Und was gibt es sonst noch? Regen satt.
Schade, aber mit meinen angeschlagenen Hirnzellen wollen wir dann doch lieber nur in die Nähe. Ohne Flug oder tagelange Fahrten. Aber wo eigentlich wäre soetwas möglich? Sehr weit sollte es lieber wirklich nicht weg sein.
Aber ja! Da waren wir ja noch nie! Letztes Jahr ist es ja wegen meiner Verletzung ausgefallen. Na ja, den Helmrich werden wir jetzt nicht besuchen, wo ich garnicht mehr arbeite in der GFE. Aber schön soll es da sein, mit vielen Seen, in Mecklenburg. Vielleicht lerne ich ja sogar nochmal schwimmen, wenn das überhaupt nötig ist. Spannend wird das auf jeden Fall, jedenfalls wenn es dann nicht nur dauernd regnet da.
Jetzt müssen wir aber auch wirklich bald buchen. Wir können in Zukunft ja nicht mehr immerzu nur in Urlaub fahren. Schließlich wird Konrad eingeschult, und Daniel soll in den Kindergarten, sowie er drei Jahre alt ist. Und dort werden die meisten Plätze dann frei, wenn das neue Schuljahr anfängt. Und das dauert nicht mehr ewig. Sogar den Schularzt haben wir jetzt schon hinter uns. Und finden sogar noch eine Ferienwohnung in Mecklenburg in so kurzer Zeit. In Röbel, da wohnt der Pöbel. (Nee, vergiß es. War nur Quatsch. Typisch sowas, bei mir.)
Jedenfalls muß ich unbedingt noch ins Syndikat vor der Reha. Das macht ja bald zu. Was ich da will? Musik machen. Bei einer Blues-Session. Hier war ich früher jede Woche mit Gitarre und Saxophon, und gesungen habe ich damals auch. Jetzt bringe ich nur mein Saxophon mit; auf der Gitarre bin ich noch nicht wieder gut genug, und singen kann ich schon garnicht. Dabei war das Saxophon früher nur mein zweites Instrument. Mit der Gitarre würden die Leute im Syndikat mich jetzt, wo ich bei weitem noch nicht wieder vernünftig Klampfe spielen kann, vielleicht nicht einmal mehr wiedererkennen. Aber ich muß jetzt da hin, auch wenn ich noch vieles nicht wieder gut kann. Das Syndicat macht jetzt schon bald zu; darum muß ich unbedingt noch vor der Reha hin. Hinterher geht es ja nicht mehr.
Das weiß ich von Jerry, der hat es mir so erzählt. Klar, der geht da auch oft hin, daher weiß er es ja. Und Musik macht er auch, daher kenne ich ihn. Jerry kommt aus Heisterbacherrott und hat da mit mir dieses Stück auf CD aufgenommen. Am Telefon erzählt er mir meistens von seinen neuesten Gitarrenverstärkern (meist sind es Marshalls); und über Musik reden wir auch ab und zu, natürlich.
Und so kommt Jerry bei mir vorbei, bevor ich in die Reha muß. Er nimmt mich mit seinem Auto mit. Bis ins Syndicat ginge es ja nur mit dem Rollstuhl nicht ganz so gut (ich würde den weiten Weg nie schaffen). Total prima schafft er es, mir runter und ins Auto zu helfen, als Rollstuhlschieber ist er wirklich begnadet. Das hat er in seinem Zivildienst gelernt. Stimmt ja wirklich, was ich früher nicht so geglaubt habe: Übung macht den Meister.
Und ins Syndikat kommen wir auch ohne größeren Streß. Sogar einen Parkplatz finden wir in der Nähe. Das hat ja geradezu Seltenheitswert.
Jerry hilft mir, und so lande ich nach langer Zeit wieder in diesem alten Lagerraum mit seinen weißgetünchen Wänden, im Syndikat. Voller Tische und Stühle ist das Syndikat, und gleich links hinter dem Eingang gibt es eine Bar. Gegenüber, am anderen Ende des Raumes ist die Bühne mit Schlagzeug, Gitarren- und Gesangsverstärkern darauf. Wie gut ich sie kenne!
Schon als wir reinkommen, gibt es große Augen: Schon seit über einem Jahr war ich nicht mehr hier. Und jetzt so kurz vor Toresschluß! Und nur mit Sax! "Wie geht es dir denn so? Wieder was besser geworden? Ich war ja total geschockt, als ich von deinem Unfall gehört habe." Solche und ähnliche Fragen habe ich jetzt zu beantworten. Und natürlich muß ich gleich erst mal dieses Zettelchen für freie Getränke abholen. Denn wer bei der Blues-Session mitmacht, muß an diesem Tage nicht bezahlen. Und daß ich spiele, ist ja wohl klar. Spätestens mein Saxophon beseitigt alle Zweifel.
Na ja. Erst mal müssen wir nach vorne, wo wir auftreten wollen. Aber erst einmal setzen wir uns lieber. Vor uns sind ja noch andere dran. Jerrys Hilfe kann ich jetzt gut gebrauchen. Er bringt mein Sax schon mal hinter die Bühne. Wie ich das jetzt ohne ihn schaffen könnte, ist mir auch nicht klar. Dazu stehen die Tische und Stühle doch zu dicht nebeneinander. Aber nach kurzem Suchen finden wir einen Tisch mit freien Plätzen, wo ich sogar hinkommen kann, ohne daß zu viele Leute aufstehen müssen.
Kaum aber sitze ich, da gibt es schon Bewegung weiter hinten. Die Frau mit dem erschreckten Gesicht, daß ist doch die Tanja! Tanja? Wirklich seit einer Ewigkeit nicht gesehen. "Willst du dich zu mir setzen? Kannst Du gerne, der Stuhl hier ist frei." So eine Überraschung! Die Tanja, das Opfer von diesem Spannerfotografen am Baggersee. Ich jedenfalls frage erst mal: "Hallo. Ich muß erst mal sicherstellen, daß ich deinen Namen richtig in Erinnerung habe. Du heißt doch Tanja. Stimmt das? Weißt du, mein Gedächtnis ist ziemlich ruiniert."
Tanja ist der richtige Name. Und Tanja ist ziemlich entsetzt, jetzt: Ich in einem Rollstuhl, das ist sie wirklich ganz anders gewohnt von der Dornhecke. Dort, wo wir bein Baden keinen Eintritt zahlen und keine Badeklamotten anziehen mußten, in einem alten Steinbruch, hatten wir uns kennengelernt, als ich feststellte, daß ein älterer Mann, der ganz "harmlos" im Schatten saß, Fotos der Nackten hier aufgenommen hatte - fotografiert hatte er auch Tanja.
Wir unterhalten uns lange. Tanja wartet auf ihren Freund. Verabredet war sie ja schon vor einer halben Stunde mit ihm, aber er taucht einfach nicht auf die ganze lange Zeit. Und selbst, als ich mit Jerry auf der Bühne verschwinde, ist er noch nicht da.
Auch nicht, als ich dann wieder herunterkomme. Das war ja wirklich ein spannender Auftritt. Vorher war mir garnicht recht klar, was dabei herumkommen würde nach meinem Sturzflug und so langer Zeit. Was bin ich erleichtert! Natürlich kann ich nicht mehr alles so gut, bei weitem nicht; aber mit Schande habe ich mich nun auch nicht bekleckert. Na ja. Zum Gitarrespielen hat es noch nicht gereicht, aber das habe ich ja vorher gewußt. Eine Gitarre hatte ich heute auch nicht auch noch mit. Ich weiß nicht einmal, wie das zu schaffen wäre, mit zwei Instrumenten Rollstuhl zu fahren.
Da ist es wirklich befriedigend, daß die Leute unsere Musik gut fanden, und daß, als ich wieder von der Bühne komme, Tanja immer noch auf dem Platz neben mir sitzt. Natürlich quasseln wir ausgiebig weiter. Und nun kriege ich es fast wieder wie einen Film vor die Augen: Ich war an der Dornhecke baden, in diesem Baggersee. Nein, Baggersee ist nicht ganz richtig, es ist eher ein abgesoffener Steinbruch. Man kann ganz gut baden darin, sogar ohne Klamotten (Entschuldigung, Herr Ordnungsmensch, Sie erfüllt das mit Grausen, selbstverständlich). Natürlich kommen ein paar Leute nicht zum Baden, sondern um ein paar knackige Nackte zu sehen.
Und so habe ich Tanja kennengelernt. Knackig ist sie ja. Nein, nicht beim Spannen habe ich sie kennengelernt, aber ein Spanner hat schon mitgeholfen. Ich war schon angezogen und wollte gerade gehn, als Konrad mit einer Packung Papiertaschentücher ankam und mir unter die Nase hielt. Papiertaschentücher? Komisch, sah irgendwie anders aus, und dieser dunkle Fleck... irgendwie wie Glas. Und zu schwer war die Packung auch. Jetzt aber mal genauer hingesehen, und wahrhaftig! Das waren keine Taschentücher, das war eine Kamera, und der dunkle Feck ihre Linse! Ein Spanner hatte heimlich Fotos gemacht damit! So eine Sauerei!
Das erzählte ich den anderen hier, und bald stand eine ganze Gruppe Spanneropfer aufgeregt zusammen. Auch Tanja, die ich so kennenlernte. Und bei einem Besuch bei ihr lernte ich dann, daß Adolf H. die ethnischen Säuberungen nicht erfunden hat (Sorry, liebe(r) Herr/Frau AntifaschistIn). Und daß er nicht nur nicht der erste, sondern auch (leider) nicht der letzte war, der sich mit soetwas abgab, ist ja inzwischen wohl auch klar.
Mehr über die große Politik lernte ich wenig später so: Ich kannte Tanja erst ein paar Tage, da besuchte ich sie. Bei ihr im Treppenhaus sprach mich dann diese Greisin an; lange, graue Haare und viele Runzeln, Tanjas Großmutter. Eigentlich wären sie ja Elsässer, aber die Franzosen hätten sie vertrieben. Dabei sei das in Straßburg so eine schöne Schokoladenfabrik gewesen, die der Familie gehört habe. So schön und so wertvoll; und die Schokolade sei wirklich gut gewesen. Aber leider hätten die Franzosen ihre Fabrik nach dem ersten Weltkrieg entschädigungslos enteignet.
Nicht mal ihr Geld hätten sie eigentlich mitnehmen dürfen. Zum Glück sei ihr Vater ja schlau gewesen, er habe das Geld in eine Matratze eingenäht und heim ins Reich geschmuggelt. So wäre wenigstens davon was übrig geblieben. Es ist mir ja geradezu peinlich, die Originalität der Zentralfigur im Kult der Antifaschisten mit solchen Geschichten runterzuwürdigen, aber vom Himmel gefallen war er nun mal nicht mit seinen ethnischen Säuberungen, und leider (für mich war es natürlich Glück) traf ich Tanja nun mal, als ich eigentlich nur Musik im Kopf hatte.
Nun ja, ganz neu waren mir solche Geschichten auch nicht. Mein Onkel Fritz kam aus Westpreußen und hatte einen riesigen Bauernhof in der Gegend von Bromberg, der nach dem ersten Weltkrieg von den Polen enteignet wurde. Und von den Polen aus Wespreußen vertrieben wurde Onkel Fritz auch. Eins aber war ganz anders als bei der Geschichte von Tanjas Großmutter: Die Polen zahlten meinem Onkel eine Entschädigung, sogar ein Fahrrad konnte er sich davon kaufen. Nun aber zurück ins Syndicat.
Tanja und ich quasseln also ausgiebig weiter. Nein, nicht über ethnische Säuberungen, sondern was denn so alles los war bei uns und über Gott und die Welt. Inzwischen sind andere dran mit Spielen. Aber irgendwann muß ich ja auch wieder nach Hause; richtig fit bin ich eben noch lange nicht. Zum Glück kommt Jerry vorbei, und wir sprechen uns ab, daß wir gleich nach Hause fahren wollen. Schließlich muß er morgen arbeiten. Jerry weiß Bescheid: Saxophon von der Bühne holen, beim Rausfahren helfen, meinen Rollstuhl in den Kofferraum, und über den Rhein auf die Schäl Sick. Da ins Haus, und sichergegangen, daß ich im Fahrstuhl hoch- und die Tür aufbekomme. Das wärs also.
Na ja. Ins Bett komme ich zum Glück ja alleine, aber bitte ganz leise! Schließlich habe ich keine Lust, Vera damit aufzuwecken. Es ist jetzt schon weit nach Mitternacht. Nun aber schnell ins Bett! Morgen muß ich wieder zur Krankengymnastik! Und ein bißchen Denken muß ich morgen auch. Was alles noch zu erledigen ist, bevor ich wieder in die Reha komme. Welche Klamotten ich mitnehme.
Also. Die Gitarre bestimmt. Und dann ein paar gute Kassetten, aufnehmen muß ich die auch noch. Dazu will ich in der Reha üben. Schließlich will ich wieder richtig gut werden auf der Gitarre. Und was für Schuhe, Hosen und Unterhosen; Strümpfe nicht zu vergessen. Turnschuhe nicht, in ihren rechten Schuh geht keine Schiene rein. Aber eine Badehose auf jeden Fall. Und meinen eigenen Rollstuhl, und den Rollator. Das wird schon ziemlich anders diesmal, letztes Mal hatte ich sowas noch garnicht; ja, ich wußte noch nicht mal, was ein Rollator ist.
Inzwischen ist mir das leider nur zu klar. Ist ja schon ein ziemlich harter Vollzeitjob, mit einer Situation wie meiner klarzukommen.
Und dazu bringe ich erst mal die Krankengymnastik ich hinter mich. Das Wochenende auch, aber am Sonntag fängt schon der Ernst des Lebens an: Es geht ans Kofferpacken. Was heißt da schon Kofferpacken, Koffer haben wir nicht, nur Taschen. An diesem Sonntag kommen da Massen von Socken, Hosen und Unterhosen rein, und Claudia verstau das Ganze schon mal im Auto. Bis morgen zwölf Uhr soll ich ja in der Godeshöhe sein.
Ja, selbst, wer solange auf die Kinder aufpassen wird, haben wir regeln können. Konrad ist ja im Kindergarten, aber Daniel? Zum Glück haben wir Frau Emmerich, um auf ihn aufzupassen. Stolz bezeichnen wir sie als Kinderfrau. Meist paßt sie dreimal in der Woche zwei oder drei Stunden auf Daniel auf. Schließlich soll Daniel merken, daß es in der Welt mehr gibt als Mama, Papa und Lego. Glücklicherweise hatte sie Zeit und kann auch jetzt auf Daniel aufpassen. Wir müssen ihn daher nicht mitnehmen und können den Rollator auf den Rücksitz packen. Zwei Taschen kommen davor.

 

Reha-Wiedersehen

Noch einmal schlafen, und es ist Montag. Ab geht die Post. Wir fahren, oder besser gesagt: Vera fährt Richtung Reha mit mir. Ich nebendran. Fahren kann ich mit der Schiene, die mein Bein stabilisieren soll, ja nicht, und es ist auch noch garnicht so klar, ob ich überhaupt schon wieder schnell genug wäre mit meinen Reaktionen; nicht nur ab und zu, sondern immer. Da gehen wir wirklich lieber auf Nummer Sicher.
Von der Schäl Sick komme ich so auch wieder runter, nach Westeuropa. Über die Rheinbrücke, und dann Richtung Godesberg. Hier bin ich lange nicht mehr langgefahren. Früher, in einer grauen Vorzeit, habe ich mal in der Straße da hinten beim BDS (Bund der Selbständigen) gearbeitet. Da, unter der Unterführung durch! Ob ich es vielleicht irgendwann noch mal schaffe, zu arbeiten? Würde ich ja schon gerne.
Wieder fällt mir auf, wieviele Häuser hier frisch gestrichen worden sind, seit ich sie zum letzten Male gesehen habe.
Und da ist ja auch schon ein Reha-Schild und es geht rechts hoch. Sauber. Ich glaube, ich erinnere mich, wo wir jetzt lang müssen. Und da oben ist doch die Godesburg, da haben wir unser Hochzeitsessen gegeben. Und da die lange Straße schräg rechts... richtig gedacht. Und ein Reha-Schild gibt es hier auch. Jetzt ist es nicht mehr weit. Noch ein paar Minuten und wir sind da. Gut, daß die Einfahrt gekennzeichnet ist, so ganz genau hätte ich das doch nicht mehr gewußt.
Zurück in die Reha, das ist ja schon ganz anders, als Musikmachen. Gestern, auf der Bühne, war es einfach ein bißchen so, wie nach Hause zu kommen. Aber so richtig fremd ist es hier auch nicht. Oder doch? Gelebt habe ich hier lange genug; für meinen Geschmack wenigstens. Aber das ist jetzt auch schon ganz schön weit weg.
Macht meine Matschbirne. Und jetzt bin ich auch wieder hier. Genau deshalb.
Schon anders, daß ich jetzt selber mitkriege, wie ich hier ankomme. Und bestimmt werde ich auch anders behandelt. Windeln brauche ich ja schon lange nicht mehr. Vielleicht... irgendwann will ich eben schon wieder arbeiten können.
Auf jeden Fall fahren wir jetzt nicht auf den Parkplatz, sondern den Weg zum Eingang hoch, den auch die Krankenwagen nehmen. So bin ich ja letztes Mal auch hier angekommen, es ist noch nicht lange her. Nur ein Leben eben. Und nun mit unserem ganzen Gepäck, mit Rollstuhl und Rollator zu Fuß hier hoch? - nein danke. Und vor der Tür stehen die üblichen Gestalten. Nein, ich kenne keinen.
Die Frau in der Pförtnerloge; ob ich die kenne? Kann sein, aber ganz sicher bin ich mir nicht. Auf jeden Fall gehen wir gleich den üblichen Weg nach links. Den üblichen Weg? Natürlich nur die paar Meter bis zur Anmeldung. Die ist links hinter dem Eingang. Wahrscheinlich ist deshalb auch gerade dort diese Sitzgruppe (ja, gegenüber dem Gang zur B1). Vera weiß das noch vom letzten Mal. Natürlich hatte ich meine Anmeldung damals überhaupt nicht mitgekriegt. Gut, daß wenigstens sie Bescheid weiß!

Bei der Anmeldung geht es um schriftliche Unterlagen. Name, Adresse und so weiter. Wie das eben so ist, wenn Geld im Spiel ist. Sogar einen Reha-Brustbeutel bekomme ich, schwarz und mit Reha-Schriftzug. Zum um den Hals hängen. Mal sehen, wofür sowas gut sein soll. War ja umsonst, das Ding. Ich jedenfalls habe nichts bezahlt. Und bald kommt noch ein Herr hinein, in einem grellroten Anzug. Muß so eine Art Schutzanzug sein, die Kutte. Also, Baumwolle ist das ganz bestimmt nicht. Und wir erfahren, daß er mich auf meine Station und mein Zimmer bringen wird. Prima. Zupacken kann er auch. Das können wir wirklich gut gebrauchen, mit all den Klamotten für mich.
Nachdem wir mich so erfolgreich angemeldet haben, gehen wir zur Kasse. Die ist genau gegenüber dem Aufzug, der zur B1 hoch geht. Ein bißchen flau wird mir schon, als ich da vorbei gehe. Und eins ist ja wohl voll logo: Im Flur hängt ein Schild: KASSE. Und der Mann mit dem knallroten Anzug ist schwuppdiwupp verschwunden. Egal. Jetzt brauchen wir ihn ja auch nicht.
Es ist schon ganz gut, jetzt zu lernen, wo die Kasse ist, denn hier bezahlen muß ich wohl noch öfter. Telefonrechnungen. Jetzt jedenfalls will ich mir erst mal ein Telefon mieten. Natürlich werden die Damen in der Kasse neugierig, als sie mich sehen. Irgendwie komme ich ihnen bekannt vor. Ich muß erläutern, warum ich hier bin und daß und warum ich schon einmal da war. Das gibt große Augen und "Aah!"s und "Ooh!"s. Ehrlich gesagt, ich bin ganz ihrer Meinung.
Ich werde aufgeklärt, wie das mit den Telefonen läuft: Anschlußbuchsen gibt es neben jedem Bett; und in sie, welche Überraschung, muß der Stecker rein. Bezahlen muß ich dann eine Leihgebühr und die vertelefonierten Einheiten. Eigentlich alles ganz logisch. Und kaum ziehen wir mit dem Telefon ab, da erscheint auch der Mann mit seinem feuerroten Schutzanzug wieder, als ob er das gerochen hätte. Ein echter Profi. Na ja. Ein bißchen nach Müllmann sehen seine roten Klamotten ja schon aus, aber zupacken kann er. Und in Ordnung ist er wohl auch, so wie er redet. Seine Hilfe können wir sehr gut gebrauchen, um es mit all meinem Gepäck bis zum richtigen Zimmer zu schaffen.
Nun folgen wir ihm an der Sitzgruppe vorbei und dann rechts. Und hier geht es mit dem Aufzug hoch, einen Aufzug, den ich noch überhaupt nicht kenne. Oben angekommen, zieht unser Helfer in Rot erst mal ab und kommt mit einem Krankenpfleger wieder. Dieser klopft an der Tür gleich schräg links gegenüber dem Aufzug und öffnet, als keine Antwort kommt. "Dies ist ihr Zimmer, und dieses Bett gleich links neben der Tür ist für Sie." Er zeigt uns auch die Schränke und die Telefonbuchse, wo ich den Stecker reinstecken kann. Sogar über die Nummer dieses Anschlusses werden wir aufgeklärt. So kann auch Vera mich hier anrufen. Und schon ist der Krankenpfleger wieder weg.
Zum Glück aber haben wir noch unser rotgekleidetes Helferlein. Er macht mir nun klar, wie und wo ich meine Sachen unterbringen kann. In dem Schrank gleich rechts neben dem Eingang, vor der Toilette. Dorthin führt ein kurzer, enger Flur - er ist nur so lang, daß auf jeder Seite grade mal zwei Wandschränke hinpassen - und auf beiden Seiten gibt es Wäscheschränke; auf der einen Seite zwei Schränke mit Fächern, auf der anderen Seite zum Aufhängen von Jacken und allem Möglichen. Schnell ist mir jetzt klar, wo meine Sachen reinkommen: Da, wo noch nichts drin ist.
An der Klotüre hängt der berühmte "Besetzt"-Zettel, denn abzuschließen sind die Toiletten nicht. Stattdessen gibt es den Zettel, der nur umgedreht werden muß, um zu zeigen, ob das Klo besetzt oder frei ist. Das wäre ja auch noch schöner, daß sich hier einer umbringen wollte und die nahenden Retter könnten erst mal nicht da rein. So ein Risiko will die Reha natürlich nicht eingehen. Und darum gibt es an den Toiletten auf den Zimmern keine Möglichkeit, die Türen abzuschließen. (Bei den Schränken wird mir der Grund nicht klar. Oder hat hier etwa schon mal jemand versucht, sich in seinem Schrank umzubringen?)
Kaum ist diese Erkenntniss schnell wie der berühmte geölte Blitz durch meine kleinen grauen Zellen gerast, da öffnet sich auch schon die Tür und der Krankenpfleger ist wieder da. Mein rotgewandeter Helfer verabschiedet sich derweil. Der Krankenpfleger kommt mit einer gelben Karte mit den Eintragungen Gruppe: B6, Zi: 322, Name: Hr. Gamme und Kostform N. Woraus leicht zu ersehen ist, daß diese Zettel nachweisen soll, daß ich als Patient in der Reha speise, und daß die Patienten hier als Hr. oder Fr. bezeichnet werden. Na ja, Ordnung muß schließlich sein.
Ein paar andere Zettel bekomme ich auch, darunter einen, der mich darauf hinweist, daß ich um dreizehn Uhr zu Frau Dr. Büchs kommen soll. Frau Büchs ist die Stationsärztin von B6. Natürlich will sie wissen, worauf sie sich jetzt gefaßt machen muß. Ich muß den ganzen langen Flur herunter bis zu ihrem Zimmer, noch vorbei am Stationszimmer der Krankenpfleger. Das geht ja ganz gut, ich fürchte nur, daß meine Schritte nicht so ganz leise sind. Nett ist die Frau Büchs, eine Bayerin mit langen, blonden Haaren. Es gibt wirklich Schlimmeres.
Vor allem spricht sie von gleich zu gleich mit ihrem Patienten, zu mir, wie mit einem denkfähigen Menschen. Das ist anders, als beim letzten Mal, oder erlebe ich das nur so; bilde ich mir das nur ein? War mir ja schon klar damals, daß ich geistig nicht grade auf der Höhe war.
Die Ärztin fragt mich, wozu ich denn hier sei und wie es mir denn so gehe. "Naja", meine ich, "mittelprächtig. Irgendwann will ich ja schon wieder normal gehen können." Natürlich sei mir klar, daß das seine Zeit brauche und sie mir keine Garantie geben könne, daß es je soweit kommen werde. "Aber so ein Traum ist das schon für mich." Dann möchte ich gerne noch wissen, was auf der B6 eigentlich so los sei; ich erfahre: "Eine Intensivstation ist das hier natürlich nicht. Es ist hier auch ziemlich anders als in der Übungswohnung. Ein eigenes Programm haben wir nicht. Die Behandlung findet in den entsprechenden Abteilungen statt." In ein paar Tagen werde ich eine Behandlungskarte bekommen. Solange solle ich meinen Verordnungen auf weißen Zetteln nachkommen.
Weiße Zettel. Aha. Davon habe ich ja schon eine Reihe. Mal gucken. War da nicht was, schon morgen? So ein Intelligenztest. Und die Frau Braun, zu der ich da hin muß, die kenne ich doch auch schon, von der Übungswohnung. Schon am nächsten Tag kann ich prüfen, ob diese Vermutung zutrifft. In der Tat: Sie tut es. Ein paar Stunden bin ich jetzt voll damit beschäftigt, alle möglichen Fragen zu beantworten. Ob bei mir wohl Spuren von Intelligenz festzustellen sind? Darüber werde ich nicht aufgeklärt; kann ja glatt sein, daß der Test erst mal ausgewertet werden muß.
Essen muß ich natürlich auch, und dazu habe ich noch diese gelbe Karte, kann also kostenlos in der Kantine Essen fassen. Zum Glück weiß ich noch, wo die Kantine ist: Gleich hinter der Pforte, also wenn man reinkommt ein paar Meter rechts. Die meisten Patienten müssen sich am Tresen anstellen, aber für alle, die dazu nicht fit genug sind, gibt es eine Abteilung mit Bedienung. Auch für mich. Ich vermute mal, der Große "H"-Stempel auf meiner gelben Karte bescheinigt, daß ich zu Recht dort sitze.
Jedenfalls bekomme ich da problemlos zu essen, früher oder später. Meistens später. So bleibt mir genügend Zeit, um über meine Lage nachzugrübeln. Kenne die Reha schon gut genug für meinen Geschmack. Ob die ganze Sache Sinn macht? Weiß nicht. Und die Ärzte hier können mir das offensichtlich auch nicht sagen. Mal sehen.
Klar, daß die BG soviel Geld in mich reinsteckt; für die bin ich einfach tierisch teuer, krank, wie ich bin. Und wo bleibt eigentlich die Bedienung? Irgendwann kommt sie bestimmt. Und so warte ich in der Kantine dort, wo bedient wird.
Aber es gibt nicht nur Essen dort. Einmal spricht mich eine Orientalin an, ich glaube, eine Araberin. Sie meint, wir hätten uns doch schon in der Übungswohnung getroffen. Ich kann mich nicht an sie erinnern. Aber an Bernd schon; an Bernd, der mit mir zusammen im Landeskrankenhaus auf der Intensivstation lag und der zur gleichen Zeit wie ich in der Übungswohnung wohnte. Auch er ist jetzt grade wieder in der Godeshöhe. Immer noch ist nicht klar, ob er irgendwann wieder autofahren können wird. Schön, hier jemanden zu kennen und nicht ganz allein zu sein. Und mit dem Autofahren bin ich ganz in der gleichen Situation wie er.
Ein bißchen gehe ich auch noch vor die Tür. Bernd geht runter, er will lieber Fernsehn gucken. Ein halbes Stockwerk tiefer gibt es diese zwei großen Sääle mit Fernsehgeräten (richtig, das ist in der Nähe des Snoozelraumes). Ich aber will erst mal ein bißchen sehen, was draußen los ist. Die Leute da draußen kenne ich nicht, aber so richtig zu vereinsamen bringe ich vor der Tür auch nicht so schnell fertig. Dazu gibt es da viel zu viele Möglichkeiten zu quatschen.
Hier in die Reha kommen ja offensichtlich Leute aus ganz Deutschland, von der Waterkant genauso wie aus Bayern, egal, ob Männlein oder Weiblein. Vor der Tür lerne ich auch eine Frau kennen, die kaum noch was sehen kann, aber Witze erzählen, das kann sie. Eine Türkin im Rollstuhl kurvt hier auch öfters rum. Von wegen im Rollstuhl rumkurven: Es gibt ein paar echte Ralleyfahrer im Rollstuhl, die bis nach Godesberg runter und wieder hochgurken. Und das sind bestimmt mehr als zwei Kilometer bergab und wieder hoch. Das würde ich nie schaffen, nur nach acht steige ich dann doch lieber in den Rollstuhl um, denn dann werde ich zu unsicher am Rollator.
Um zehn Uhr ist Schluß vor der Türe, dann herrscht entsprechend der Hausordnung Nachtruhe nicht nur im, sondern auch vor dem Haus. Spätestens dann gehe ich ins Bett, aber meistens bin ich schon vorher zu müde, um so lange aufzubleiben. So ganz normal ist das nicht bei mir; früher war ich nur selten vor Mitternacht in den Federn. Den Rollstuhl stelle ich neben das Bett, damit ich auch nachts gut auf ihn draufkomme, denn mit Rollator im Dunklen... nein, hingefallen bin ich für meinen Geschmack schon genug.
Am Fußende meines Bettes steht, an die Wand gelehnt, meine kleine Gitarre. Meine kleine, die ich vor vielen Jahren extra für die weite Reise nach Indien gekauft hatte. Das war vor langer Zeit, und eine Matte hatte ich auch damals. So ein kleines, leichtes Ding war ja bei so einer langen und weiten Reise ganz sinnvoll. Deswegen habe ich auch keinen Koffer, sondern eine weiße, gut gepolsterte Hülle für sie. Angela hatte sie genäht, damals, als wir zusammen nach Indien fuhren. Zu kaufen gibt es so etwas nicht.
Was ich leider nicht mithabe, ist mein Saxophon. Das wäre einfach zu laut auf der Station. Schon wieder muß ich pausieren. Nicht grade das, was mir hilft, besser zurechtzukommen.
So ungefähr das letzte, was ich sehe, wenn ich das Licht ausmache, ist das Fernsehen auf dem Tisch. Er ist überhaupt nicht zu übersehen, dieser Klotz. Meistens jedenfalls, wenn Herr Bartosik noch nicht auf dem Zimmer und - denn auch das kommt ab und zu vor - schon ins Bett gegangen ist und nicht noch das Licht brennen läßt. Herr Bartosik ist mein Zimmernachbar und der Fernseher gehört ihm. Das heißt, eigentlich gehört der Fernseher seinem Bruder, und der hat ihn ihm geliehen.
So oft sieht Herr Bartosik selber garnicht fern. Er meint sogar, wenn ich Lust hätte, sollte ich den Fernseher ruhig anmachen. Glück gehabt. So ein Zimmernachbar war mir ja wirklich nicht garantiert. Ja, so ein Schlaganfall bringt auch Vorteile. Ich jedenfalls habe Herrn Bartosik wegen seines Schlaganfalles als Zimmernachbarn. Auf dieses Vergnügen hätte Herr Bartosik natürlich gerne verzichtet. Er hätte wirklich viel lieber als technischer Zeichner im Ruhrpott weitergearbeitet. Inbrünstig sehnt er sich nach dem Tag, an dem er in seinen Beruf zurück kann.
Nachts, bevor ich schlafen gehe, stelle ich, wie gesagt, meinen Rollstuhl vor das Bett. Damit komme ich abends ja ohnehin schon dort an. Und nachts fahre ich dann doch lieber auch mit dem Rollstuhl auf die Toilette. Genau, wie auch schon zum Zähneputzen, denn das schaffe ich einfach nicht im Stehen. Aber irgendwann geht die Nacht ja auch vorbei.
Sowie ich morgens aufgewacht bin, spiele ich eine Runde Gitarre. Nicht, daß ich das nicht auch aus Disziplin täte, aber vor allem will ich es einfach. Schließlich will ich ja noch mal eine CD aufnehmen mit..., ääh, Fantasy Factory. Zwei Fantasy-Factory-Kassetten habe ich extra dafür mitgenommen, und einen Walkman auch. Selbverständlich habe ich auch noch ein paar andere Kassetten mit, aber hören tue ich meistens Fantasy-Factory. Saugut finde ich die Musik, so oft ich sie auch höre und dazu übe. Und das tue ich sehr oft; schließlich hat Roland vorgeschlagen, mal eine CD davon aufzunehmen. Aber vorher muß ich die Stücke natürlich neu lernen. Ich übe eine Stunde am Tag. Natürlich nicht am Stück. Meistens gibt das eine Kassettenseite in zwei Portionen plus zehn bis zwanzig Minuten extra. Und das, wenn der Bartosik gerade weg ist.
Natürlich auch nur, wenn ich gerade nichts noch Wichtigeres vorhabe. So etwas wie Siegburg. Da muß ich unbedingt hin. Steht auf einem weißen Zettel. Siegburg und wo ich dort hin muß, das kenne ich schon, da war ich schon mal. Nein, nicht in dem Kloster auf diesem Berg, sondern im Computertomographen. Und da soll ich jetzt wieder rein. Die Ärzte wollen noch einmal nachsehen lassen, was bei mir so los ist im Koppe.
Dazu muß ich erst mal runter an die Rezeption. Hier werde ich informiert, daß schon ein Taxi für mich angepiept sei und ich bestimmt nicht lange warten müsse. Schön. Was ich auch mitkriege dabei, ist, wie in der Reha Taxis angepiept werden können: Einfach auf den Knopf drücken, und in der Taxizentrale ist alles klar: Zur Reha! Als ich danach frage, was eigentlich jetzt auf mich zukomme, werde ich beruhigt: Nein, das Taxi sei bestimmt bald da, und solange könne ich mich gerne setzen; gleich um die Ecke. Ich kriege dann Bescheid.
Es dauert auch nicht lange, bis ein Taxifahrer um die Ecke und auf die Sitzgruppe zukommt: Alles klar. Wir fahren nach Siegburg. Na ja, diese Taxifahrer, die öfter zur Reha kommen, wissen wenigstens, wie man Rollstühle zusammenlegen kann. Da muß ich nichts erklären. Jedenfalls steht das Taxi gleich vor der Türe, wo die übliche Szene aufgelaufen ist, und wo sonst die Krankenwagen halten. Oder Vera, zumindestens dann, wenn sie mich abholt oder bringt.
Voll Bescheid weiß dieser Recke der Landstraße. Eine dicke Packung Papiere hat er gleich an der Rezeption erhalten, daher weiß er, wo es hingeht. Also nach Siegburg. Erstmal den Berg runter nach Bad Godesberg, dieser piekfeinen Bonner Kolonie. Dann über die Südbrücke auf die "Schäl Sick" und weiter Richtung Köln. Aber dann eben nicht nach Köln, sondern nach Siegburg. Und wie jedesmal bei solchen Fahrten fallen mir auch jetzt die neuen Autos und die frischgestrichenen Häuser auf. Die Gegend sieht wirklich ziemlich reich aus, ganz anders als Indien oder Kurdistan.
Alles kommt mir irgendwie so neu und gepflegt vor, dabei kenne ich die Gegend mit ihren Dörfern und Städten ganz gut. Sogar Siegburg, obwohl ich die Klinik mit diesem Computertomographen nie finden würde. Aber es ist überhaupt kein Problem für uns, hinzufinden. Der Taxifahrer kennt sich aus; er fragt nur ein Mal. Und dann dieser breite, abfallende Weg zur Tür, den immerhin kenne ich doch. Nur eins ist ganz anders: Die Türe wird geöffnet, kaum daß der Taximensch geklingelt hat. Und kaum ist die Tür auf, klappt der Taxifahrer mir den Rollstuhl auseinander.
Die Frau, die aufgemacht hat - ich glaube, es ist eine Krankenschwester - schaut in die dicke Packung Unterlagen, die der Taxifahrer ihr gebracht hat, und dann prüfend in mein Gesicht, und sie meint: "Sie waren doch schon mal hier? Und jetzt sind Sie wieder im Reha-Zentrum, und Sie sollen nochmal untersucht werden?" Womit sie vollkommen recht hat. Der Taxifahrer jedenfalls wartet solange draußen, bis ich fertig bin. Und wir warten darauf, daß der Arzt kommt, dem der Computertomograph gehört. Und siehe da: Diesmal kommt der Arzt zügig, noch bevor ich alt und grau werde, und der Taxifahrer wartet solange vor der Tür.
Und schon geht es los mit meiner Untersuchung. Ich fahre ins Nebenzimmer mit meinem Rollstuhl, dorthin, wo die silbergraue Riesenkiste steht. Na ja, ganz stimmt das ja nicht, dieser Ausdruck "Riesenkiste". Das Ding ist zwar groß und silbergrau - eben irgend ein Metall - aber es ist rund wie eine Art dickwandiger, silbergrauer Tunnel. Davor und damit verbunden ist eine Liege. Und genau in diese Tunnelröhre hinter der Liege soll mein Kopf rein. Das weiß ich noch vom letzten Mal.
Der Arzt fragt mich, ob ich es auf die Liege schaffe, und ich schwinge mich betont locker hinauf. "Kein Problem." Kein Problem, solange ich mich sicherheitshalber ganz fest an der Liege festhalte, um nicht zu sagen: anklammere, alles betont locker. Erleichtert lege ich mich hin und harre des Kommenden. Was kommt ist, daß mich die Liege sanft in den Tunnel schiebt, meinen Kopf jedenfalls. Irgendwie kommt mir das ja schon bekannt vor, obwohl ich mich an diese Lichterchen im Tunnel nicht mehr erinnere. Aber bequem ist es schon hierdrin, da fehlt nur noch diese sanfte Musik wie in manchen Kaufhäusern.
Von draußen, vor dem Tomographen, höre ich noch die beruhigende Stimme des Arztes, der mir erläutert, mit Röntgenstrahlen hätte das nichts zu tun; alles wäre ganz ungefährlich. Der Tomograph funktioniere mit Ultraschall. Nur mit dem Kopf wackeln, das solle ich möglichst lieber nicht, wenn die Aufnahme laufe. Denn etwas länger als ein Fotoapparat brauche so ein Tomograph schon, deswegen wären dann seine Bilder verwackelt. Dafür sehe man Dinge, die mit Röntgengeräten unsichtbar blieben. Röntgengeräte bringen es ja nur bei Knochen wirklich. Anders so ein Tomograph: Mit ihm sieht man eben auch ein paar Einzelheiten des Gewebes, Blut, usw.
Diese Beruhigung habe ich wirklich nicht nötig. Schließlich habe ich das doch schon einmal ohne Probleme überlebt. Bloß, daß ich stillhalten soll, macht mich etwas unruhig. Und was ist, wenn mein Kopf zu jucken anfängt?
Glück gehabt. Tut er nicht. Alles läuft ganz problemlos und dauert wirklich nur ein paar Minuten. Dann bin ich erlöst und kann aus diesem Computerdingsda raus. Auch runter von der Liege und rauf auf den Rollstuhl klappt glatt. Jetzt kommts: Gleich werden wir erfahren, ob die Bilder gut geworden sind oder ob ich nochmal in die Röhre muß. Die Bilder werden an die Wand geklemmt und von hinten hell beleuchtet, damit sie problemlos gesehen und beurteilt werden können.
Natürlich kann ich nicht erkennen, ob bzw. wie gut die Fotos geworden sind, aber der Doktor ist sehr zufrieden mit ihnen. "Das Blut ist ja wohl fast weg, inzwischen. Nur dahinten ist noch ein Schatten zu sehen. Aber viel ist das wirklich nicht mehr." Ich bin ganz einverstanden; es lag also nicht nur an mir, daß ich nichts erkannt habe. Die Schwester packt die Bilder ein und informiert den Taxifahrer, der die ganze Zeit draußen gewartet hat. "Jetzt geht es zurück nach Bonn mit Herrn Gamme."
Und jetzt zurück nach Bonn, in die Godeshöhe. Inzwischen kenne ich ja die Strecke wieder ein bißchen, und mir fällt auf, daß ich hier doch früher, vor meiner Verletzung, auch schon selber langgefahren bin. Natürlich nicht Taxi; schließlich war ich noch kein Patient, und so viel Geld hätten weder mein Arbeitgeber, noch ich ausgeben wollen, damals. Daß auch dieser Taxifahrer Übung mit dem Zusammenklappen eines Rollstuhles hat, wohl weil er schon öfter Rehapatienten gefahren hat, habe ich ja schon auf dem Hinweg mitgekriegt. Jedenfalls dauert es nicht lange, und wir sind in Bonn, über den Rhein und vor der Godeshöhe. Und Schwupp, rasch ist der Rollstuhl ausgepackt und steht neben dem Auto, und bis ich in der Reha drin bin, ist der Taxifahrer schon an der Rezeption und gibt den Umschlag mit den Tomographenbildern ab. Wie die Fahrt abgerechnet wird, werde ich nie erfahren.
Aber um manche Dinge muß ich mich diesmal als Patient persönlich kümmern; zum Beispiel darum, ob ich nach Hause fahren kann. Denn das will ich wieder, gleich am nächsten Wochenende. Wie letztes Mal, als ich noch in der Übungswohnung war. Zur Sicherheit bespreche ich das mit Frau Büchs. Eigentlich ist es ja ganz klar und problemlos: Am Wochenende haben die meisten Reha-Menschen genauso frei, wie die Leute überall. Aber ich will doch wissen, ob und wann ich mich im Stationszimmer abmelden soll, also dort, wo ich meistens die Krankenpfleger finden kann.
Ich bin dann ziemlich überrascht, als mir Frau Büchs antwortet, das sei nicht möglich, und wenn überhaupt, dann frühestens nach sechs Wochen. Die Kostenträger seien verpflichtet, die für die Fahrt hin und zurück anfallenden Kosten zu tragen. Kostenträger bei mir ist die Berufsgenossenschaft. Der für die Kostenträger dann anfallenden Kosten wegen könne die Reha keine Wochenendurlaube gewähren, meint Frau Büchs. In der Übungswohnung sei das gewiß eine Ausnahmeregelung.
Das gefällt mir natürlich garnicht. Wochen und Monate immer hier, und das wegen der Fahrtkosten? Und meine Wäsche könnte ich dann auch nicht nach Hause zum Waschen mitnehmen? Fahrtkostenersatz habe ich doch noch nie bekommen, ja, ich habe nicht einmal gewußt, daß es so etwas gibt. Wären ja auch nur ein paar Mark bei mir. Darauf kann ich wirklich gerne verzichten. Und das sage ich auch Frau Büchs, und sie meint: "Machen Sie mit der Berufsgenossenschaft klar, ob die einverstanden sind."
Noch am selben Abend rufe ich - wie jeden Abend - zuhause an und erzähle Vera von Frau Büchs überraschenden Auskünften. Vera ruft die Berufsgenossenschaft an, und ich erfahre noch rechtzeitig vor dem Wochenende: "Die Berufsgenossenschaft ist einverstanden." Und ich fahre Sonnabend und Sonntag nach Hause, jede Woche. Das wäre ja auch ein Witz, bei den paar Kilometern! Allerdings: Die meisten Patienten bleiben am Wochenende in der Reha. Für sie gibt es hier eigene Waschmaschinen auf jeder Station. Ja, in der Übungswohnung habe ich auch mal meine Wäsche darin gewaschen.
So aber kann ich problemlos jedes Wochenende nach Hause fahren, runter nach Godesberg und über den Rhein. Und immer komme ich an der Godesburg vorbei, bloß daß die auf dem Berg liegt, und ich unten daran vorbei fahre. Natürlich ist die Godesburg nur eine Ruine mit Restaurant. Wie gesagt haben Vera und ich hier - in grauer Vorzeit - unsere Hochtzeitsgäste zum Essen eingeladen. Bezahlt haben, ganz wie sich das gehört, nicht etwa wir, sondern meine Eltern. Erobert und zerstört wurde die Godesburg von bayerischen Truppen, die einen ähnlich unangenehmen Weg zurücklegen mußten wie ich, bevor ich in die Reha kam.
Schon der Name ist ja ähnlich - hier Neurologisches Rehabilitationszentrum Godeshöhe, dort schlicht und einfach Godesburg. Nein, durchs Koma mußten die Bayern nicht im Truchseßschen Krieg, aber durch die Scheiße mußten sie auch. Aber das ist schon länger her, es war 1583. "Antifaschisten" gab es zwar damals noch nicht, aber Gründe, sich gegenseitig umzubringen, ließen sich schon finden. Zum Beispiel die Konfession. Aber ganz einfach war das hier nicht. Trotz hartnäckigem Beschusses mit Kanonen konnten die Bayern - es waren immerhin 15000 - die Godesburg nicht nehmen.
Schließlich gruben sie einen Tunnel in den Berg und sprengten die Burg. Aber das gelang auch nicht richtig, sodaß sie schließlich voll durch die Scheiße mußten. Über eine Leiter drangen sie von unten in die Toilette ein, die oben an der Mauer hing, und eroberten die Burg. Der Lohn für den Sieger, Ferdinand von Wittelsbach: Er wurde Kurfürst.
Na ja, soweit werde ich es ja wohl nicht bringen, obwohl ich es immerhin schon bis zur Godeshöhe geschafft habe. Ganz so einfach war das schließlich auch nicht. Und nun sehe ich aus meinem Fenster in der Reha diese fesche Burg auf dem höchsten Berge Hollands (richtig, das ist der Drachenfels). Und gleich daneben ist der Petersberg mit dem Gästehaus der Bundesregierung. Da oben war ich auch schon, damals, als ich mich noch nicht so viel in Krankenhäusern und Reha-Zentren rumtreiben mußte. Eben als ich noch arbeiten konnte und ein paar Gäste meines Arbeitgebers in diesem piekfeinen Laden treffen sollte. Na ja, das ist ja schon ziemlich anders jetzt, aber das Siebengebirge liegt noch immer da; gleich vor meinem Fenster.
Das Siebengebirge sehe ich, wie schon gesagt, an jedem Tag, bloß nicht am Wochenende. Denn dann bin ich zuhause, jede Woche. Das ist mehr, als den meisten Patienten hier vergönnt ist. Aber immerhin bin ich auch hier in der Reha lange genug, Wochen und Monate. Schließlich soll ich ja doch einem halbwegs normalen Leben irgendwann wieder etwas näher kommen. Aber ohne viel Arbeit und Anstrengung ist darauf nicht zu hoffen. Und damit diese Anstrengungen in die richtige Richtung gehen, bin ich in Siegburg untersucht worden. In der Reha untersucht worden bin ich auch schon, sogar von zwei Ärztinnen. Außerdem wurden hier meine Intelligenz und meine Hirnströme abgecheckt.
Natürlich werde ich nicht nur untersucht, sondern auch behandelt. Ausgiebig sogar. Dazu muß ich auch jetzt wieder hierhin und dorthin, und damit dabei alles seine Ordnung hat, bekomme ich eine Behandlungskarte, sobald einigermaßen klar ist, was mit mir angestellt werden soll. Ein Orangerotes, aufklappbares Ding aus dünner Pappe mit der fettgedruckten Aufschrift "Behandlungskarte": Dahinter steht mein Name eingetragen, genau gesagt steht da "Herr Gamme". Ich bin ja schon froh, daß hier auf ein Hr. verzichtet wurde. Und natürlich steht darüber auch noch "Neurologisches Rehabilitationszentrum"; eingetragen ist B6/322. Das sind die Nummern meiner Station und meines Zimmers. Brutal wird diese Behandlungskarte erst, wenn man sie aufklappt. Da gibt es die Rubriken Tag, Therapien, Therapeut - komisch, das berühmte -In fehlt hier, Ebene (hier wird der Ort der Behandlung eingetragen) und Zeit. Die TherapeutInnen können ihre Unterschriften oder eigentlich nur ihre Kürzel in kleine Kästchen eintragen; für fünf Wochen Kürzel ist Platz.
Was ich auch dieses Mal wieder täglich bekomme, ist Krankengymnastik oder, und so steht es in meiner Behandlungskarte, KG. Nein, nicht mehr zweimal am Tag, sondern nur noch einmal täglich. Aber dieselbe Therapeutin kriege ich schon wieder. Nein, nicht mehr Frau Sapsed, sondern nur die andere. Jetzt kennen wir uns ja schon gut und gehen bald zum Du über. Dabei merke ich übrigens auch, daß ich nicht mehr so ganz taufrisch bin; das Du habe ich noch nie jemandem angeboten. Aber mit Ute, denn so heißt sie, klappt es problemlos. Nein, nicht nur das Du-sagen, sondern auch der Kontakt mit ihr. Ich mag sie, und ich vermute mal, sie mag mich auch.
Zum Glück kann ich mich ja noch ganz gut erinnern, wie es hier aussieht und wie ich dort hinkomme. Hier ist in diesem Zusammenhang die KG. Dafür gibt es so etwas wie eine eigene Abteilung, eben eine riesige KG-Praxis mit zahlreichen Räumen. Und natürlich viele Krankengymnastinnen; Männer sind in diesem Beruf eine kleine Minderheit. Was mir hier auch auffällt, ist die Stimmung: Sie kommt mir hier so gut vor, wie sonst nirgendwo anders in der Reha. Natürlich sehe ich auch den Barren wieder, der eine so gute Gelegenheit zum Gehenlernen bietet, ich jedenfalls stiefele häufig hindurch. Und die Frau Sapsed sehe ich hier auch öfters.
Schon auf dem Wege zur KG komme ich also jeden Tag am Eingang vorbei, fahre mit dem Fahrstuhl ins Tiefgeschoß, immer entlang dieser riesigen Fensterfront. Bei der Gelegenheit kriege ich mit, was gerade für ein Wetter ist, ob es regnet oder die Sonne scheint (Ja, die Sonne scheint entgegen aller anderslautender Gerüchte selbst im Rheinland, bisweilen wenigstens) und auch, wer gerade vor der Tür steht, schwätzt oder raucht. Hinter dem Eingang stehen zwei oder drei Rollstühle, ich weiß nicht, wozu, und ich mache mir auch keine Sorgen deswegen.
Immer entlang an der Fensterfront geht es vorbei am Haupteingang weiter geradeaus bis dort, wo es nicht mehr weiter geht. Das ist da, wo dieser Kiosk steht. Um eben dahin zu kommen, muß ich mit dem Fahrstuhl noch ein halbes Stockwerk tiefer sausen, denn dieser Teil der Halle ist etwas höher, was auch notwendig ist, weil der Fußboden hier tiefer liegt. Aber das wissen Sie ja schon; und auch, daß ich hier den Miniaufzug nehmen muß, weil ich jetzt noch zu wackelig bin für die paar Stufen. Da hilft der Rollator auch nichts. Aber das ist auch jetzt kein Problem, vorausgesetzt, keine Putzkolonne oder keine Liege mit Rädern drunter ist vor mir dran. Etwas länger warten müssen ist schließlich keine Katastrophe.
Gleich gegenüber dem Kiosk auf der Ecke geht es zu den Fernsehräumen, wo ich nun aber nicht hinwill. Ich will schließlich zur Krankengymnastik, und dazu muß ich mit dem Aufzug noch einen Stock tiefer, in eine große Halle mit massiven Säulen, die die Decke abstützen. Hier weiter links, und ich komme auf den Barren zu. Gradezu ein alter Bekannter, dieser Barren genauso wie die Stühle, auf die alle, die hier auf ihre Behandlung warten, sich setzen können. Von ihnen stehen hier ja genug herum. Die meisten von ihnen sehe ich zwar erst, wenn ich kurz vor dem Barren links um die Ecke biege, aber, na klar, ich weiß schon vorher Bescheid.
Von all diesen Stühlen haben natürlich die Rollstuhlfahrer nichts, von denen hier häufig auch ein paar zu sehen sind. Offensichtlich sind manche von ihnen nicht so voll da; sie werden gebracht und abgeholt, und zumindestens mir wird bei manchen nicht so richtig klar, wieviel sie eigentlich mitkriegen.
Jetzt setzte ich mich erstmal auf einen freien Stuhl und warte auf Ute. So ungefähr weiß ich ja bald, wer hier noch alles rumläuft. Zum Beispiel Bernd, der das jetzt auch wieder mächtig üben muß. Dabei ist Bernd viel besser dran als ich, oft sehe ich ihn beim Dauerlauf durch diese Halle. Und zu meinem Erstaunen sehe ich einmal auch Hakan hier herumlaufen; Hakan, mit dem ich auf der B1 lag. Toll; er sieht ziemlich fit aus und kann viel besser rumlaufen als ich, der Glückspilz. Das war damals noch nicht so klar; damals, als wir zusammen auf einem Zimmer lagen und seine Schwester mir die Haare schnitt. Ich warte jetzt auf Ute, und wenn ich sonst was zu regeln habe in dieser Abteilung, weiß ich auch, wo ich hin muß; wo das Büro ist, ist mir schließlich klar.
Wenn Ute kommt, grinsen wir uns erstmal an. Zunächst einmal regeln wir dann, wo wir hin wollen. In der KG gibt es so viele Möglichkeiten: In eins der Zimmer mit Sprossenwand und Liegen, zum Barren, oder schlicht und einfach zum Treppenhaus. Da kann ich sehr gut üben, Stufen rauf und runter zu gehen; das Treppengeländer bietet die notwendige Sicherheit. So werden die Treppengeländer zu therapeutischen Werkzeugen, und das ganz rezeptfrei.
Oft geht es erstmal an den Barren, an dem ich mich beim Gehenüben mit beiden Händen festhalten kann. Ja, mehr noch, zur Seite wegkippen kann ich hier auch nicht, dabei wären seine Holme im Wege. Ich kann also gut üben, Schritte zu machen und mich zu drehen und wenden. Soviel habe ich damals im Turnunterricht jedenfalls nicht am Barren geübt.
Oft aber gehen wir auch in eins der Zimmer mit Liegen, Matten und Sprossenwänden. Nichts davon bleibt mir erspart. Ich übe viel auf den Liegen und Matten, aber auch daneben her. Frei stehen, das soll ich ja auch wieder lernen, früher oder später. Lieber wäre mir natürlich früher, aber so richtig vorstellen kann ich mir nicht, wie das gehen soll. Stehen neu lernen kann man auch neben einer Liege als Sicherheit ganz gut. Ich übe es viel, auf einer Seite die Liege, auf der anderen Seite Ute, und ich in der Mitte. Den Abschluß macht meistens eine Runde gehen ohne Rollator. Puh! Ute nimmt mich an den Händen, und dann stiefele ich los; zwanzig oder dreißig Meter. Wenn die vorbei sind, bin ich ziemlich fertig mit den Nerven, zimperlich, wie ich nun einmal bin.
Nicht immer nehmen die Abenteuer Rücksicht darauf, ob ich auch gerade in der KG bin. Um hierher zu kommen, muß ich erstmal von der B6 mit dem Aufzug runter und dann Richtung Haupteingang. Alleine bin ich selten im Aufzug, schließlich wollen noch mehr Leute runter oder hoch. Einmal, wir fahren zu dritt Richtung B6, als der Aufzug den Geist aufgibt und steckenbleibt. Zum Glück gibt es ja noch eine Taste, um Hilfe zu rufen. Einer von uns hat eine Erleuchtung und drückt. Kurz darauf ertönt eine Stimme aus der Wand des Aufzuges (Ja, ich bin ganz ihrer Meinung. Da muß ein Lautsprecher drin sein): "Sie haben gerufen. Was ist los?" Wir erläutern, daß wir zwischen zwei Stockwerken steckengeblieben sind. Die Stimme vermutet, daß das bestimmt wieder derselbe Aufzug sei, wie immer. Sie ist nicht erstaunt, als wir erklären, wo wir stecken.
"Bitte warten Sie noch ein bißchen; ich schicke Ihnen gleich zwei Leute zu ihrer Hilfe", erfahren wir. Und wirklich: Nach wenigen Minuten wird die Tür geöffnet, und wir sehen die Füße und Waden unserer Helfer. Etwa in Höhe ihrer Knie ist die Tür zu Ende, der Rest von ihnen, alles weiter hoch, ist verdeckt. Jedenfalls kommen ein paar kräftige Arme in unseren Aufzug, ergreifen meine Begleiter an den Händen, ziehen sie hoch, etwa ein halbes Stockwerk höher, und helfen ihnen hinaus. Übrig bleibe ich. Mit dem Rollator ginge das wohl nicht so gut, denn selbst, wenn ich ohne Rollator aus dem Aufzug käme, wäre ich gestrandet wie ein Fisch auf dem Trocknen.
Nun ist das nächste Kunststück fällig; elegant läßt sich ein Helfer in den Aufzug herab - jetzt sehe ich endlich mal sein Gesicht - und überredet den Aufzug mit ernster Miene, weiterzufahren. Muß wohl so eine Art Hypnose sein, der Aufzug jedenfalls gibt seine Mätzchen auf und ich komme an mein Ziel. Ist ja nochmal alles gut gegangen, bloß mein Vertrauen in dieses Ding ist hinüber.
Trotzdem muß ich auch weiterhin jeden Tag ein paar Mal rauf und runter damit, nicht nur zur Krankengymnastik und zum Essen, sondern auch zur Logopädie oder zum NP-Training. Natürlich auch, wenn ich nur mal vor die Tür will.
Zur Logopädie muß ich nicht an jedem Tag. Wozu Logopädie gut sein soll? Ich kann zwar halbwegs verständlich sprechen, aber bei weitem nicht mehr so gut wie früher. Spätestens abends, wenn ich müde bin, fange ich schlicht und einfach an, zu nuscheln. So ganz schön ist das ja nun nicht, jedenfalls träume ich in der Tiefe meiner Seele davon, irgendwann auch mal wieder so singen zu können, daß ich mich nicht darüber schämen muß.
Aber das dauert bestimmt noch lange. Meine alte Gesangslehrerin würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen! Ein Grund mehr, mich jetzt anzustrengen. Und NP-Training? So steht es jedenfalls in meiner Behandlungskarte. Ein Neuro-Dingsda-Funktionstraining ist das, und findet in der Obhut einer Psychologisch-Technischen Assistentin statt. Daß es sowas gibt, hätte ich mir früher nicht nicht mal in meinen finstersten Albträumen träumen lassen.
Jedenfalls muß ich zu diesem NP-Training zu Frau Fröhlich, meiner Psychologisch-Technischen Assistentin. Frau Fröhlich arbeitet nicht weit vom Snoozelraum. Auf sie muß ich meistens erstmal in einem Flur mit ein paar Stühlen warten, wo noch mehr Leute sitzen oder sich setzen, die alle zum NP-Training wollen. Wenn Frau Fröhlich kommt, sieht sie sich erst mal um, in welchem Raum was für Plätze frei sind. Denn es gibt viele Plätze in mehreren Räumen, mit und ohne Computer.
Ich kann kommen, wann ich will, immer sitzen auf den Stühle im Flur schon zahlreiche Leute, die auch alle zum NP-Training wollen. Bald sind mir die Gesichter der Leute, die meistens hier sitzen, schon bekannt. Wenn dann Frau Fröhlich kommt, lande ich meist hinter einem der Computer. Dann muß ich zum Beispiel zwei Bilder vergleichen und angeben, welche Hotels schon auf dem ersten davon zu sehen waren, oder ein Floß einen Fluß - oder besser den Bildschirm - hinab steuern, ohne in seiner Strömung oder seinen Strudeln ans Ufer zu geraten. Nein, ein Computerspiel ist das nicht; es ist NP-Training, und es geht darum, meinen Reaktionen und meinem Gedächtnis wieder auf die Sprünge zu helfen.
Natürlich geht das auch ohne Computer, und manchmal muß ich auch Fragen beantworten, um mein Denkvermögen und Gedächtnis zu trainieren (Welche Fragen? Ääh, weiß ich nicht mehr, so ganz scheint das ja noch nicht geklappt zu haben mit meinem Gedächtnis).
Aber mir sind ja noch andere Therapien verschrieben. Jeden Tag Tongruppe. Nein, das ist kein Witz; es geht darum, die Feinmotorik meiner Hände wieder etwas auf Vordermann zu bringen. Und das habe ich dringend nötig, nicht zum Nasebohren, sondern überhaupt und außerdem will ich ja irgendwann wieder gut auf der Gitarre und dem Sax werden. Und wenn ich gut sage, dann meine ich gut.
Also: In der Tongruppe arbeite ich mit Ton. Natürlich macht die Tongruppenleiterin hier ihre Vorschläge. Zum Beispiel der Bau einer hohlen Kugel, in der kleine Klümpchen klappern sollen. Aha. Zuerst soll ich, so ist ihr Vorschlag, zwei hohle Hälften formen und die dann mit einer kleinen Tonkugel zum Klimpern darin zusammenbauen. Das ist wirklich nicht einfach und ich bin schon ziemlich stolz, als ich die beiden Hälften zusammenbekommen habe, ohne sie zu zermatschen. Wahrhaftig, ich habe eine Hohlkugel hingekriegt! Das war ja nun auch nicht so klar, ob ich das schaffe. Nur schade, daß mein Werk den Brennofen nicht überlebt. Echt schade; wäre doch wirklich schön gewesen.
Aber es gibt wirklich genug Möglichkeiten. Ideen habe ich jedenfalls massig. Ich stecke meine Finger in einen Tonklumpen und entdecke, kaum daß sie wieder draußen sind, daß ein Dinosaurier daraus geworden ist. Ein Dino mit hohlem Bauch. Bei Hohlformen bin ich ja inzwischen langsam in der Übung. Nur bei Armen und Beinen bin ich zugegebenermaßen noch ein blutiger Anfänger. Aber die schaffe ich schließlich auch noch; ohne allzu große Probleme. Toll ist das. Konrad und Daniel finden das bestimmt Spitze, so einen Dino.
Finger habe ich ja nun wirklich genug; glatt zehn Stück. Jedenfalls genug, um noch ein paar andere Kunststückchen mit dem Ton zu machen. Das jedenfalls scheint die Ansicht der Tongruppenleiterin zu sein, von der ich mit meinen Werken bewundernde Blicke ernte. Egal. Das überlebe ich. Na ja; ehrlich gesagt: Mir gefallen die Dinger ja auch. Vor allem die ausdrucksvollen Gesichter, die zwischen meinen Fingern auftauchen. Und was auch schön ist: Von diesen Teilen platzt keines im Brennofen. Nur schade, daß ich, als ich sie nach Hause mitnehmen will, glatt acht oder neun Mark für den Ton bezahlen soll. Egal, gelohnt hat es sich.
Aber es gibt ja wirklich noch mehr, was sich lohnt. Snoozeln zum Beispiel, auch jetzt wieder. Jeden Freitag. Das ist ein besonderes Entgegenkommen von Frau Klett; es war ihre Idee. Wenn die Besatzung der Übungswohnung im Snoozelraum einläuft, kann ich als Gast mitmachen, obwohl ich nur ein Ehemaliger bin. Beim ersten Mal ist mir ja noch nicht so ganz klar, wo ich den Snoozelraum finden kann. Ich bin eben ein Ehemaliger; vorbei und vergessen. Nein, nicht total; aber so ganz einfach fällt es mir nicht, den Snoozelraum zu finden, nach so langer Zeit. Beim ersten Mal kommt zu meinem Glück gerade Frau Klett raus, als ich rätsele, ob ich wohl richtig bin. Ich bin richtig, ich stehe genau davor.
Ich komme hinein und höre wieder sphärische Musik, und an der Decke kreisen wieder Lichtpunkte. Ja, ja, Lightshow und psychodelisch. Das alles ist so weit weg, so lange her. Aber irgendwie berührt es mich auch diesmal, ich mag es. Jetzt aber: Wo lege ich mich am besten hin, wo mache ich am wenigsten Streß? Da ist ja immer noch das Becken voller Bälle; mal sehen, ob ich da gut über den Rand komme. Jetzt muß ich ja nicht erst vom Rollstuhl runter und hinterher wieder rauf; einfach mal probieren, wie das mit dem Rollator geht.
Die Schuhe ausziehen muß ich natürlich schon vorher, auch wenn ich mich auf diese Liegefläche gleich neben dem Stapel Decken lege. Seltsamerweise ist ja ausgerechnet dort meistens noch Platz frei; ganz anders, als auf dem Wasserbett. Was daran eigentlich so gut ist, weiß ich nicht. Ich war noch nie auf einem.
Wenn Schluß ist mit der Snoozelei, macht Frau Klett die Musik aus und das Licht an; und dann hören die Lichtpunkte auf, an der Decke herumzukreisen. Jetzt kann ich endlich sehen, wer eigentlich die ganze Zeit mit mir gesnoozelt hat. Es sind die Leute, die jetzt in der Übungswohnung untergebracht sind; ich kenne sie nicht. Ein paar traurige Gestalten sind auch dabei. Auch jetzt kommen einige von ihnen alleine nicht mal aus dem Rollstuhl raus und wieder rein. Frau Klett muß sie rein und raus hieven, sie kommt mächtig ins Schwitzen; wie immer, also.
Snoozeln ist das letzte, jede Woche. Danach kommt nur noch das Wochenende. Nur noch das Wochenende? Stimmt nicht; erstmal muß ich ja noch den Freitag ganz hinter mich bringen. Also eine Runde Gitarre spielen (dazu muß ich mit diesem Aufzug hoch; immer mit der bangen Frage im Hinterkopf: bleibt er wieder stecken? Tut er aber nicht).
An jedem Tag passe ich darauf auf, daß ich meine Stunde Gitarreüben zusammen kriege. Etwas Zeit dazu habe ich ja meistens schon morgens; und ich achte darauf, sie nicht zu versempeln. Den Rest schaffe ich oft erst nach Ende meines Reha-Programmes. Hauptsache, ich schaffe es, und das tue ich allerdings. Im Allgemeinen kann ich auch noch eine Runde vor die Tür. Bei dieser Gelegenheit spätestens kriege ich mit, wie warm oder kalt es ist. Ob es gerade mal nicht regnet, weiß ich meistens schon vorher, dazu muß ich schließlich nur ein paar Blicke aus dem Fenster werfen. Oft sehe ich dabei, wie die Suppe über dem Siebengebirge runterkommt, und das auch dann, wenn es hier um die Reha gerade mal trocken ist.
Also mal gucken, wer heute wieder vor der Türe ist. Hat ja was, dieses Vordach. Vor dem Regen geschützt ist man da wenigstens, und Bonn liegt ja nun nicht gerade in der Zentralsahara. Und ein paar Hühner sind auch wieder da, eins, zwei, drei... nein, dahinten ist noch eins, ein Hahn. Mir wird ja nicht so ganz klar, was die eigentlich wollen vor dem Eingang, aber ihre Spuren, die liegen mir klar vor Augen.
Jetzt aber langsam in Richtung Kantine, schließlich ist nun Zeit zum Abendessen. Ich komme genau richtig, sie macht gerade auf. Und da hinter der Säule, wo ich so oft sitze, ist heute sogar noch der Platz frei! Mal gucken, wie lange das heute dauert, bis ich drankomme. Auch an den anderen Tischen sitzen wieder die, die immer dort sitzen. Und dort hinten kommt schon der Typ, der sich so oft an meinen Tisch setzt. Aha. Die Blonde bedient heute wieder. Hoffentlich kommt sie bald, dann kann ich noch Pumuckl sehen. Pumuckl finde ich gut. Der bringt in meiner Seele echt Leben in die Bude.
Es klappt, und ich muß nicht ewig auf mein Abendessen warten. War ja nicht gerade sicher. Also sage ich "Tschüß" zu dem Kerl, der mir gegenüber sitzt, schnappe mir den Rollator und stürze mich in Richtung Fernsehraum; also raus aus der Kantine, scharf links um die Ecke, rein in den Aufzug - zum Glück ist er gerade frei - und diese Meterunddreißig tiefer. Und da ist ja auch schon der Fernsehraum; die paar Meter schaffe ich auch noch.
Sogar ein Platz für mich ist frei und es läuft kein anderes Programm im Fernsehen. Niemand will gerade unbedingt was anderes sehen. Klar, die meisten sind zum Essen fassen oben. Immer ist das ja auch nicht so.
Während ich mich den Abenteuern von Pumuckl und Meister Eder hingebe, wird der Fernsehraum langsam voller, ganz egal, in welchem ich grade bin. Denn Fernsehräume gibt es zwei, einen kleinen und einen sehr großen. Beide füllen sich langsam, während das Abendessen seinem Ende entgegen geht. Bei weitem nicht alle wollen hier in die Glotze glotzen, viele unterhalten sich einfach, spielen Karten oder treffen sich mit etwas zu Essen oder zu Trinken. Natürlich nichts Alkoholisches, das würde ja der Hausordnung widersprechen, und wer sich nicht an die Hausordnung hält, dem droht die Reha-Entlassung.
Will ich wirklich nicht riskieren, abgesehen davon, daß ich meinen angeschlagenen Gehirnzellen auch keinen Alkohol zumuten will. Schließlich will ich noch viel gesünder werden, selbst wenn ich selber mir das nicht richtig vorstellen kann. Und arbeiten würde ich auch gerne wieder.
Viele der Gesichter im Fernsehraum kenne ich jetzt nach einer Weile ja schon, und die Leute dazu kennenlernen kann man gerade hier besonders gut. Na, den Bernd, den kenne ich ja schon vom letzten Mal, das ist klar. Aber wer ist diese Frau mit den hellen Locken, die auf mich zustürzt und meint: "Hallo, Reinhard"? Und dann behauptet sie noch, wir würden uns doch aus der Übungswohnung kennen. Komisch, da war ich ja wirklich mal. Und dann erzählt sie noch eine wilde Geschichte. Ich wäre aus Versehen in ihr Zimmer gekommen und so, und sie fragt: "Weißt du das denn nicht mehr? Erinnerst du dich denn gar nicht mehr? Ich bin doch die Brigitte. Damals haben wir uns ganz gern gemocht."
Komisch. Wirklich sehr seltsam, daß ich davon nichts mehr wissen soll. Aber es muß ja wohl was dran sein. Woher soll sie sonst wissen, daß ich in der Übungswohnung war? Sogar, wo mein Zimmer lag, weiß sie noch.
Bald lerne ich auch noch andere Leute kennen, zum Beispiel die Gabi. Gabi ist Krankenschwester. War sie jedenfalls. Arbeiten kann sie jetzt nicht mehr. MS. Das ist Multiple Sklerose. Bei ihr ist es so weit, daß sie nicht mehr gehen kann und im Rollstuhl rumfährt. Schade. Gerade 28 Jahre alt und Krankenschwester aus Überzeugung. Und dann das. War bestimmt eine gute Krankenschwester, die Gabi.
Auf jeden Fall sehe ich die Gabi oft, egal, ob im Fernsehraum, vor der Haustüre oder sonstwo bein Rumgurken mit ihrem Rollstuhl. Manchmal spielt sie im Fernsehraum Karten. Einmal sehe ich sie da auch in ihrem Rollstuhl mit einer ganzen Gruppe von Leuten, die Kekse und Schokolade essen. Natürlich trinken sie auch etwas, und Spiele spielen sie auch. Klaus ist auch dabei. Klaus ist ganz in Ordnung. Oft sitzt er zum Essen mit mir am Tisch. Im Rollstuhl, denn sehr fit ist Klaus nicht.
Klaus leidet - und er leidet wirklich - an Muskelschwund, und es ist garnicht so klar, wie lange er noch leben wird. Bald schon sitze ich neben ihm und wir unterhalten uns lange. Seit wir uns kennen, kommt er oft zum Essen an meinen Tisch. Jetzt lernen wir uns noch besser kennen, und er klärt mich auf, daß er schon bald entlassen wird. "Das gibt eine tierische Fete, und dich lade ich auch ein dazu."
So lerne ich Klaus endlich richtig gut kennen, abends im Fernsehraum, kurz nach der Tagesschau. Bei leckeren Keksen und Schokolade, gemütlich und entspannt.
Wieder und wieder muß ich darüber staunen, wieviele Rollstuhlfahrer ich jetzt kennenlerne. Wie gut geht es mir doch im Vergleich zu ihnen! Die meisten können doch vom Arbeiten nicht einmal mehr träumen. Und ich habe ja auch noch die Musik. Nur schade, daß ich hier in der Godeshöhe nicht Sax üben kann. Schade, sehr schade, denn wie soll ich so wieder wirklich gut werden darin? Auch mal wieder größere Auftritte, und vielleicht sogar Geld verdienen damit? Kommt mir auch nicht entscheidend irrealer vor, als mal wieder arbeiten zu können.
Jetzt aber muß ich wirklich so langsam hoch auf mein Zimmer. Ich werde müde und muß ins Bett, dabei gurke ich immer noch mit dem Rollator herum, obwohl meine Beine langsam ziemlich wackelig werden.
Nun aber bloß nicht übertreiben; grade morgen habe ich noch was anderes vor, als Arztbesuche. Morgen will ich zu einer Fête; und grade darum muß ich jetzt ins Bett. Also hoch mit diesem abenteuerlichen Fahrstuhl, hoch auf die B6 und ab ins Zimmer mit dem beeindruckenden Fernseher auf dem Tisch. Ich bin, wie ja meistens, als erster im Zimmer.
Jetzt aber ganz ruhig bleiben und tief durchatmen, morgen wird schließlich nicht so ein Tag wie normal. Dann ist Samstag und es gibt keine Behandlungen in der Reha, aber ich fahre auch nicht nach Hause. Vera und die Kinder sind in Urlaub gefahren, und ich will auf eine Fete in der Ubier. In der Ubierstraße haben wir mal gewohnt, und jetzt haben mich die Leute da eingeladen. Natürlich haben wir nicht alle in der Ubier gewohnt; Daniel war zu der Zeit noch gar nicht auf der Welt.
Dort war ich jetzt schonseit geraumer Zeit nicht mehr gewesen. Schon deshalb, weil ich eben so lange weg vom Fenster war. Ines war dann ziemlich entsetzt, als ich ein paar Tage vor meiner Rückkehr in die Godeshöhe kurz vorbeikam und sie da erst mitkriegte, was mir inzwischen passiert war. Ines ist die Hauptmieterin des Hauses in der Ubierstraße und die einzige, die noch von denen übrig ist, mit denen Vera und ich damals zusammengewohnt haben. Aber was heißt hier zusammengewohnt; es war und ist eine WG, also eine Wohngemeinschaft in der Ubierstraße.
Schon den ganzen Tag freue ich mich auf diese Fête; so gerne will ich mal wieder dort hin, wo ich immerhin eine Weile gelebt habe. Und vielleicht treffe ich da sogar noch ein paar mehr Leute, die ich von früher kenne, Ines und Ralf sowieso. Ralf ist der Freund von Ines und holt mich in der Reha ab, wenn es los geht. Ich hoffe ja bloß, daß ich nicht so früh müde werde und die halbe Fete verschlafe. Das wäre ja echt traurig. Jedenfalls bin ich bis zum frühen Abend noch gut untergebracht, hier in der Reha. Und bald wird mich ja schon Ralf abholen kommen; ich hoffe bloß, wir verpassen uns nicht.
Er kommt und wir finden uns ohne Probleme. Hoffentlich klappt der Besuch auch nur mit Rollator gut. Tagelang habe ich darüber nachgegrübelt, ob ich besser mit einem Rollstuhl oder Rollator in die Ubier und zurück komme. Schließlich habe ich mich für den Rollator entschieden. So spät, wie es bei diesem Besuch wahrscheinlich wird, nehme ich zwar sonst schon den Rollstuhl, aber nur der Rollator passt mit 100%iger Garantie in jedes halbwegs normale Auto; und ich weiß ja gar nicht, was Ralf für ein Auto hat. Jedenfalls so wird die Fahrt voraussichtlich problemlos. Spannend wird es erst, wenn ich müde werde und nicht mehr so gut und sicher laufen kann.
Besonders weit ist die Fahrt ja nicht, von der Reha runter bis Godesberg, nur wenige Kilometer. Na ja, es reicht gerade, um Ralf ein bißchen kennenzulernen. Als ich noch in dem Haus wohnte, war Ines noch nicht mit Ralf zusammen. Er ist ganz in Ordnung, glaube ich, aber viel Zeit haben wir nicht, um uns kennenzulernen. Schon nach ungefähr zwölf Minuten sind wir angekommen.
Richtig aufregend wird es für mich, als dieses Haus auftaucht, in dem ich mal gewohnt habe, oder genauer gesagt: Vera, Konrad und ich. Eine Zwischenkriegsvilla; ich kenne sie so gut und fühle mich fast noch ein bißchen zuhause. Aber erst mal wird es jetzt spannend. Die Fête findet im Garten und in der Küche statt, und bei dem guten Wetter heute will ich lieber erstmal in den Garten. Dazu muß ich hinter das Haus, durch die Garage und über eine Stufe. Zum Glück ist die Garage heute wenigstens aufgeräumt; häufig sah es hier auch schon ganz schön anders aus. Aber so komme ich wenigstens gut in den Garten.
Wie gut ich diesen Garten kenne, seine Büsche und seinen Rasen! Die Büsche habe ich oft geschnitten und auch den Rasen habe ich damals gemäht, natürlich alles noch ohne Rollator. Und dahinten die Birke, ist das nicht ein Hochzeitsgeschenk für Vera und mich gewesen? Und jetzt alle diese Lampions und Glühbirnen in Büschen und Bäumen, soviele gab es zu unserer Hochzeit nicht. Sogar die Nachbarn samt ihren Töchtern fallen mir jetzt wieder ein. Natürlich ist jetzt nichts zu sehen von ihnen, nur Stühle, Tische und Bänke mit Leuten darauf, die ich nicht kenne.
Aber das dauert nicht lange, und wenigstens Ines und Ralf kenne ich ja. Das ist ja wirklich ganz gut, daß ich die Ines mal wiedersehe, aber viel kriege ich nicht mit von ihr. Dazu saust sie viel zu viel rum. Schließlich muß sie ja alle neuen Gäste begrüßen, ich weiß nicht, wieviele, 40 oder 50 aus ganz Deutschland. Hauptsache, mit ein paar von denen kann ich mich irgendwann unterhalten. Und da kommt ja auch schon Wolle näher und her zu mir. Den Wolle kannte ich früher sehr gut; lange nicht mehr gesehen. Er kommt, um mir zu sagen, daß er mich zur Reha zurückfahren wird. Wenn ich müde werde, soll ich ihm Bescheid sagen.
Auf einmal ein buntes Blitzen und Grummeln am Horizont, wieder und wieder. Und da fällt mir ein, daß es heute ja Rhein in Flammen gibt; das hatte ich wahrhaftig ganz vergessen. Mehr als diesen farbigen Lichtschein und Gegrummel dazu bekommen wir hier im Garten nicht mit, dazu gibt es hier viel zu viele Bäume rundherum, von den Häusern ganz zu schweigen. Aber um das zu sehen, bin ich ja auch nicht hierhergekommen. So etwas habe ich auch schon oft genug angeguckt, wie damals, als es anfing zu regnen und ich die Suppe von Tschernobyl auf die Birne bekommen habe.
Müde werde ich ja jetzt auch allmählich, genauso, wie die anderen Gäste auch. Ein paar hauen sogar schon ab. Und da kommt auch schon Wolle und fragt, ob ich noch lange dableiben will. Ich meine: "Wäre es für dich ok, mich in zwanzig Minuten hochzufahren?" Er nickt und meint: "Geht in Ordnung."
Trotz der späten Zeit - Mitternacht ist nun schon deutlich vorüber - schaffe ich auch jetzt den Weg zurück zum Auto noch ganz gut, obwohl ich schon ziemlich müde bin: Aufstehen und im Dunklen über die Wiese, über die Stufe durch die Garage, rein ins Auto (zum Glück hat Wolle keine Probleme, den Rollator einzupacken; er paßt prima in seinen Wagen), und hoch zur Reha. Dann noch kurz "Tschüß" gesagt, rein und ab ins Bett. Vernünftigerweise war ich so schlau, mir die Erlaubnis für meinen langen Ausflug schon vorher zu holen, aber auch das war total problemlos, schon wegen des "Rhein in Flammen"-Theaters.
Und daß ich dann am nächsten Tag ein bißchen müde bin, ist wirklich nicht schlimm. Heute kann ich so schlapp sein, wie ich will, schließlich ist Sonntag. Und die Morgenwäsche erledige ich ohnehin im Rollstuhl. Selbst das Umsteigen auf den Rollator klappt einwandfrei, und auch der Aufzug runter spinnt heute nicht. Wie gut, daß ich das "H" auf meiner Essenskarte habe, also am Tisch rumsitzen und mich bedienen lassen darf. Und das Wetter draußen ist auch sehr angenehm, die Sonne scheint durchs Fenster und der blaue Himmel ist auch nicht zu übersehen.
Also gehe ich mal nach draußen; so gut wie heute sieht es da schließlich nicht jeden Tag aus. Aber nicht einfach vor den Haupteingang; den Blick auf den Parkplatz kenne ich inzwischen ja wirklich mehr als gut genug. Besser nach hinten raus, an der Küche entlang und zum Teich.
Dazu muß ich erst mal in Richtung auf diesen gewissen Aufzug steuern, aber dann rechts davon auf einen Knopf in der Wand drücken. Nein, nicht einfach so zum Gaudi, sondern dann öffnet sich die Milchglastür zu dem langen, dunklen Gang, dem kürzesten Weg hinter das Haus. An der Rückseite der Küche durch den Keller, und in der Ferne sehe ich schon die Sonne scheinen, weit weg hinter einer offenen Tür. Mit einem kurzen Blick nehme ich zur Kenntnis, daß der Gang ziemlich frei ist. Das ist ja nun wirklich nicht immer so.
Klar, dieser Gang gehört zur Küche; und auch klar, daß ich ihn gut kenne bei meiner Reha-Karriere. Also zur Küche gehört er, sonst wäre er ja auch hell beleuchtet und ich müßte auch nicht erst die Türe öffnen. Daß er so frei ist, wie jetzt grade, und ich problemlos durchkann, ist wirklich eher ungewöhnlich. Wie oft mußte ich hier nicht schon an schweren Wagen vorbei, mit denen Essen aus der Großküche auf die Stationen - ja, auch in die Übungswohnung -gebracht wird! Wagen, wie kleine, mehr als brusthohe Metallschränke auf Rädern und mit Griffbügeln. Und wie oft stehen sie nicht mitten im Gang herum! Dann komme ich nicht durch, ohne so ein Ding woanders hin zu bugsieren; einfach zur Seite schieben geht nicht. Dazu ist der Gang zu schmal. Einen Schrank zu bugsieren schaffe ich selbst mit dem Rollator, aber ein Vergnügen ist es wirklich nicht.
Jetzt aber nicht lange nachsinnen, sondern durch die Tür und ab in den Gang! Denn die Türe wird sich schon gleich wieder automatisch schließen, und ich will ja in Richtung Sonnenschein. Zum Glück ist der Gang auch nicht so richtig dunkel, dazu fällt zu viel Licht aus der Küche hinein. Schließlich läuft dieser Gang hinter der Rückseite der Küche entlang. Küche und Gang sind mit einigen Durchlässen miteinander verbunden; beim Vorbeigehen kann ich ein paar Augen auf das Gewerke im High-Tech-Standort Großküche werfen. Seht ja wirklich sehr interessant aus da hinten, aber mit so einem richtigen Durchblick werde ich dabei auch nicht gesegnet.
Hauptsache, der Weg ist frei, so kann ich problemlos in Richtung Sonne stiefeln und erblicke nach ein oder zwei Minuten den Wald hinter dem Haus. Gleich vor der Tür liegt eine Art Zufahrt mit anschließenden Parkplätzen, und dahinter fängt dann der Wald an. Das heißt, einen Teich mit Schilf gibt es auch noch vor dem Wald, eingerahmt von einer überdachten Sitzgruppe, einem Fußweg und einem Häuschen. In ihm tummeln sich zur Zeit Horden von Kaulquappen. Friedlich sieht das aus, gerade richtig für einen ruhigen Sonntag nach einer - für mich jedenfalls - ziemlich langen Nacht.
Ich steuere auf den Teich zu und überlege, ab ich mich auf die Sitzgruppe daneben oder den Rasen davor legen soll. Zum Glück gibt es auf dem Rasen eine handliche Birke, an der ich mich beim Hinlegen und Aufstehen festhalten kann. Diese Birke gibt den Ausschlag. Ich liege alleine auf dem Rasen - wieso eigentlich, bei dem Wetter ist der doch total trocken - und auf den überdachten Sitzen sitzen und unterhalten sich ziemlich viele Menschen, zum Teil sogar Leute, die ich vor dem Haupteingang bisher noch nicht zu sehen bekommen habe.
Eine ruhige Sonntagsstimmung gibt mir Gelegenheit, über das Schicksal der Kaulquappen im Teich nachzudenken - ich wünsche ihnen alles Gute, als eine Stimme herüberruft: "Hallo, Reinhard! Alles klar? Wie geht es dir?" Brigitte; ich brauche garnicht hinzugucken. Na klar, ich tue es trotzdem. Die Brigitte, vom Motorad umgenietet und jetzt dabei, zu testen, wie gut sie wieder arbeiten kann. Heute ist sie also auch mal am Wochenende da. Das habe ich nun wirklich nicht erwartet, auch sie ist am Wochenende meistens zu Hause. Weit hat sie es ja nicht, vielleicht dreißig Kilometer.
Also Brigitte und keine Kaulquappen. Na ja, ist mir auch recht. Ist ja echt in Ordnung, die Brigitte. Ich treffe sie häufig, vor dem Haupteingang, in der Kantine, oder einfach so, wie jetzt. Schön ist das, gerade an so einem Tag wie heute mit viel, viel Zeit.
Wir unterhalten uns eine ganze Weile, dann zieht Brigitte ein mitgebrachtes Buch aus der Tasche, und ich lasse den Kopf sinken. In der Sonne habe ich genug gelegen und die Kaulquappen lassen mich jetzt auch kalt. Mal sehen, hier wird es langsam langweilig. Vielleicht gehe ich mal zum Haupteingang rüber und gucke, was da los ist.
Ich ziehe mich an der Birke hoch und stiefele in Richtung Küche; dann rein in den langen Gang - mal riechen, wie heute das Mittagessen wird - und ziehe dann zum Haupteingang ab. Aber noch bevor ich da ankommen, höre ich wieder eine fröhliche Stimme: "Hallo, Reinhard. Das ist ja wirklich schön, dich wieder mal zu sehen hier."
Auch jetzt brauche ich mich nicht einmal mehr umzudrehen, um Sandra wiederzuerkennen. Das ist so klar, und außerdem ist sie ja fast schon auf meiner Höhe. Ich muß wirklich nur wenige Sekunden warten, bis sie mich überholt und ich sie ohne alles weitere zu Gesicht bekomme. Die Sandra, die ich noch von der Übungswohnung kenne, und die mich ausgerechnet dann besuchen kam, als ich zur Krankengymnastik mußte. Echt voll in Ordnung, die Sandra.
Sandra treffe ich auf Höhe der Anmeldung an der Ecke kurz hinter der Sitzgruppe; von hier aus ist schon der Haupteingang gut zu sehen, er liegt nur wenige Schritte vor uns. Die Sandra. Das ist ja wirklich eine Überraschung für mich; aber nur, weil ich nicht weiß, daß Sandra auch jetzt noch alle zwei Wochen in Reha arbeitet. Auch sie kenne ich noch aus der Übungswohnung, aus der Zeit, als sie im Rahmen ihres sozialen Jahres noch ganz regulär und die ganze Woche lang in der Reha arbeitete. Ihr soziales Jahr macht sie jetzt in einem Kindergarten weiter und erlebt dort Streß satt. An jedem zweiten Wochenende arbeitet sie außerdem noch in der Reha; irgendwoher muß das Geld schließlich kommen. Hat wirklich seine Vorteile; wir haben uns genau darum hier getroffen.
Und ich muß nur ein Wochenende in der Reha bleiben, schon laufen wir uns hier über den Weg. Das ist ja wirklich Glück; die Reha ist schließlich groß genug. Wie leicht hätten wir uns da verpassen können! Zu erzählen haben wir uns jetzt wirklich genug, wie es uns geht und was wir so treiben...
Eine schöne Überraschung; da kann die Sonne da draußen so strahlend scheinen, wie sie will, jetzt freuen wir uns vor allem über unser Treffen und unterhalten uns ausgiebig. Ewig natürlich auch nicht, schließlich muß Sandra noch weiterarbeiten. Wir hoffen beide sehr, uns noch ab und zu wiedersehen zu können. Aber erst einmal müssen wir jetzt doch erst mal Schluß machen mit dem Gequassel.
Nur ein paar Meter gehen wir jetzt noch nebeneinander her; schon am Haupteingang gehe ich dann vor die Tür, während Sandra weiter geradeaus geht, wo sie ihren wichtigen Zielen zustrebt; und draußen in der Sonne ist die Stimmung heiter, selbst die Hühner erscheinen mir etwas gelassener als sonst, wie sie da auf dem Boden scharren. Mit einem haarscharfem Blick wird mir klar, daß einige der Blumenkübel vor der Tür frisch bepflanzt sind. Das ist ja wirklich rücksichtslos, so ein Gemüse in die Aschenbecher zu pflanzen. Aber mir kann das schließlich egal sein, und gut sieht es schon aus, so was Grünes in den Blumenkübeln; ich brauche keine Aschenbecher.
Heute läuft ja wirklich alles prima hier, und wahnsinnig müde oder schlapp bin ich zum Glück auch nicht. Erst die Brigitte, dann die Sandra, und nun die Hühner, die im Sonnenschein scharren. Und dazu auch noch frisch bepflanzte Blumenkübel; das muß wohl so eine Art Glückstag sein. Aber was heißt hier schon Glückstag, schon gestern in der Ubierstraße war es auch toll, das ganze Wochenende ist echt stark. Und mir wird auch jetzt wirklich nicht langweilig, hier vor der Tür kriege ich mit, wer zu Besuch kommt, und unterhalten kann ich mich auch hier. Die Zeit jedenfalls vergeht sehr schnell dabei, da lohnt es sich kaum noch, vor dem Mittagsessen nochmal aufs Zimmer zu gehen. Obwohl, ich muß ja auch noch meine Stunde Gitarre voll kriegen. Also nichts wie hoch.
Dieses Wochenende jedenfalls bringe ich ohne Probleme hinter mich, auch ohne Familienanschluß. Und am Montag bin ich so fit, Frau Büchs mitzuteilen, was Vera am vorletzten Wochenende aufgefallen war: Mein rechter Fuß ist geschwollen. Sofort betrachtet Frau Büchs den Fuß mit ihrem geschulten Blick und verordnet mir CO2-Bäder. Sie muß sich nur kurz meinen Fuß anschauen, und schon wird ihr klar, daß er nur unzureichend durchblutet wird. Ich habe zwar noch nie solche Probleme gehabt, aber wenn soetwas jetzt doch vorkommt, wundert es mich am rechten Bein noch am wenigsten. Schließlich werden hier auch die Bewegungen nur unzureichend gesteuert, es ist ziemlich wackelig.
Für meine CO2-Bäder muß ich in die Kneipp-Abteilung. Nein, ein Luftkurort ist das nicht, aber ziemlich weit weg ist es schon. Zur Kneipp-Abteilung muß ich noch tiefer als zur Krankengymnastik, sie liegt genau darunter. Eine Turnhalle gibt es da auch noch, und sogar ein Schwimmbecken. Ich jedenfalls muß zur Kneipp-Abteilung, um mir CO2-Bäder verpassen zu lassen. Das sind Bäder mit Kohlendioxyd, also eine Art Sprudelwasser, bloß daß die Bäder nicht mit Wasser aus tiefen Quellen mit einem natürlichen CO2-Anteil gefertigt werden, sondern von Fachkräften, die extra Pulver oder Tabletten zusetzen. CO2, immer bei Kunstlicht. An Fenster hier unten kann ich mich nicht erinnern.
Diese Art von Kneipp-Erlebnis ist mir ganz neu, bisher kannte ich etwas wirklich ähnliches wie hier gar nicht und hatte bloß aus einem lang vergangenen Urlaub die Vorstellung von Waldwegen, auf denen Kurgäste im Schatten durch den Schlamm laufen. Aber ein Fachmann für so etwas bin ich damals nun doch nicht nicht geworden, und ich fange auch gleich mit einem Fehler an. Am Eingang der Kneipp-Abteilung ist die Anmeldung, und da melde ich mich an. Ich bin verwundert, daß ewig lange niemand zu mir kommt, und schließlich verziehe ich mich. Total falsch!
So läuft das eben nicht hier, so komme ich nie zu einem Fußbad! Dazu müssen die Patienten genau dort, wo sie behandelt werden wollen, ihre Behandlungskarte abgeben, und das heißt für mich, daß ich mich genau dort melden muß, wo es Behandlungen mit CO2-Fußbädern gibt. Bei manchen anderen Kneippbehandlungen müssen die Patienten ja schon draußen in der Halle warten, wie ich gesehen hatte. Verständlicherweise sind mir die entscheidenden feinen Unterschiede als Kneipp - Neuling am Anfang noch nicht so klar.
Die kriege ich erst von Frau Büchs erklärt, als ich sie frage, warum ich den langen Weg zur Abteilung Kneipp umsonst gemacht habe. Eine Unterschrift in meiner Behandlungskarte habe ich natürlich auch nicht; und wie schnell käme jetzt der Verdacht auf, ich wäre gar nicht da gewesen? Das gäbe Ärger, auf den ich gerne verzichte. Auch darum weihe ich Frau Büchs in meinen vergeblichen Versuch ein, ein Kneipp'sches Fußbad verpaßt zu bekommen, und werde von ihr aufgeklärt, was ich tun muß, um damit Erfolg zu haben.
Und schon am nächsten Tage handele ich nach ihrem Rat, und ich habe Erfolg damit. Erst muß ich also, ohne mich am Eingang anzumelden, in der Kneipp'schen Abteilung ganz durchgehen. Stattdessen muß ich dann im letzten Raum ganz geradeaus meine Behandlungskarte in ein Regal gleich links hinter dem Eingang legen. Das tue ich auch, obwohl es mir erst etwas unheimlich erscheint, mein wertvolles Dokument so einfach auf ein Regal zu legen, das ich schließlich persönlich noch nicht kenne.
Der hinterste Raum geradedurch ist nicht besonders groß, aber es sitzt schon eine Anzahl Leute hier, die verschiedene Kneipp-Bäder erhalten. Gleich davor im Flur imponiert ein gewaltiger Stapel Handtücher. Immerhin bin ich so schlau, mir eins zu nehmen. Dann gehe ich hinein und lege meine Behandlungkarte dort auf ein Regal an der Wand, wo schon eine ganze Reihe davon herumliegt.
Die Plätze mit hochgemauerten Fußbecken sind alle schon besetzt und ich setze mich einfach auf einen freien Stuhl. Gegenüber sitzt eine Reihe Leute, die ihre Arme in Eimer tauchen. Das muß ja wohl auch was mit Kneipp zu tun haben. Aus einem Nebenraum ertönen Geräusche, die sich nach Wasserspritzen und Geplätscher anhören. Ein paar Minuten später erscheint in der Tür zum Nebenraum ein Kopf und fragt nicht sehr leise: "Ist hier noch jemand, der abgespritzt werden will? Wer ist als nächstes dran?" Womit die Bedeutung der Geräusche ja wohl endgültig geklärt wäre.
Ich also sitze auf meinem Stuhl und betrachte voller Interesse die Leute, wie sie ihre Arme oder Beine ins Wasser halten. Ab und zu kommen neue Patienten zur Tür herein, zum Beispiel die arbeitsunfähige Krankenschwester in ihrem Rollstuhl. Aber nicht alle, die hereinkommen, sind Patienten. Ein junger Mann kommt herein und greift zielstrebig nach den Behandlungskarten im Regal. Er unterschreibt sie alle und macht sich daran, die Wassereimer und -becken auszuwaschen, die schon fertig benutzt und leer von Armen oder Beinen sind. Genug zu tun hat er damit.
Danach kommen natürlich gleich andere Arme und Beine hinein, deren "Besitzer" auch auf ihre Anwendung warten. "Anwendung" scheint der hier übliche Fachausdruck für das zu sein, was wir Laien schlicht als "Behandlung" bezeichnen.
Nach einer Weile sagt die Fachkraft fragend "Herr Gamme? Sie bekommen ein Fußbad?", und ich bin gespannt, ob ich nun an eins der gemauerten Fußbecken wechseln soll. Gerade jetzt sind ja alle besetzt. Aber als ich mich melde, hebt die Kneipp-Fachkraft ihre Augenbrauen und schiebt mir einen geräumigen, viereckigen Plastikbottich voll mit sprudelndem Wasser hin. Ich ziehe mir an meinem rechten Fuß Schuh und Strumpf aus und tauche den Fuß hinein. Das Wasser, in das ich meinen Fuß tauche, ist angenehm warm.
Ist ja schon was wert, und langweilig wird mir hier auch nicht. Dafür gibt es hier zu viel zu betrachten. So ein Viertelstündchen Fußbad bringt mich nicht um, und aus dem Nachbarraum kommt so ein beruhigendes Plätschern und Spritzen. Schließlich habe ich meine Kneipp'sche Anwendung hinter mich gebracht und kann meinen Fuß aus dem Wasser ziehen und abtrocknen. Aber wo steht mein Rollator? Den hat jemand auf den Flur geschoben und ich muß in die Runde bitten, ihn mir wieder hineinzubringen. Jetzt aber erst denken, dann abdüsen. Also: Erst mal muß ich meine Behandlungskarte wieder einstecken, und dann mein benutztes Handtuch vor die Tür bringen.
Das will ich ja bei meinem Abschied von einem warmen, sprudelnden Fußbad bei Spritzen und Plätschern im Nachbarraum lieber nicht vergessen. Danach gehe ich den langen Gang zurück in Richtung Ausgang aus der Kneipp-Abteilung. Links und rechts führen zahlreiche Türen in geheimnisvolle Räume, die, so vermute ich, allen möglichen Massagen und Ähnlichem dienen. Nach dem Gang durchquere ich die Halle vor der Kneipp-Abteilung, vorbei am Schwimmbad und der Turnhalle. Ich aber muß jetzt woanders hin und wieder hoch mit dem Aufzug, vorbei an der KG und bis ins Erdgeschoß.
Wenig später erhalte ich den neuesten weißen Zettel. Ich soll zur Teambesprechung kommen. Das ist so eine Art Konferenz aller, die mich hier in der Reha behandeln. Dabei soll wohl abgestimmt werden, welche Behandlung die größten Aussichten auf Erfolg hat.
Aber vorher muß ich noch zu Klaus Abschiedsfete. Doch was heißt hier: Ich muß? Ich will. Das wird ja noch spannend.
Dazu muß ich wahrhaftig ganz alleine runter nach Godesberg. Ganz alleine natürlich nicht, aber ganz ohne Vera. Klaus und seine anderen Gäste fahren mit. Das ganze soll im Irish Pub stattfinden. Das ist so eine Kneipe auf dem Globus, dem großen Einkaufscenter unterhalb der Godesburg. Die Godesburg ist vom Irish Pub auf der Globus-Dachterrasse aus wirklich nicht zu übersehen, und dorthin fährt zum Glück ein Fahrstuhl hoch.
Schon beim Überlegen, wie ich zum Irish Pub hinkommen soll, fängt das Nachdenken an: Runter nach Godesberg? Eine richtige Expedition, für mich. Klaus und Gabi sitzen im Rollstuhl. Damit fahre ich ja abends normalerweise auch herum. Und mit dem Rollstuhl war ich auch schon mal beim Globus einkaufen, damals, als ich noch in der Übungswohnung behandelt wurde. Aber passen wir drei Rollstuhlfahrer zusammen überhaupt in den Bus?
Eine gute Überlegung. Ich entscheide mich für das Abenteuer Rollator. Das ist dann schon an der Bustür besser, obwohl die modernen Busse auf dem Weg vom Reha runter nach Godesberg absenkbare Türschwellen haben. Richtig spannend wird die Strecke von der Bushaltestelle zur Kneipe. Das ist schon ein Stück, wie ich es bisher noch nie gewagt habe. Aber wer wagt, gewinnt; ich schaffe es (mit ein paar Pausen zwischendurch). Und wie man mit einem Fahrstuhl fährt, weiß ich ja nun wirklich schon.
Mit dem Fahrstuhl geht es aufs Globus-Dach vor den Irish Pub. Vor dem stehen eine ganze Menge Tische und Stühle. Wirklich gemütlich hier, auf der Terasse mit der Godesburg da oben. So, wie das Wetter heute ist, wollen wir hier draußen sitzen. Vom Nachbartisch lacht - hab ich garnicht gleich gesehen - ein Paar Augen herüber; es ist Sandra, die auch gerade hier ist. Sandra ist mit einem Freund gekommen. Bonn - und schon garnicht Godesberg - ist eben nicht ganz so groß, wie New York; da kann sowas schon mal passieren. Hat eben alles auch seine Vorteile.
Da sitzen wir also auf dem Globus-Dach; Klaus, der entlassen wird, und Gabi, dann ein paar Leute, die ich noch nicht kenne, und ich. Und am Nebentisch sitzt Sandra und grinst, wenn sie mich ansieht. Natürlich sitzen auch noch mehr Leute da, die ich nicht kenne, und bald kommt dann an unseren Tisch noch einer und will wissen, was wir denn bestellen wollen. Eine schwierige Frage für mich. Eigentlich soll ich ja noch keinen Alkohol trinken mit meinen angeschlagenen Gehirnzellen, aber nur Cola oder Mineralwasser in einem Irish Pub? Whiskey muß es ja nun wirklich nicht sein. Ich wackele ein bißchen mit dem Kopf und bestelle schließlich ein Kölsch-Cola. Ich Kölsch-Cola; ich, der Pils-Liebhaber! Aber schließlich geht es um meine Gesundheit, und da muß ich schon mal Kompromisse machen können, so bitter die auch sein mögen.
Eigentlich schmeckt mir die Kölsch-Cola sogar ziemlich gut, vor allem dann, wenn Sandra vom Nachbartisch herübergrinst. Ich kann mich also beruhigt dem Gespräch mit Klaus und seinen anderen Freunden zuwenden; gar kein Problem. Ein immer wiederkehrendes Thema sind natürlich Klaus Aussichten, wie es ihm geht und was er so vorhat. Ein paar Wünsche hat er ja schon, aber es ist überhaupt nicht klar, was davon er noch schaffen wird. Mit ihm möchte ich wirklich nicht tauschen. Aber so schön die Runde auch ist, und so gut wir uns auch unterhalten, wir müssen pünktlich zurück in die Reha. Wie lange wir jetzt auf den Kellner warten müssen, bis wir bezahlen können! (Klaus bezahlt alles. Echt gut.)
Endlich kommt der Kellner. Bei einem Blick auf die Uhr stellen wir besorgt fest, daß unser Bus in sechs Minuten fährt. Wir müssen also schnell weg; wir wollen ja pünktlich um zehn Uhr zurück sein, und keinen Ärger bekommen. Für den Hinweg haben wir eine ganze Viertelstunde gebraucht. Zum Glück ist der Fahrstuhl auch grade oben, denn so klug, vorher auf seinen Knopf zu drücken, waren wir schon. Nun aber los Richtung Bushaltestelle! Schon aus Vorsicht legen wir jetzt das reinste Dauerlauftempo vor, dabei bin ich schon ziemlich müde und möchte eigentlich nach dem Glas Kölsch-Cola lieber etwas vorsichtiger sein. Aber das hilft alles nichts: Wenn wir diesen Bus verpassen, schaffen wir es nicht mehr bis 22.00 Uhr zur Reha, und dann gäbe es Ärger für uns.
Zum Glück kommt der Bus ein bißchen zu spät. Wir kriegen ihn, und brauchen uns keine Sorgen mehr zu machen. Und was diese Teambesprechung bringt, werde ich ja wohl noch früh genug feststellen. Bin ich ja schon neugierig drauf, was das geben soll. Na ja, schlachten werden die mich schon nicht.
Ein paar Tage später ist es dann soweit, ich muß in die Teambesprechung, quer durch die Reha, etwa dorthin, wo ich sonst Logopädie oder Sprecherziehung kriege. Ich warte in einem Flur, wo ich mich zum Glück auf eine Bank setzen kann. Ganz falsch kann ich hier jedenfalls nicht sein; fast alle, die mich behandeln, warten auch schon hier. Schließlich kommt auch Frau Klett, zückt einen Schlüssel, schließt eine Tür auf und winkt mich auch in den von ihr geöffneten Raum. Es scheint der richtige zu sein, jedenfalls steht seine Nummer auch auf meinem weißen Zettel.
Frau Klett bittet die anderen Teilnehmer, vorzutragen, was sich denn so mit mir und meiner Behandlung abspiele. Komisch, daß ausgerechnet Frau Klett die Teambesprechung leitet; ausgerechnet Frau Klett, die mich doch überhaupt nicht behandelt. Muß wohl etwas Wichtiges sein in der Reha. Die anderen Teammitglieder kommen ihrer Aufforderung nach. Schließlich meint Frau Klett, daß meine Behandlung abgeändert werden solle. Ursprünglich sei von Anfang an geplant gewesen, einen Schwerpunkt auf meine berufliche Rehabilitation zu setzen; dafür sei ich aber bisher noch zu angeschlagen gewesen. Jetzt aber, so meine sie, sei es an der Zeit, das doch noch zu versuchen.
Na endlich. War mir ja auch schon aufgefallen, daß ich so nicht wieder berufsfähig werde; nicht vom Snoozeln und von Fußbädern auch nicht.
Und sie fragt mich, welche Art von beruflicher Rehabilitation ich mir denn wünsche. So ganz genau weiß ich das natürlich auch nicht. Immerhin glaube ich, daß ich jetzt noch nicht mehr als zwei Stunden sitzen und arbeiten könnte. Jedenfalls fällt mir nicht ein, welchen Beruf ich so ausüben könnte. Vorstellungen und Vorlieben hätte ich aber schon, die ich auch vortrage:
Über fünf Jahre habe ich ja schon geschrieben, Artikel und Presseerklärungen für den "Bund der Selbständigen". Na klar, sowas wie Geschäftsführer, wo ich selber entscheiden kann, was zu tun ist, wie zuletzt, fände ich schon prima; aber für so einen Beruf bin ich schlicht und einfach nicht mehr beweglich genug. Ich könnte ja kaum irgendwohin, um mich mit anderen zu treffen. Aber Presseerklärungen schreiben, das könnte ich schon; und hier könnte ich auch gleich mit Üben anfangen und Presseerklärungen über die Leistungen der Reha schreiben. Die Reha werde doch auch von anderen Organisationen getragen, die ein bißchen kostenlose Öffentlichkeitsarbeit gut gebrauchen könnten. Und für mich wäre das ein guter Einstieg in meine berufliche Rehabilitation.
Einen Moment herrscht Schweigen. Dann faßt sich Frau Klett und meint, ich könne doch ins Übungsbüro gehen. Das wäre wohl eine vernünftige, gute Lösung. Na ja, wenn sie das meint ...
Für mich wird ja nicht so richtig klar, was das soll. Ein Bürohengst war ich noch nie und will es auch nicht werden. Für mich hört sich Übungsbüro nicht halb so realistisch und eigenverantwortlich an wie mein eigener Vorschlag. Vielleicht spinne ich ja, aber im Gegensatz zur Realität riecht mir das Übungsbüro dann doch ein bißchen zu sehr nach beschützter Werkstatt. Aber das sage ich nicht auch noch. Auch sonst widerspricht niemand, und so wird die Teambesprechung beendet.
Am nächsten Tag erhalte ich eine neue Behandlungskarte. Neu steht darin Schwimmen, Gedächtnisgruppe und Übungsbüro. Täglich. Aha. Die Tongruppe fällt flach dafür.
Schwimmen habe ich ab jetzt jeden Tag. Mal sehen, was hier von meinen Künsten noch übrig ist. Schwimmen war ich nun ja schon lange nicht mehr, und mit Badehose noch viel länger; ich glaube, soetwas hatte ich zuletzt in Indien an, vor mehr als zehn Jahren. Mal sehn, wie das läuft; ich weiß nicht so recht, ob ich mich überhaupt noch über Wasser halten kann. Wo das Schwimmbecken ist, immerhin weiß ich das zum Glück: Es ist neben der Kneipp-Abteilung.
Fand ich ja noch nie gut, Hallenbäder, und das hier ist ja nun auch nicht grade ein Erlebnisbad. Aber wenn ich jetzt gut genug übe, kann ich vielleicht noch einmal in ´nen Baggersee. Also will ich mein Bestes tun und packe jetzt auch meine Badehose und ein Handtuch auf den Rollator, wenn ich Richtung Kneipp runterstiefele. Die Badehose liegt ja jetzt auch schon lange genug in meinem Kleiderschrank in der Reha, ohne daß ich sie je benutzt hätte.
Das wird jetzt anders, ich brauche sie jeden Tag. Dazu muß ich mein Gitarreüben erst mal unterbrechen, Badehose und Handtuch über den Rollator hängen und mit dem Fahrstuhl abwärtssausen. Ganz unten, vor dem Schwimmbecken, gibt es wahrhaftig einen großen Behindertenumkleideraum mit breiterer Türe, durch die ich auch mit einem Rollstuhl gut durchkäme; mit so einem Rollatorchen ist das gar kein Problem. Peinlicher ist es, wenn jemand aus dem dahinterliegenden Umkleideraum für Nichtbehinderte hier durchläuft und dann vergißt, die Türe hinter sich zu schließen. Und das ist hier fast schon üblich. Ich habe doch keine Lust, vorbeikommende Frauen zu schocken. Allen würde ich wohl nicht gefallen.
Also: Ich hänge meine Klamotten und mein Handtuch an den Haken hinter dem Stuhl in der Umkleidekabine, auf dem ich mich umziehe - Geld habe ich nie in der Tasche - und ziehe ab Richtung Schwimmbecken. Die Dusche muß ich leider auslassen; ich habe doch keine Lust, daß mein Rollator anfängt, zu rosten. Ist doch bestimmt teuer genug, das Ding. Mitnehmen muß ich jetzt nur meine Behandlungskarte, denn eine Unterschrift brauche ich auch hier. Die lasse ich entweder am Rollator baumeln, in diesem Reha-Umhängetäschchen, oder ich bringe sie sogar zur Schwimmlehrerkabine. Dafür muß ich fast am ganzen Schwimmbecken entlanglaufen; und dafür bin ich die ersten Male noch nicht fit genug (O.K., ich wußte zuerst auch einfach noch nicht Bescheid), andererseits macht das ja schon Spaß bei so einem Ausblick: genau gegenüber, hinter dem Schwimmbecken, ist eine riesige Fensterfront, wo ich genau sehen kann, wie das Wetter draußen gerade ist.
Ein paar Meter rechts an der Seitenwand steht ein Schrank, eine Art Gittergestell mit allen möglichen Schwimmhilfen, die ich um die Arme binden oder einfach in die Hand nehmen kann. Die habe ich leider auch nötig; dabei habe ich einen Jugendschwimmschein. Aber das ist lange her, und es ist gründlich vorbei. Jetzt jedenfalls kann ich genausowenig frei schwimmen, wie gehen oder Fahrrad fahren. Ich bin ja schon froh, daß ich glatt ins Becken rein- und rauskomme, wenn ich mich am Treppengeländer festhalte. Das kann nicht jeder hier, einer von den anderen Schwimmern wird mit einer Art Kran aus seinem Rollstuhl ins Schwimmbecken hinein und wieder heraus gehievt.
Ich aber stelle den Rollator gleich neben das Treppengeländer und steige in das Schwimmbecken. Besonders kalt ist das Wasser zum Glück ja nicht, nur wenn mir grade die Badehose oder mein Bauch naß werden, fühle ich mich nicht ganz so tapfer. Wenn ich dann richtig im Wasser angekommen bin, schwimme ich, wie fünf oder sechs anderen Reha-Patienten, im Schwimmbecken herum; in einem Schwimmbecken, dessen eine Hälfte so flach ist, daß ich Angst haben muß, mir beim Schwimmen die Füße am Boden zu stoßen. Dummerweise wählen die anderen Schwimmer überraschend häufig dieselbe Bahn zum Schwimmen üben, wie ich.
Ziemlich schnell lerne ich den einen der beiden Schwimmlehrer kennen, einen netten Typen. Er will gerne Baßgitarre spielen lernen und fragt mich bald, wie er das am besten anstellen kann; zum Beispiel, was er tun muß, um einen guten Lehrer am Baß zu bekommen. Zwischendurch kurbelt er mit einem Kollegen den Rollstuhlfahrer aus dem Becken. Dann bin ich ja schon froh, daß ich ohne den Kran ins oder aus dem Becken komme.
Ab und zu gibt er mir auch Tips: Meine Beine sinken schnell zu tief ab, außerdem kommen bei meiner Schwimmerei oft die seltsamsten Kurven raus; geradeausschwimmen ist eben nicht so leicht mit geschwächtem linkem Arm und rechtem Bein. Und ich habe auch nicht soviel Lust auf den Chlorgeschmack vom Wasser im Schwimmbecken. Trotz alledem versuche ich es nach einer Weile auch ohne Schwimmhilfen, und dabei kommt mir die geringe Tiefe des Beckens sehr entgegen.
So langsam bekomme ich ja doch den Eindruck, daß ich nicht mehr so ganz schnell absaufe. Hat ja schon sein Gutes, ich will doch meinem Jugendschwimmschein keine Schande machen, wenn ich schon nicht mehr arbeiten kann.
Nach dem Schwimmen muß ich erst mal prüfen, ob meine Behandlungskarte unterschrieben worden ist. Dann aber ab in die Umkleidekabine, ihre Tür zum Flur wenn nötig zugemacht, angezogen und hoch auf die B6; immer mit leichtem Grausen, der Aufzug könnte stehen bleiben Und im Zimmer erst mal die Badehose gewaschen und gründlich ausgespült; auf das Chlor in ihrem Gewebe verzichte ich gerne. Danach ist meistens erst mal eine Runde Gitarre fällig. Zum Glück treibt sich der Herr Bartosik regelmäßig woanders rum, und ich ziehe mir zum Gitarreüben die Kopfhörer an und höre Fantasy-Factory.
Es steht aber auch noch etwas Neues auf meiner Behandlungskarte: Gedächtnisgruppe. Dazu muß ich noch höher, als bisher zur Spracherziehung oder Logopädie, quer durch die ganze Reha; die Gedächtnisgruppe findet ein paar Stockwerke über dem Schwimmbecken statt, weit darüber. Auf meiner Behandlungskarte steht da so etwas von einem Herrn Weber. Na, Hauptsache, das ist kein Spinner, der Weber. Die Gedächtnisgruppe hat wenigstens etwas mit meiner beruflichen Rehabilitation zu tun, möglicherweise.
Nach ein paar der üblichen Fahrten mit verschiedenen Aufzügen - ich glaube, ich bin in meinem Leben noch nie so viel Fahrstuhl gefahren, wie jetzt - hocke ich im Flur auf einem Stuhl und harre des Kommenden, denn so richtig vorstellen kann ich mir nichts unter einer Gedächtnisgruppe. Auf jeden Fall muß ich hier wohl richtig sitzen, die Stühle im Flur sind alle besetzt. Sogar der Herr Bartosik sitzt hier; es ist das erste Mal, daß ich mitkriege, was mein Zimmernachbar so treibt, rehamäßig.
Da naht eine Gestalt mit federndem Gang und noch weniger Haaren auf seinem Kopf als ich, Bonner oder Kölner würden glatt Plät dazu sagen; er zückt seine Schlüssel und öffnet die Tür mit der Nummer, die auch auf meiner Behandlungskarte eingetragen ist. Muß der Herr Weber sein; ist ja wohl klar. Im Raum sind hufeisenförmig Tische und Stühle so angeordnet, daß wir alle Platz finden und Herrn Weber betrachten können, natürlich er uns auch.
Während wir uns auf den Stühlen verteilen - ich setze mich gleich vor die Tür, alles andere wäre mir doch zu kompliziert mit dem Rollator - betrachtet er uns aufmerksam. Das ist nicht sehr verwunderlich; schließlich will er auch wissen, mit wem er es diesmal zu tun hat. Und er stellt sich vor und erläutert uns, was hier auf uns zukommt: Herr Weber, Psychologe; und die Gedächtnisgruppe werde nicht lange dauern. Da bin ich aber gespannt. Zunächst einmal sollen wir unseren Namen auf Zettel schreiben und diese vor uns auf den Tisch stellen, dann stellen wir uns einander mündlich vor.
Bald geht es los. Herr Weber erzählt uns viel über Notizen, Terminplanung und Computer; natürlich auch über Techniken, die einem helfen, etwas im Gehirn verschütt Gegangenes wieder auszugraben. Dabei können die friesischen Inseln, aber auch die eigene Wohnung helfen. Es geht darum, Stauraum für Erinnerungen zu gewinnen, sie also etwa in Juist und Wangeroog oder einfach in der Toilette abzulegen. So, erfahre ich, kann man vieles wiederfinden - puh. Einen kleinen Test gibt es jedesmal zu Beginn der Gedächtnisgruppe: Wir werden gebeten, zu sagen, wer denn noch so im Raume sitzt. Na ja, den Herrn Bartosik erkenne ich jedes Mal, genauso wie den Herrn Weber. Schade, daß er ausgerechnet nie nach seinem eigenen Namen fragt. Und der will Psychologe sein!
Außerdem fängt nun wohl endlich ganz eindeutig meine berufliche Rehabilitation an. "tägl. Ü-Büro" steht in meiner neuen Behandlungskarte. Gemeint ist das Übungsbüro mit vielen Computern und einer guten Sicht auf das Siebengebirge. Computer stehen heute ja fast überall da, wo in einer längst vergangenen Vorzeit mal Schreibmaschinen zu finden waren. Moderne PC's sind auch viel vielseitiger, nicht nur mit ihren Möglichkeiten, Fehler ganz ohne Tippex zu korrigieren, sondern auch, alle möglichen Mätzchen über den Bildschirm flimmern zu lassen; und das ist wirklich ein großer Vorteil moderner Farbbildschirme. Auf manchen Bildschirmen flimmern Bilder, die durch ihre hektischen Bewegungen deutlich werden lassen, daß hier etwas ganz anderes getrieben wird als etwa NP-Training, vor allem an zwei Computern, vor denen ich nach Erhalt meiner täglichen Dosis Ü-Büro eine Unterschrift auf meine Behandlungskarte kriegen kann.
Im Übungsbüro sitze ich also an einem Tisch mit PC, so wie viele andere hier auch, und wenn ich aus dem Fenster schaue, kann ich den Regen über dem Siebengebirge bewundern. Nein, es regnet selbst im Siebengebirge nicht immer, und ich bin auch nicht immer mit Schreiben beschäftigt.
Ich bekomme auch noch ganz andere Aufgaben, bei denen ich berufsspezifische Fertigkeiten üben kann. So eine Liste von Installateuren, die den Auftrag erhalten, alle möglichen Heizungen in verschiedenen Bonner Stadtbezirken zu reparieren; jedem Installateur ist ein Stadtbezirk zugewiesen. Die Aufträge aus einer mir vorgelegten Liste muß ich so verteilen, daß die Wege hin und her möglichst klein sind. Einen Stadtplan bekomme ich auch dazu. Er soll mir helfen, diese Aufgabe zu lösen. Natürlich muß ich erst selber draufgucken. Denken muß ich auch selber, und zu meiner Überraschung mache sogar ich hier Fehler.
Selbst das Tippen alleine ist nicht ganz so einfach für mich; dazu ist vor allem mein linker Arm noch viel zu unsicher. Alles dauert so lange und ist so anstrengend; ich bin froh, wenn ich in zwei Stunden eine halbe Seite getippt kriege. Für irgend eine Erwebstätigkeit reicht das so natürlich bei Weitem nicht; echt ätzend.
Dabei steht mir schon die nächste Umstellung bevor: Herr Bartosik, mein Zimmernachbar, verkündet, daß es nur noch ein paar Tage dauern wird, bis er nach Hause kann. Ich kriege also schon bald einen Neuen ins Zimmer. Aber trotz aller Umstellungen bleibt mein angeschlagenes Hirn ruhig. Genug zu verkraften hat es ja.
Anders als bisher werde ich jetzt also beruflich rehabilitiert (ach, so geht das...) und lerne wieder neu schwimmen (hoffentlich!), mein Stundenplan ist ziemlich voll geworden. Der beruflichen Rehabilitation fällt die Tongruppe zum Opfer; ausgerechnet die Tongruppe! Wirklich schade ist das. Knapp wird es jetzt auch mit dem Snoozeln, ich weiß wirklich nicht, wie ich das nach dem Übungsbüro noch zeitlich hinbringen soll. Beruhigenderweise meint Frau Klett, ich könne gerne etwas später kommen.
Das tue ich dann auch und komme in den Snoozelraum, wo schon die snoozeligen Lichtflecken an Decke und Wand entlang kreisen, und eine fast meditative CD läuft. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich da hinzulegen, wo ich immer liege; alle anderen Plätze sind schon besetzt. Zum Glück sind noch ein paar Decken frei, wenigstens zudecken kann ich mich. So ist es hier richtig gemütlich und ein wirklich guter Einklang auf das Wochenende.
Ein guter und sehr angenehmer Einklang. Ein bißchen fängt das Wochenende für mich auf diese Weise schon am Freitag an. Dann ist die ganze Woche vorbei, die Kneipp'schen Fußbäder, Logopädie, Krankengymnastik, das Schwimmen und das Übungsbüro. Und Snoozeln als Abschluß. Jetzt kommt nur noch ein kleines bißchen Reha, Hühner vor dem Eingang, Fernsehraum und dann im Bett. Und ganz so wie bisher wird es ja bald sogar in meinem Zimmer in Zukunft nicht mehr sein, wenn Herr Bartosik nach Hause geht.
Aber zuerst einmal kommt das Wochenende und ich selber fahre nach Hause. Vera holt mich ab und ich sehe Konrad und Daniel. Konrad, der sich schon an mich erinnert, wie das denn früher mal mit mir war, und Daniel, der mich als halbe Leiche kennengelernt hat und sich nur langsam daran gewöhnen kann, daß ich wahrhaftig sein Vater bin.
Natürlich hängen wir nicht nur zu Hause rum; jetzt führt der Rhein ja kein Hochwasser und wir können auf den Kinderspielplatz, und Leute besuchen können wir auch. Leute kennen wir wirklich genug, nicht nur Oma und Opa, Onkel und Tanten von Konrad und Daniel, sondern auch noch ganz andere. Merkwürdig, Kinder haben fast alle unserer Freunde; und natürlich besuchen wir sie auch.
So die Posselts in Remagen. Wolfgang und Erika haben sich da vor ein paar Jahren ein Haus gebraucht gekauft, und meistens, wenn wir kommen, schüttelt uns Wolfgang nur kurz die Hand, und dann verrät das Geräusch eines Hammers oder einer Bohrmaschine, wo er sich rumtreibt. Das ist ja schon spannend, aber der Weg dahin ist genauso aufregend: Zuerst über die Südbrücke nach Godesberg, fast wie zur Reha, und dann die Ubierstraße entlang, wo ich ja früher mal gewohnt habe, raus aus Bonn und immer am Rhein am Fuße der Weinberge entlang bis nach Remagen mit seiner berühmten Brücke (na ja, heute dienen ihre Reste nur noch als Museum).
Die Kinder sind dort meistens nicht mehr lange zu sehen, sie haben genug zu entdecken, egal, ob im oder vor dem Haus. Besonders der Garten am Waldrand - das ist so anders, als zuhause.
Erstaunlich, wie wenig Streit sie hier veranstalten. Nur wenn Erika ankündigt, daß der Tisch gedeckt ist, und daß es Kuchen gibt - schwupp, sind die Kinder plötzlich alle in der Küche. Jetzt läßt selbst Wolfgang das Hämmern, und bald sitzen wir friedlich da, loben den Kuchen, ehrlich wie wir sind, und bewundern die neuesten Reparaturen im Haus.
Aber wir fahren nicht immer nach Remagen, obwohl der gute Kuchen dort lockt. Freunde gibt es auch woanders, auch für Konrad und Daniel. So bei Andrea und Jons. Vera und Andrea waren zusammen in einer Schulklasse, solange kennt Vera die Andrea schon. aus Zeiten, als beide noch nicht an Kinder gedacht haben; höchstens daran, was sie anstellen mußten, um keine zu kriegen. Zu Andrea und Jons müssen wir viel weiter fahren, als nach Remagen; sie wohnen in Limburg. Ich bin jedes mal erstaunt und wundere mich, wenn ich etwas von der Strecke wiedererkenne, die ich doch eine ganze Weile lang jede Woche mit meinem Auto gefahren bin.
Noch davor hatte ich auf dieser Strecke jahrelang meinen Daumen in den Wind gehalten, auf dem Wege von oder nach Heidelberg. Immer dann, wenn ich eine meiner Freundinnen in Bonn besuchte. Und bei meinen Eltern schaute ich dann natürlich auch vorbei. Damals kannte ich auf dieser Strecke jede Kurve und jede Leitplanke.
Aber das ist lange her, und ob ich wohl jemals wieder selber fahren kann?
Jetzt haben auch Andrea und Jons Kinder; zwei Töchter, die sich mit Konrad und Daniel gut verstehen. Das wär doch glatt ein Witz, wenn sie später mal heiraten würden. Ein schlechter Witz, meint wenigstens Vera; und ich muß schon froh sein, wenn sie "spinn nicht so rum" nur denkt.
Aber so höflich ist sie ja zum Glück; und wenn wir zurückfahren, sind wir ohnehin vollauf damit beschäftigt, den Weg zur Autobahn zu finden. So ungefähr die Richtung zur Auffahrt zu finden, schaffen wir mit vereinten Kräften, und die Autobahnbrücke hoch über der Lahn ist ja nun wirklich schon von weitem nicht zu übersehen. Zum Glück aber ist es dann selbst von Limburg nach Bonn nicht wahnsinnig weit; und die Fahrt dauert nicht lange, sodaß ich in Bonn ohne größere Schwierigkeiten von wegen zu müde bis zum Aufzug komme. Und vom Aufzug aus ist es ja selbst abends, wenn ich ein bißchen wackelig auf den Beinen werde, locker in die Wohnung zu schaffen.
Am Sonntagabend geht es wieder in die Reha, wie nach jedem Wochenende zuhause. Zunächst melde ich mich mal in der B6 zurück; die wollen jetzt wenigstens wissen, ob ich noch da oder verloren gegangen bin. Es naht die große Umstellung: Herr Bartosik geht, und mit ihm sein großer Fernseher auf dem Tisch. Mal sehen, wen ich jetzt mit ins Zimmer bekomme. Richtig spannend wird das.
Am Montag ist es dann soweit; mein Zimmernachbar wechselt. Herr Bartosik und ich verabschieden uns. So lange zusammen auf einem Zimmer, und jetzt ist das zu ende. Das ist ja schon ein bißchen komisch. Ich ziehe ab in die Kneipp-Abteilung, runter zu meinem Fußbad. Als ich wieder hochkomme und Gitarre üben will, ist Herr Bartosik schon weg, sein Bett ist abgezogen. Das ganze Zimmer sieht verändert aus; die Betten stehen jetzt ganz anders. Der Krankenpfleger, der hier am Werk ist, sieht ziemlich angestrengt aus: "Der Herr Stolpe, der jetzt zu Ihnen ins Zimmer kommt, ist Rollstuhlfahrer. Vielleicht können Sie ja ihren Rollstuhl vor die Tür stellen, wenn Sie ihn nicht brauchen? Mit zwei Rollstühlen wäre das hier im Zimmer doch bestimmt zu eng."
Ich stimme zu. Natürlich bin ich etwas unsicher dabei; für mich wird es jetzt ziemlich anders in meinem Zimmer, und nachher stört dann mein Rollstuhl womöglich im Flur. Aber Hauptsache, er wird dort nicht geklaut. Das wäre ja nicht so schön, schließlich will ich abends umsteigen und dann den Rollator in den Flur stellen.
Mein Bett steht auch ganz anders jetzt, genau wie der Stuhl, auf den meine Klamotten nachts kommen. Sogar die Gitarre muß ich woander unterbringen; aber Hauptsache, daß der neue Zimmernachbar mich in Ruhe üben läßt. Überhaupt bin ich ziemlich neugierig, was das wohl für ein Typ ist.
Grade jetzt kann ich jedenfalls nicht üben, dazu wird noch viel zu viel im Zimmer umgestellt und rumgeräumt. Vor der Krankengymnastik komme ich nicht dazu, und als ich mit meiner nassen Badehose vom Schwimmen zurückkomme, liegen schon neue Sachen auf dem anderen Bett. Der Neue ist nicht zu sehen; ich denke mal, er ist bei der Stationsärztin oder macht einen Test.
Ist ja auch gut, so kann ich wenigstens jetzt Gitarre spielen solange. Wenigstens, bis ich in die Kantine gehe, denn Hunger habe ich schon; und wenn ich dem Essensplan vor der Türe glauben darf, wird das Essen heute lecker. Also ab in die Kantine, und in der Behindertenecke mit Bedienung sitzt auch schon ein Typ am Tisch, der dort oft mit mir zusammen am Tisch sitzt. Und gut schmecken tut es auch. Mmmh. Wirklich sehr gut schmeckt das heute, wirklich.
Als ich vom Essen hoch komme und mich seelisch erst mal auf das NP-Training vorbereiten will, sitzt der Neue auf seinem Bett. Komisch ist das. Also. Rein und raus aus dem Rollstuhl, das schafft er. Er stellt sich vor und erzählt, warum er denn hier ist: Autounfall. Eine üble Sache war das in Wuppertal; denn Wuppertal ist die Stadt, wo er herkommt. Natürlich sage ich auch was. Daß ich Gitarre spiele und sehr hoffe, daß ihn das nicht stört. Daraufhin meint er mit etwas skeptischer Miene, daß ihn das nicht stören werde, natürlich nicht. Musik sei doch etwas sehr Schönes. Nur nachts, da würde er doch lieber schlafen.
Also aus Wuppertal kommt er und ist bei einem Autounfall schwer verletzt worden. Aha. Hoffentlich ist er in Ordnung. Einen Idi kann ich wirklich nicht gebrauchen bei mir im Zimmer, auch wenn ich nicht mehr so lange hier bin. Denn das ist zum inzwischen Glück klar.
Als ich diesmal - ist jetzt ja auch schon einiges her - in der Godeshöhe ankam, konnte uns auf unsere Fragen erst mal niemand sagen, wie lange ich in der Reha bleiben soll; deswegen habe ich sicherheitshalber gleich durchgegeben, wann wir nach Röbel fahren, auf jeden Fall. Inzwischen ist mir mein Entlassungstermin verkündet worden, und siehe da: Ich werde entlassen, kurz bevor wir nach Röbel fahren.
Na ja. Ein bißchen komisch ist es ja schon, tags den Rollstuhl und nachts den Rollator vor die Tür zu stellen. Aber wenn ich das nicht täte, hätten wir hier einfach zu oft zwei Rollstühle auf dem Zimmer. Und mein Nachbar würde mit solch einer Enge im Zimmer nicht zurechtkommen; darauf, irgendwann auch einmal mit dem Rollator vorwärts kommen zu können, kann er nur hoffen. Aber wenigstens muß er auch oft weg, um sich behandeln zu lassen. So kann ich ohne Probleme meine Stunde Gitarre üben, jeden Tag eine Stunde ganz in Ruhe.
So klappt es auch weiterhin ganz gut bei mir auf dem Zimmer. Der Neue hat auch genügend zu tun, so daß ich oft genug meine Ruhe habe. Nur daß er, wenn er aufs Klo geht, oder sollte ich besser sagen: fährt, die Tür hinter sich ein Stück weit offen stehen läßt, stört mich dann doch. Natürlich ist das nicht ganz einfach für ihn, mit dem Rollstuhl. Aber auch das, was ich dann zu sehen kriege, ist wirklich nicht besonders appetitlich. Darum bitte ich ihn, sich doch etwas mehr Mühe zu geben und die Klotüre hinter sich zuzumachen. Meine Bitte hat Erfolg.
Und immer bin ich ja auch nicht im Zimmer und spiele Gitarre. Ich muß nicht nur zum NP-Training, ins Übungsbüro und zur Krankengymnastik, sondern ich gehe gerne auch vor die Türe oder zum Teich hinter das Haus. Ich glaube, so langsam kenne ich die Hühner vor der Türe jetzt schon persönlich.
Zum Gitarreüben habe ich auch weiterhin genug Gelegenheit, und es bleibt nicht bei einer Stunde. Üben muß ich jetzt ja, wenn ich einmal wieder gut werden will. Aber Mist! Ich kriege das bekannte Ziehen im Unterarm links. Sehnenscheidenentzündung. Und das von so ein bißchen Üben. Das letzte Mal habe ich das vor vielen Jahren bekommen; aber da habe ich auch mehr als acht Stunden am Tag geübt. Und dann jetzt. Ist ja wirklich nicht so schön!
Ich sage Frau Dr. Büchs Bescheid; schließlich will ich die Sehnenscheidenentzündung nicht als Dauereinrichtung. Mist! Gitarreüben läuft jetzt erst mal nicht mehr. Dabei wird mir bei der Idee, Fantasy-Factory mit Roland wiederzubeleben, immer so angenehm nostalgisch. Als Gitarrist und Sänger würde ich dann auch auftreten, dabei habe ich es bisher nur mit dem Sax wieder auf die Bühne geschafft.
Frau Dr. Büchs gibt mir eine gigantische Tube mit Creme. Mal sehen, was das bringt. Na, ausgerechnet!
Gitarre kann ich jetzt also jetzt erst mal nicht üben, und NP - ich glaube, etwas Neuro-Psychologisches) kann ich jetzt auch erst mal nur ohne Computer trainieren. Wirklich schwierig wird es jetzt vor allem im Übungsbüro, zum Tippen brauche ich schließlich beide Hände. Selbst mit dem Rollator muß ich mich jetzt etwas zurückhalten. Aber Vollkommenheit ist mir bei meiner Zurückhalterei nicht vergönnt.
In einem freien Stündchen liege ich gemütlich auf der Wiese neben dem Teich und lasse es mir wohlsein. Gut ist das, die Sonne lacht vom Himmel und ich genieße die Stimmen der Leute, die in der Nähe sitzen. Das Liegen im Gras genieße ich sowieso und kann dabei die Schatten der Wolken bewundern, die über das Gras huschen.
Aber so schön es hier auch ist: Jetzt will ich mich doch lieber auch mal unterhalten. Erst gucke ich mir die Leute an, die hier auf den Bänken bei den Tischen sitzen. Mist; niemand, den ich kenne. Dann schaue ich mal, wie denn die Sonne so steht. Bringt'et auch nich. Ich denke, ich muß mal nach vorne vor die Tür.
Na ja; dazu muß ich durch den langen Gang die Küche entlang. Rein theoretisch ginge es natürlich auch anders; rein theoretisch könnte ich auch außen um die Reha rum. Ich habe schon den langen, engen Gang im Halbdunklen vor Augen, und da überkommt es mich.
Ich strecke meine Arme aus, halte mich am Stamm der Birke fest und ziehe mich hoch. Dann ergreife ich die Handgriffe meines Rollators und ziehe los. Erst mal von der Wiese runter; zum Glück liegt eine Metallplatte zum Niveauausgleich zwischen Bordsteinkante und Straße (einen Bürgersteig gibt es hier nicht, das ganze dient nur zur Begrenzung des Rasens). Dann über die Straße und an der Reha entlang Richtung Vorderseite. Dazu muß ich jetzt doch auf einen Bürgersteig.
Die Straße hier steigt leicht an (Puh!) und führt mich an dem Hühnerhaus vorbei, dessen Bewohner jetzt ja schon alte Bekannte sind. Ich komme an einer Schranke vorbei, denn jeder darf hier, wo man nur zu einem Parkplatz und eben zu dem Teich daneben kommt, nicht langfahren. Und dann, ganz oben, an der Ecke zur großen Straße vor der Reha, liegen große Steine auf der äußeren Seite des Bürgersteiges. Auf keinen Fall sollen Autos hier rüberfahren und so die Kurve abschneiden können. Und ich? Hier komme ich einfach nicht durch, mit den Steinen darauf ist der Bürgersteig schlichtweg zu schmal für meinen Rollator. Da, wo ich links ab muß, nehmen die Felsbrocken einfach zu viel Platz weg.
Mit diesem Abenteuer habe ich nicht gerechnet. Aber jetzt bin ich schon hier oben und kann mir aussuchen, ob ich umkehre und den ganzen abschüssigen Weg wieder bergab wanke oder versuche, weiterzukommen. Das ist vielleicht eine Alternative, aber eine Frage ist es nicht für mich.
Ich hebe den Rollator hoch und versuche durchzukommen. Pro Felsbrocken muß ich den Rollaror dazu ja nur einen knappen Meter tragen. Meist schaffe ich das ohne Schritt, nur mit den Armen. Aber aufregend ist es schon; und eine Garantie, daß ich nicht auf die Nase fliege, habe ich nicht.
Da! Ich bleibe an einem Stein hängen. Also höher mit dem Ding! Den Rollator reiße ich jetzt noch etwas höher und - komme vorbei. Und das war schon der letzte Stein. Jetzt noch ein paar Meter links die große Straße runter, und da ist schon der Parkplatz. Das werde ich doch wohl auch noch schaffen.
Puh. Jetzt noch ein paar Meter Bürgersteig, und dann gleich vor dem Parkplatz die Auffahrt hoch zum Haupteingang. Ja, die, auf der auch die Krankenwagen hochfahren, und genau über die auch ich zum ersten Mal zur Godeshöhe hochgekommen bin, auch in einem Krankenwagen. Egal. Die Sonne scheint auch hierhin, und vor der Türe stehen ein paar Leute, mit denen ich mich bestimmt unterhalten kann. Die Hühner sind jedenfalls schon fleißig am Werk.
An der Sonne liegt das nicht; sie lassen sich von keinem Wetter so leicht abschrecken, es könnte regnen, wie es will. Und das tut es auch, den ganzen Rest der Woche. Wir wagen uns nur ein bißchen unter das Vordach. Da macht Fußbad und Übungsbüro wirklich mehr Spaß, KG sowieso. Und am Freitag geht es wieder zum Snoozeln, garantiert ohne Regen.
Natürlich komme ich erst später in den Snoozelraum als alle anderen; ich mußte ja erst mal mit dem Übungsbüro fertigwerden. Danach und nach all den Fußbädern, Schwimmen und NP-Training ist es jede Woche ein sehr schöner Einstieg in das Wochenende. Doch als ich diesmal hineinkomme und Musik und gemächlich rotierende Lichterlein genießen will, da kommt mir Frau Klett entgegen. Mit sowas würden die anderen gestört, so spät noch kommen, nä. So gehe das nicht weiter. Wenn ich weiter so spät käme, dürfte ich in Zukunft nicht mehr mitsnoozeln.
Wirklich schade ist das, aber ich werde es überleben. Zuhause habe ich ja schon viele Jahre ganz ohne Snoozeln überlebt.
Am nächsten Tag holt mich Vera ab und bringt mich nach Hause. Vera, Konrad und Daniel, wie an jedem Sonnabend. Es gibt aber auch Unterschiede zu den Wochen zuvor: Ich nehme nicht nur den Rasierapparat und gebrauchte Wäsche mit, sondern auch die neue, dicke Tube mit Creme für die entzündeten Sehnenscheiden. Und ihretwegen suche ich nun nach einem Slidering. Das ist ein kleines Röhrchen, das ich über einen Finger stecken und mit dem ich über die Saiten glitschen kann. Damit könnte ich also Gitarre spielen, ohne meine Sehnen zu belasten. Die Bewegung Saiten rauf und runter kommt aus dem Arm.
Selbst erfunden habe ich dies Art, Gitarre zu spielen, nicht; das war wohl ein unbekannter Neger in den Vereinigten Staaten. Natürlich klingt es ganz schön anders, als mit den Fingern, und vor allem kann man damit keine Akkorde greifen. Ich helfe mir damit, daß ich die Gitarre auf G (Dur) stimme, und zwar wie A (Dur), aber einen Ton tiefer. So kann ich Lieder spielen, und andere können sie sogar wiedererkennen. Na ja. Nicht mal lange suchen muß ich nach einem Slidering, er liegt im Koffer. In einem meiner sieben Gitarrenkoffer, sonst hätte ich ihn nicht so leicht gefunden; alles andere wäre auch wirklich riesengroßer Blödsinn.
Mit meinem Slidering kann ich also auch jetzt, trotz Sehnenscheidenentzündung, Gitarre üben. Natürlich nicht viel; erstmal schaffe nur zehn Minuten am Stück, aber immerhin. Gar kein Problem habe ich mit den Fußbädern, und mit Leuten quatschen kann ich zum Glück auch jetzt, ohne daß ich Schmerzen im Unterarm bekomme. Schwieriger wird es da schon im Übungsbüro, aber zum Glück gibt es ja auch Übungen ohne Schreibmaschine, oder besser Computer. Wie zum Beispiel die mit dem Bonner Stadtplan und der Liste von Monteuren, die Heizungen einbauen sollen. Für meine Entscheidung, wer wann wo, und zwar so, daß die Wege von Auftrag zu Auftrag nicht zu lang werden, muß ich meine Sehnen schließlich nicht strapazieren. So wird manches anders; und das Snoozeln ist jetzt ja auch schon weggefallen.
Vieles hat sich jetzt verändert für mich. Kein Wunder, daß ich mich inzwischen auch ziemlich anders fühle, hier in der Reha. Ich kenne sie schon ganz gut, und nicht nur eine Station, sondern den ganzen Komplex bis zum Schwesternwohnheim. Das kenne ich natürlich nur von außen. Die Fernsehräume kenne ich auch von innen, und manchmal kann ich hier sogar Pumuckl angucken. Natürlich nur, wenn ich das selbst einstelle, aber auch das habe ich nun schon gelernt. Erstaunlich, daß das sonst keiner sehen will; mich jedenfalls erinnert Pumuckl sehr an zuhause.
Und so düse ich zwischen Pumuckl, der Krankengymnastik und dem Übungsbüro hin und her; ja, sogar ein bißchen Gitarrespielen schaffe ich mit dem Slidering. Aber immer düse ich niun auch nicht. Zum Glück; das wäre ja auch wirklich schwer auszuhalten. Es gibt noch genug Gelegenheiten für mich, Pause vom Streß zu machen; Gelegenheiten, die ich gerne wahrnehme: Hinter der Reha auf der Wiese oder vorne am Haupteingang mit bestem Blick auf den Parkplatz, wenn die Hühner gerade keine Aufmerksamkeit erregen.
Aber jetzt spiele ich doch viel weniger Gitarre als vorher; jedenfalls bleibt mir erst mal deutlich mehr Zeit und Kraft. Und Saxophon fällt in der Godeshöhe ja leider ohnehin ganz flach.

Weiter mit der aktuellen Version - dieser Teil von "…Niederschläge" enthält mir genügend Elemente eines persönlichen, auch politischen Resummees, dass ich ihn Ihnen in bester Qualität nicht vorenthalten möchte. Natürlich bleiben noch genügend Tatsachen und Argumente, die nicht in dieser "Kostprobe" enthalten sind:

Aber meine Abenteuer aufschreiben, das geht vielleicht, wenn ich es nicht übertreibe. Machbar wäre das zur Not wohl auch nur mit der rechten Hand. Das Thema, in das ich gefallen bin, ist irre genug.

Na klar, auf so eine harte Landung hätte ich gerne darauf verzichtet; sogar meine Begeisterung über mein Thema hält sich doch sehr in Grenzen. Und tierisch viel Arbeit wäre es, sehr, sehr viel Arbeit.

Vor allem muss ich erst noch ausprobieren, an was ich mich alles erinnere. Meine Tante hat da so locker vom Hocker geschrieben, ich soll mal. Hmm. Schreiben kann ich ja, habe ich lange genug getan. Und das hat Folgen, als ich jetzt mitten in der Nacht aufwache...
Meinen Erinnerungen auf die Sprünge helfen will ich so oder so, und grade für das Buch muss ich unbedingt noch in die B1. Auch wenn ich dabei nur selber sicher werde, ob meine doch eher vagen Erinnerungen zutreffen oder nur auf Einbildung beruhen. Für mich wird das gewiss so spannend, wie ich es in meinem jetzigen Zustand zulassen kann!
Wo die B1 ist, weiß ich zum Glück, na klar. Jedesmal, wenn ich meine Telefonrechnung bezahle, komme ich an dem Aufzug zur B1 vorbei. Aber ein bißchen seltsam wird mir ja schon, als ich dann auch hier hochfahre. Und dann geht die Aufzugtür auf und ich komme in die B1. Frühreha.

Schon beim ersten Blick hinein wird mir deutlich, wie vertraut mir hier alles ist. Wie oft habe ich nicht mit den Krankenpflegern und Schwestern hier gegessen! Was war das damals ein Abenteuer für mich, mich selbständig mit dem Rollstuhl raus aus meinem Zimmer zum Essen fassen zu wagen.

Hier ist alles noch fast wie früher; auf dem Korrodor stehen Betten und ich suche nach Rollstühlen. Gewiss gibt es auch einen entscheidenden Unterschied: Ich gehöre nicht mehr zu den Patienten hier.

Schräg gegenüber dem Aufzug ist das Stationszimmer, über einem brusthohen Tresen kann man durch eine Glasscheibe rein- und rausschauen. Ich gehe durch die Tür hinein und sage meinen Spruch auf: Wer ich denn bin und was ich hier will. Die Schwester hier kenne ich nicht, und ihr geht es umgekehrt genauso.

Doch es dauert nicht lange, da kommt eine Kollegin herein und alles geht mit Lachen und "Hallo!" weiter. Das gibt ein Staunen! Diese Schwester kann sich noch genau daran erinnern, wie ich noch das Sitzen auf dem Bett und später das Fahren mit dem Rollstuhl üben musste. Und jetzt bin ich mit dem Rollator da; total cool.

Nun wird auch noch ein Krankenpfleger ins Zimmer gerufen. Auch er kennt mich noch und verspricht, den Rest der Mannschaft von mir zu grüßen. Aber auch noch jemand ganz anderes kommt herein. Ein ziemlich junger Typ. Auch er hat einen Schnitt im Hals, der verrät, dass er mal beatmet worden ist. Sowas habe ich ja auch. Er meint, er sei hier ebenfalls behandelt worden. So ist das also. Ich kenne ihn nicht. Ob der Besuch hier etwas für mein Buch bringt, weiß ich nicht. Aber es ist schon gut, hier mal wieder vorbeizuschauen. Für mich persönlich schon.

Auch in die Übungswohnung gucke ich jetzt rein. Den Weg hierhin habe ich noch wirklich gut in Erinnerung, mit diesem riesigen Colaautomaten in der Ecke und dann am Ende des Flurs ganz hoch. Mal gucken; vielleicht ist ja sogar Herr Clasen da.

Ist er gerade nicht. Echt schade. Aber gut bekannt kommt mir der Laden hier auch jetzt noch vor, schließlich war ich auch lange genug hier untergebracht. Das Arztzimmer finde ich sofort, bloß wo ich hier mal gewohnt haben soll, da bin ich nicht ganz so sicher.
Aber der große Raum vor der Küche mit Blick auf die Terasse und auf die Bäume dahinter - wie gut erinnere ich mich an die Gruppensitzungen hier, bei denen alle sagen sollten, was ihnen am Herzen lag.

Sowas gibt es jetzt in der B6 nicht, wo ich jetzt untergebracht bin. Und ein oder zwei Psychologinnen habe ich dort auch noch nicht gesehen. Die Frau Klett hatte ich ja auch hier kennengelernt. (Na gut, vielleicht kennt sie mich schon von der Frühreha, aber daran kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern.)

Und an der Ecke dieses Versammlungsraumes liegt sogar wieder eine Zeitung; ich kann mich gut daran erinnern, wie ich bei einer Gruppensitzung hier aus der Zeitung vorgelesen habe. Und Bilder hängen auch wieder an der Wand (im Vertrauen, meine waren besser). Auch in die Küche muss ich jetzt unbedingt rein. Wie oft habe ich hier den Tisch gedeckt oder die Spülmaschine gefüllt! Ich würde ja doch gerne wissen, was aus den Leuten geworden ist, die damals mit mir zusammen hier in der C5 waren (C5 - jetzt werde ich aber amtlich).

Na ja. Ich kann niemanden sehen, den ich kenne. All zu lange will ich mich dann auch nicht hier rumtreiben. Und so ein bißchen nachbohren, wie das denn so war mit mir, als ich noch nicht wieder so richtig klar war, kann ich auch anders. Ich könnte ja auch die Frau Klett fragen. Die kennt mich ja wirklich gut genug; zuletzt noch vom Snoozeln.
Ich also gehe zu Frau Klett und bitte sie, mir zu helfen. Wie und wo ich sie treffen kann, weiß ich ja: In ihrem Büro, zwei Stockwerke unter der B6. Bloß wann sie auch dort ist, weiß ich nicht; aber schon nach wenigen Versuchen gelingt es mir, sie auch anzutreffen. Ich erkläre ihr, dass ich ein Buch schreiben will; und wissen, was denn so los war mit mir, will ich ohnehin auch ganz einfach so.

Natürlich hat Frau Klett nicht gleich Zeit für mich; darum gibt sie mir einen Zettel, auf dem steht, wo und wann wir uns treffen können. F-Ebene. Aha. Die F-Ebene ist die Freizeitebene der Reha, hier gibt es sogar eine Bibliothek. Wo die F-Ebene ist, weiß ich zum Glück: Sie liegt genau über der B1, und F-Ebene steht sogar in dem Aufzug dorthin; das konnte ich nicht übersehen. Sogar da war ich schon einmal irgend wann; bloß Zeit, mich öfters auf der F-Ebene rumzutreiben, hatte ich bisher noch nie.

Zum Glück muss ich nur wenige Tage auf meinen Termin mit Frau Klett warten. Mit klopfendem Herzen fahre ich auf die Freizeitebene, vorbei an der Frühreha, an die ich die frühesten Erinnerungen meines Jetzt-Lebens habe, wo ich wieder aufgewacht bin und erste Worte gesprochen habe; hoch zur F-Ebene. Und hier suche ich das richtige Zimmer, wo Frau Klett auf mich wartet. Schon nach kurzem Hin und Her finde ich sie, aber nicht alleine. Frau Papandreu sitzt neben ihr.

Ich meine, so heißt sie. Viel jünger als Frau Klett, und hübsch sieht sie aus. Sie ist auch Psychologin. Ist wohl eine Griechin, bei dem Namen. Auch eine Psychologin; ich vermute mal, noch ziemlich am Anfang ihrer Karriere.

Nun bietet Frau Klett mir etwas zu trinken an, ich kann zwischen Saft und Limonade wählen. Und fordert mich auf, ihr noch einmal mein Anliegen zu erläutern, was ich auch tue. Schließlich bin ich genau dazu hergekommen. Nochmal zu hören, was denn alles so los war mit mir, weil ich das gerne wissen möchte, und weil ich auch gerne ein Buch schreiben möchte. Frau Kletts Miene wird ernst.

"Da könnte ja jeder, der im Koma lag, auf so eine Idee kommen, und dann ein Buch schreiben", so etwa äußert sie sich. Dabei sieht sie Frau Papandreu so eindringlich von der Seite an, dass nur zu deutlich wird, wie sehr sie auf deren Zustimmung hofft. Frau Papandreu wiegt beeindruckt den Kopf. Schließlich ist Frau Klett eine wichtige Frau in der Reha. Da fehlen ihr die eigenen Worte; ja, die wären hier vollkommen überflüssig.
Von ihr höre ich nichts, ich sehe nur das sanfte Wiegen ihres Kopfes und ihrer schwarzen Locken. Frau Klett redet schließlich auch alleine genug und trifft mich mit ernsten Blicken. Ein bißchen seltsam finde ich das schon, schließlich habe ich ihr vorher gesagt, was ich von ihr will. Die Locken von Frau Papandreu gefallen mir ja schon, und auch, wie sie zierlich ihren Kopf wiegt. Aber dazu bin ich doch wirklich nicht hier hergekommen.
Aber jetzt wird es wahrhaftig doch noch interessant!

Frau Klett redet von einer Akte, von meiner Akte. Die Akte von meinem letzten Reha-Aufenthalt. Dort sei alles mich Betreffende zu finden; und wenn ich wolle, könne ich sie einsehen. Das würde ich ja wirklich gerne, und sage es. Noch einmal erhalte ich nun einen kleinen Zettel mit einem Termin bei Frau Klett, schon wenige Tage später.

Wieder dauert es nur wenige Tage, bis ich auf in ihr Büro auf der B4 kommen und Frau Klett, diesmal ganz ohne Frau Papandreu, treffen kann. Jetzt übergibt mir Frau Klett einen dicken Ordner mit Unterlagen über mich. Zum Glück gibt es in ihrem Büro einige bequeme Stühle für Besucher. Einen Stuhl kann ich jetzt wirklich gut brauchen, denn wenn stimmt, was ich jetzt lese, ist es mir lange Zeit verdammt dreckig gegangen.

Aber zum Glück bleibt es nicht beim Schrecken. Sehr gut gefallen mir meine Bilder aus der Übungswohnung, die hier ordentlich gelocht und abgeheftet sind. Ich bin geradezu erstaunt, wie beeindruckend viele Bilder sind. Na klar, früher habe ich mal überlegt, ob ich Kunst studieren soll, aber das ist schon viele Jahre her, und schließlich habe ich die meiste Zeit nur noch Musik gemacht (gearbeitet habe ich natürlich auch, abgesehen von heiraten und und und... ).

Es ist eine dicke Akte, und ich brauche eine ganze Weile, um sie so durchzulesen, dass ich wenigstens einen Überblick bekomme. Das heißt, zum Teil verstehe ich nicht so genau, was eigentlich gemeint ist. Viel zu viel Medizinisch. Hatte ich nicht in der Schule. Jedenfalls bin ich ganz froh, als ich durch bin durch den Wälzer und lasse ihn mit einem tiefen Atemzug auf den Tisch sinken. Von Frau Klett verabschiede ich mich; sie hat ja wirklich auch ohne mich genug zu arbeiten.

Puh; geschafft! Erleichtert schließe ich die Türe hinter mir und schreite von dannen. Erst im Aufzug kommt es über mich: Meine Bilder! Um die hätte ich doch wirklich bitten können. Sie gefallen mir selbst gelocht, so, wie ich sie in der Akte gefunden habe; und dort, im Reha-Archiv sieht sie doch wohl niemand an. Ich weiß wirklich nicht, was die da sollen. Wenigstens um sie bitten hätte ich ja mal können. Zu spät.

Jetzt also muss ich also erst mal die Woche hinter mich bringen, und sogar noch zwei Tage mehr; aber immerhin komme ich so rechtzeitig vor unserem Urlaub in Mecklenburg hier raus. Hauptsache, und darum mache ich schon am Wochenende vorher manches ganz anders als bisher: Ich nehme schon viele Kleider mit nach Hause. Nur, was ich für die restlichen zwei Tage noch brauche, bleibt jetzt noch im Schrank.

Ein komisches Gefühl; mein zweiter Reha-Aufenthalt geht dem Ende zu. Den Wunsch, bald wieder arbeiten zu können, muss ich mir trotzdem erst mal abschminken.

Noch aufregender wird es am Dienstag: Ich werde entlassen. Vera kommt und bringt nicht nur einen Koffer, sondern auch die Kinder mit. Den Kleiderschrank habe ich schon leergeräumt; meine Klamotten liegen auf dem Bett. Na ja, mein Waschzeug liegt noch im Badezimmer. Aber das ist auch schnell eingepackt; genauso wie die Wäsche. Und zum Stationszimmer, in dem ich mich noch abmelden muss, ist es zum Glück auch heute nicht weit.

Das ist schnell getan, und bald sind wir im Aufzug; ich mit dem Rollator und Vera mit dem Rollstuhl. Auf den haben wir die Tasche mit meinen Klamotten gelegt. Ist ja wirklich praktisch so. Bevor wir jetzt abrauschen, müssen wir erst noch mein Telefon abmelden und die Gebühren dafür bezahlen. Aber den kleinen Schlenker über die Kasse überleben wir auch.

Schwieriger wird es erst im Auto mit Kindern und Rollator hinten. Aber selbst das klappt; wenn es natürlich auch kein Bisschen bequem ist. Und jetzt erfahre ich auch, warum unsere Kinder ausgerechnet diesmal mit im Wagen sind.

Wir kaufen ein Aquarium. Konrad und Daniel haben Kaulquappen eingesammelt, und die müssen jetzt standesgemäß untergebracht werden.

Das wird ein Abenteuer! Ein Aquarium kaufen! Im Baumarkt! Und ich komme mit! Gleich auf dem Weg von der Reha nachhause fahren wir beim Knauber vorbei. Und da mit dem Rollstuhl zum Eingang und rein zum Knauber. (Als echter Bonner wissen sie, dass Knauber der Name des Baumarktes ist, und wenn Sie nicht intelligent genug sind, um sich das denken zu können, erfahren Sie es hier.)

Wie die Leute gucken; ich im Rollstuhl! Ich gucke auch. Hier gibt es ja wirklich nicht nur Aquarien, sondern auch Goldfische; und die Frauen hier sind auch nicht ohne. Bei dem Sonnenschein heute laufen die vielleicht rum, dass mir echt warm ums Herz wird.
Das ist dann schon noch was anderes, als alles, was ich in der Godeshöhe vorgesetzt bekam - und soll ich nicht in der Realität wieder so gut zurecht kommen, wie irgend möglich?

Kriege ja einfach nicht mehr viel mit vom Leben, seit ich nicht mehr arbeiten kann. Und Konzerte kann ich auch nicht mehr geben.

Selbst Aquarien gibt es hier auch genug, und was für welche! Bei manchen müssen wir uns wundern, dass sie nicht von Mercedes oder Bugatti sind - die Preise sind ganz danach. Aber das könnten die Kaulquappen bestimmt nicht so richtig würdigen, so ganz ohne Mercedes-Stern. Zum Glück gibt es ja auch preiswertere Modelle, wo die notwendigen Liter bestimmt auch reingehen, und dicht sehen die auch aus.

Wir entscheiden uns für ein preiswertes Modell, und nachdem wir mit dem Bezahlen fertig sind, geht das Einpacken los: Ich auf den Beifahrersitz, Rollstuhl und Aquarium in den Kofferraum, Rollator hinten raus, Kinder hinten rein und dann ganz, ganz vorsichtig den Rollator wieder rein vor die Kinder. Geschafft! Wir auch.

Und jetzt geht es ab nach Hause, wo die Kaulquappen auf uns warten. Alles wird jetzt ganz anders. Für die Kaulquappen, die jetzt in ihr schickes Aquarium ziehen können. Sie wollen wir behalten, bis sie richtige, gesunde Frösche geworden sind.

Dazu bin jetzt auch ich entlassen und will mein neues Leben schon noch besser in den Griff bekommen. Sogar irgendwie richtig gesund will ich noch werden, auch wenn es bestimmt noch lange dauert - es ist jeden Versuch wert.

 

Schlusswort

Wir geplant, fuhren wir also nach Mecklenburg. In meinem ganzen Leben bin ich nicht so viel im Rollstuhl durch schöne Landschaften geschoben worden, wie bei dieser Reise.
Als wir dann einen Tag vor unserer Rückkehr bei den Leuten, die für unsere Blumen und Kaulquappen sorgten anriefen, hörten wir zu unserer Freude, daß aus den Kaulquappen gesunde und kräftige Frösche geworden seien. Trotzdem können die lieben Tierchen hier keine Rolle mehr spielen.

Ihr Aquarium auf unserem Balkon fanden wir nur noch leer vor. In der Nacht hatte ein kräftiges Gewitter gewütet, das die Frösche so erschreckt haben mußte, daß sie herausgesprungen waren. Das heißt, vollkommen leer war das Aquarium nicht. Von einem Frosch fanden wir noch die Leiche. Zum Vorbild nehmen konnte ich sie mir so natürlich nicht.

Vor allem aber ist mein Bericht hier zu Ende. Was jetzt noch bleibt, sind ein paar abschließende Bemerkungen. In ihnen wird hoffentlich deutlich genug, dass sich mein Wirkungskreis inzwischen deutlich über Krankenhäuser oder meinen Balkon hinaus ausgedehnt hat.

Denn ich war mitten drin gewesen und bekam die volkswirtschaftlich katastrophalen und letztlich lebensbedrohenden Folgen unserer politischen Zustände außerordentlich hautnah und drastisch vor Augen geführt. Dies bürdet mir schon Verantwortung auf. Erst recht, weil meine politische Berufserfahrung mich diese Folgen in all ihrer Schwere begreifen ließ.

Oh ja, es hat sich viel geändert seit meinem zweiten Reha-Aufenthalt, und es blieb auch nicht bei ersten Versuchen, dies ganze Trauerspiel erst selbst einzuordnen und dann vernünftig zu schildern. Bevor ich darauf ein gehe, mochte ich noch einige Punkte meines Berichtes klar stellen oder einfach erläutern. Ich denke, ich kann ruhig mit der Godeshöhe beginnen.

Mit der Godeshöhe und ihrer großen Fensterfront zum Eingang und Parkplatz hin: Das ganze Gebäude sieht mir sehr so aus, als sei es in den siebziger Jahren gebaut worden. Jedenfalls stammt es nicht aus der Zeit vor dem Krieg. Das weiß ich genau; das damalige Kinderkrankenhaus Godeshöhe wurde am 18. Oktober 1944 von den Engländern mit Bomben zerstört. Dabei wollte die Royal Air Force eigentlich ein neues Zielgerät bei geschlossener Wolkendecke testen.

Aber dazu kam die Royal Air Force nicht; denn am 18. Oktober 1944 war der Himmel wolkenfrei. Als "Notlösung" bombardierten die Engländer das Kinderkrankenhaus, das mit seinem roten Kreuz auf dem Dach wirklich nicht zu übersehen war und von dem heute kein Rest mehr steht. Die frühesten Teile der heutigen Godeshöhe wurden 1954 fertig, ein Rehabilitationszentrum wurde 1978 daraus.

Jetzt zur Villa Carstanjen. Ja, Sie lesen richtig; es heißt nicht: Villa Kastanien, sondern Carstanjen. Und dass ich das nicht wußte, liegt nicht an zuviel Koma, sondern ich hatte einfach immer Kastanien verstanden.

Warum ich es jetzt besser weiß? Eine Folge der Wiedervereinigung und davon, dass Bonn nicht länger Hauptstadt ist. Viele Behörden zogen bald nach Berlin um; in die Villa Carstanjen kamen dafür Dienststellen von UN-Organisationen. So stand es in der Zeitung, und in dem Artikel las ich zu meiner Überraschung Haus Carstanjen und nicht Villa Kastanien. Ein Foto beseitigte jeden Zweifel daran, dass das Haus gemeint war, in dem mein Vater gearbeitet hatte; eine schöne, ehrwürdige Villa.

Nun lassen Sie mich mit einigen Bemerkungen zu dem beginnen, was ich als Schwerbehinderter und Erwerbsunfähiger seit meinen ersten Rehaaufenthalten erlebt habe - denn davon habe ich noch genug mit gemacht, dass ich keine Sehnsucht nach mehr habe.
Natürlich erwarb ich bei meinen Gelegenheiten etliche neue, bisweilen überraschende Einsichten.

So erfuhr ich, dass KG nicht etwa die Abkürzung für Krankengymnastik ist, sondern "kalt und grausam" bedeutet. Und als ich beim Konzentrationstraining am Computer anmerkte, dass mich der Name des verwendeten Programmes "Reha-Soft" bedenklich an "Matschbirne" erinnere, fing meine Trainerin zu lachen an und meinte, auf so etwas seien auch schon andere gekommen. Ein Patient habe am Bahnhof ein Taxi in Richtung "Hotel Weiche Birne" dirigiert und sei problemlos angekommen.


Mit meiner beruflichen Rehabilitation wurde es trotz aller Reha-Aufenthalte, selbst im Schwarzwald, leider auch später nichts. Ich musste verrentet werden. Deshalb muss ich mir einiges abschminken; wie Arbeiten, und Skifahren sowieso. War ich mal recht ordentlich drin.

Statt dessen habe ich seit 2001 eine Tochter als drittes Kind, und besuchte sowohl Asien als auch Afrika. Das kann aber in keiner Weise darüber hinweg täuschen, das ich die viele Jahre lang in einen zum großen Teil leeren und außerordentlich schmerzhaften Alltag lebte.

Das mit dem schmerzhaften meine ich sehr wörtlich. Na klar schaffte ich es ein paar Jahre später schon wieder aus der Wohnung raus. Doch tat mir bis 2006 jeder Schritt so weh, als ob ich gefoltert würde. Zeitweise fuhr ich die 250 m zum nächsten Geschäft mit dem Dreirad, alleine der Weg durch den Laden schmerzte schon mehr als genug.

Aufgrund meiner besonderen Lage wurde ich auch mehrfach Opfer von Dieben und Betrügern. Um z. B. meine für mich alleine eigentlich zu große Wohnung sehr nahe an sowohl einer Bahn-Haltestelle, als auch an einem Lebensmittelgeschäft halten zu können, vermietete ich ein Zimmer unter.

Es wurde ein teurer Notbehelf. Wenn ich den Wegfall dieses Untermieters auch noch verschmerzen konnte, tat mir doch weh, war er so alles mitgehen ließ: Meine komplette CD-Sammlung, fast alle meine Uhren, vor allem eine alte Golduhr, die mir mein schon lange toter Urgroßvater zur Konfirmation geschenkt hatte, ein Siegelring mit unserem Familienwappen, geerbtes Silberbesteck, und vieles mehr.

Mit vielen Teilen des Diebesgutes verband mich eine persönliche Geschichte; und nicht alle der CDs waren noch erhältlich. Ich will hier auf keine weiteren Einzelheiten eingehen, aber ich kann Ihnen versichern, dass ich heute um einige 10.000 Euro reicher wäre ohne solch mittelbare Folgen meiner Verletzung.

Seit 2005, und erst recht seit 2006, erhalte ich endlich wieder gute Rückmeldungen zu meinem Gitarre- und Saxophonspiel; und selbst beim Singen und Ausflügen auf die Bassgitarre kommen keine Klagen. Seit 2010 gebe ich sogar selber zu, dass ich mich als Musiker wieder hören lassen kann. Ein sehr angenehmes Ergebnis meiner systematischen Arbeit an der eigenen Persönlichkeit. Nur dass ich eben trotz dem kaum noch Texte kann.
Leider bekommen die meisten Musiker der Region das aber nicht mit, da ich bei der größten noch existierenden Bonner Session "ewiges" Hausverbot habe - als ich dort nicht mitspielen durfte, hatte ich in einer anderen Kneipe eine Zeit lang meine eigene organisiert; öfter kam selbst ein Musiker aus Aachen zu "meiner" Session.

Seit 1994 habe ich deutlich mehr als zehn Anläufe gemacht, die absurden Ereignisse, die ich hautnah erleben musste, aufzuschreiben. Und erst jetzt, gut siebzehn Jahre nach meiner Verletzung, glaube ich, das Geschehen mit seinen menschlichen und volkswirtschaftlichen Folgen im Wesentlichen angemessen geschildert zu haben. Dazu gehören meiner Meinung noch noch einige Anmerkungen zu dem geschilderten Geschehen oder politischen, nennen wir sie Phänomene.

So erfuhr ich dann 2009, dass eine meiner Großmütter doch in der Partei gewesen war, gemeint ist die NSDAP. Ich erfuhr es von einer vierteljüdischen Enkelin - richtig, meiner Cousine. Die berichtete mir auch, dass ihre halbjüdische Mutter froh gewesen war, als sie die Gelegenheit erhielt, ihren Arbeitsdienst bei ihrer (damals noch zukünftigen?) Schwiegermutter, meiner Großmutter, und damit in sicherem Umfeld ab zu leisten.
Denn als Parteimitglied konnte die meiner halbjüdischen Tante genau dies bieten. Ja, die Zeitgeschichte ist manchmal farbiger, als erwartet. Ich hoffe, ich kann dies in "Gelegentliche Niederschläge" deutlich werden lassen.

Oh, es ist viel geschehen, seit dem ich mit der Niederschrift dieses Berichtes begann. Damals vor einem Bildschirm, auf dem alle Zeichen auf dunklem Hintergrund grün angezeigt wurden. Ich weiß es nicht mehr genau, aber ich glaube, damals musste ich meinen Computer etwa eine halbe Stunde vor Arbeitsbeginn erst noch mit Kohle anheizen.

Und dann, als ich mal wieder in die Godeshöhe kam… beim Bezahlen der Telefonrechnung wurde mir eröffnet, dass ich schon fast zum Inventar gehöre. Ich nutzte die Gelegenheit, nachzufragen, ob ich in "Gelegentliche…" wahre Namen benutzen dürfe.
Denn da dieser Bericht von realen Personen und Tatsachen handelt, wollte ich diese auch nachprüfbar benennen.

Auch Frau Mehnert hörte meine Bitte und fragte mich, wieso eigentlich ich nicht auch sie frage. Sie konnte mir nur mit Mühe glauben, dass sie in meinem Buch gar nicht vorkomme. Wo sie doch so viele drollige Geschichten mit mir erlebt habe, damals, als ich noch Insasse der Übungswohnung gewesen sei.

Nach ihren Aussagen und denen von anderen musste es fast ein Wunder sein, wie fit ich schon damals wieder war. Trotzdem: Diese Geschichten kommen hier nicht mit rein! Auch Wunderkinder müssen bescheiden sein (wäre das nicht ein toller Buchtitel gewesen?).

Eine ganze Weile fragte ich wegen der Erlaubnis, jeweils den richtigen Namen nennen zu dürfen, herum. Ich will es hier nicht zu lang machen, sondern es dabei belassen, dass meine Krankengymnastinnen durchweg mit der Nennung ihrer Namen einverstanden waren, während Ärztinnen und Psychologinnen die Nennung ihres wahren Namens ausnahmslos verweigerten. Warum wohl? Lediglich Herr Weber hatte hier keine Bedenken.

In dieser Sache schrieb ich auch nicht nur nach Frankreich und Heidelberg, sondern bis in den Himmel, wenigstens heißt die Straße Himmelstraße; sie liegt in Kalifornien, und der Ort heißt Paradise. Also. Insgesamt stimmen jetzt die meisten Namen; genug Arbeit war es jedenfalls.

Gut verstehen kann ich den Terroristenjäger, der mir schrieb: "In Absprache mit meinem Dienststellenleiter darf ich Sie bitten, meinen Namen nur in abgeänderter Schreibweise in Ihrem Buch zu verwenden." Ich bin doch erstaunt, dass er vorher seinen Chef fragte.
Eine Besonderheit bildet der Fall Frau "Nettekoven". Es ist, Sie haben es sicher schon erraten, ein Deckname. Mir scheint, dass Frau "Nettekoven" eigentlich nichts gegen die Nennung ihres Namens hatte, aber sie fragte vorsichtshalber erstmal ihre Vorgesetzte, Frau J.

Die meinte, sie könne das nicht genehmigen, das Buch liege ihr nicht vor. Aber die Reha Reha nennen, das dürfe ich schon.

Dies erfuhr ich, als ich nach Wochen zum zweiten Male bei Frau "Nettekoven" anrief. Dabei lagen inzwischen schon zwei Exemplare meines Textes in der Godeshöhe. So lernte ich auch mal persönlich die Folgen des Urteiles des Bundesverfassungsgerichtes kennen, mit dem es die Informationelle Selbstbestimmung erfunden hatte. Auf dem Schutz der Informationellen Selbstbestimmung herum reiten, aber den Schutz von Leib und Leben zur Glücksache werden lassen…

Vielleicht ist Frau J. - die Initiale stimmt - irgendwie mit St. Bürokratius verwandt oder verschwägert? St. B., ick hör Dir trapsen!

Leider konnte ich nach all meiner Mühe mein ursprüngliches Konzept bezüglich der Namen doch nicht durchhalten, alles andere wäre zu gefährlich für mich gewesen. Nachdem ich, es ist nun auch schon einige Jahre her, aus dem Büro des seinerzeitigen CDU - Generalsekretär Hintze gefragt wurde, ob ich denn noch nicht genug verletzt sei, entschloß ich mich, alle Angaben zu ändern, nach denen ich selbst oder meine Familie identifiziert werden könnte. Und das, nachdem ich jetzt so viele wahre Namen verwenden darf!

Was war das alles für eine Arbeit, und wie jämmerlich habe ich begonnen mit meinem Hirnschaden!

Dir, Vera, schulde ich besonders vielen Dank, und nicht nur für das, was Du mir über den Geschehensablauf verraten hast. Besonders geholfen hat mir auch die Zeugin meines Hinwurfes. Darüber hinaus möchte ich Euch und Ihnen allen danken, allen, die mir bei der Recherche geholfen haben. Ich bin ja nicht sicher, ob oder wie weit ich mich selbst überhaupt an diesen 26. Mai auf der Rheinaue erinnere.

Etwa sechzehn Jahre habe ich nun mit der Arbeit an "Gelegentliche Niederschläge" verbracht; da war schon einige Zähigkeit notwendig. Und wenn ich nicht schon früher, beim Bund der Selbständigen, ein paar Jahre Zeitung, Jahrbuchkapitel und Presseerklärungen geschrieben hätte, hätte ich das ganze auf keinen Fall geschafft.
Recherchieren, formulieren und überarbeiten satt. "Gelegentliche Niederschläge" ist gewiß nicht vom Himmel gefallen (nur sein Autor).

Zum Glück hatte ich schon zu einer Zeit mit seiner Niederschrift angefangen, als ich noch nicht vernünftig schreiben konnte. Da waren irgendwie immer solche Dinge im Text.
So früh und fast reflexartig zu schreiben begann ich nur aufgrund meiner Berufserfahrung als Autor; zu einem Zeitpunkt, als ich weder einen Überblick über den Geschehensablauf hatte, noch schon wieder vernünftig formulieren konnte.

Damals war mir auch noch nicht klar, dass ich die volkswirtschaftlich ja durchaus erheblichen Folgen der Politischen Gewalt und ihrer systematischen Duldung ganz klar benennen und begründen müssen würde. Und auch nicht, wie weit ich persönlich nach meiner Verletzung von mir selbst und meinen Gefühlen entfernt war - und dass ich so natürlich auch nicht über die emotionalen Aspekte des Geschehens schreiben konnte.
Schon aus diesen Gründen musste ich "Gelegentliche ..." dann wieder und wieder überarbeiten. Aber nur so können Sie heute von Ereignissen lesen, an die ich mich inzwischen nicht oder kaum noch erinnern kann. Für mich wurde "Gelegentliche ..." so zu einer sehr persönlichen Datenbank.

An ihr übte ich viele Jahre lang präzise Formulierungen und die exakte Beschreibung der Handlungen bestimmter Personen. Und dabei hat meine linke Hand, deren Bewegungen ich nicht mehr so geschickt steuern kann, wie vor meinem Sturzflug, eine dicke Portion Übung erhalten. Eine Reha-Maßnahme, geradezu.

Ich will gar nicht darum herum reden, dass ich, um diesen Bericht in der nun erarbeiteten Qualität vorlegen zu konnen, vor allem auch an mir selbst arbeiten musste. Denn natürlich verursachten der Angriff gegen mich und meine fast tödliche Verletzung ein schweres Trauma.

Es ist ganz typisch, dass ich danach jahrelang ohne Emotionen leben musste. Das muss ich nach meinen Erfahrungen der klassischen Psychologie vor werfen: Sie mögen viel über die menschliche Psyche wissen, aber bei einem Kernproblem, der Integration von Emotionen in die Persönlichkeit, tapsen Sie ziemlich im Dunkel.

Zum Glück hatte ich mal eine Freundin gehabt, die vorhatte, Psychotherapeutin zu werden. Die hatte mich zu teilweisen recht abstrusen Workshops und Therapiezentren mit geschleppt. Als sie sich von mir trennte, hatte sie mir aber auch vor geschlagen, am Workshop einer sehr wirksamen Therapierichtung teil zu nehmen.

Dafür bin ich bis heute sehr dankbar. Vor langer Zeit war ich ein Student gewesen, der sein Studium ziemlich verträumt hatte. Seit dieser Erfahrung hatte ich an mehreren Workshops dieser Therapierichtung teil genommen und hatte gelernt, so zielgerichtet und erfolgreich zu arbeiten, dass ich 1992 von Landesjustizminister Herbert Helmrich als Geschäftsführer der Gesellschaft zur Entbürokratisierung ein gestellt wurde. Mehr noch: Mein Vorgänger hatte mich aufgefordert, mich um diese Stelle zu bewerben.

Interessiert Sie, wie ich mir soviel Gutes tun konnte? Diese Vorgehensweise ist schon seit einigen Jahrzehnten bekannt und bewährt. Nur hat sich unsere Gesellschaft mit ihrem gesundheitspolitischen Apparat all diese lange Zeit darum herum gedrückt, die ja vorliegenden Erkenntnisse und Behandlungsmöglichkeiten wirklich zur Kenntnis zu nehmen und zu nutzen. Darum wurde die gleiche lange Zeit viel zu wenig gegen menschliches Leid und wirtschaftliche Schäden unternommen.

Ich habe deshalb 2009 bei meinen Therapeuten, die auch im einschlägigen Therapeuten-Verband aktiv sind angerufen, von meiner Arbeit an diesem Bericht erzählt und vorgeschlagen, ihre auch wirtschaftlich überzeugenden Ergebnisse zu benennen, und damit auch an des Bundesgesundheitsministerium zu gehen.

Von auch wirtschaftlich überzeugenden Ergebnissen rede ich hier aus eigener Erfahrung - ich werde noch genauer darauf eingehen. Wirtschaftlich überzeugend sowohl aus Sicht der Patienten, als auch der Gesellschaft. Ein Mensch mit einer gesunden Persönlichkeit blockiert nicht seine eigenen Fähigkeiten und kann diese viel, viel besser auch zum Broterwerb einsetzen.

Es war meine Idee, diese Methode zu nutzen, um die Folgen meines Traumas nach SHT wenigstens zu vermindern. Sie können mir glauben, dass ich beim Niederschreiben dieser Worte grinsen muss; scheine ich doch weltweit der Einzige zu sein, der auf diese Möglichkeit gekommen ist.

Zunächst sagte mir der Therapeuten-Verband, dass er seit Jahren im Interessen-Gewirr fest sitze und befürchte, dass die hier vorhandenen Möglichkeiten nur unabhängig von denen, die sie erarbeitet haben, in einer Billig-Version verramscht werden. Darum bat er mich, die Einführung dieses Potentials in die offizielle Gesundheits-Politik ihm zu überlassen.

Das sah ich ein. Nur im Bewusstsein der dann weiter bestehenden menschlichen und wirtschaftlichen Schäden wandte ich mich noch einmal an die Deutsche Gesellschaft für Bonding-Psychotherapie e.V. und fragte sie, ob sie nicht doch bereit seien, sich nicht doch als sehr wirksam arbeitende Therapie-Richtung nennen zu lassen.

Sie können sicher sein, dass ich Bonding nach Daniel Casriel nur in seiner bewährten, wirksamen und menschlichen Form genutzt sehen will, und nicht als Billig-Verschnitt. An Sie, liebe Gesundheitspolitiker: Menschlichkeit ist sehr wirtschaftlich!

Ich entschloss mich zu folgendem Vorgehen: Hier die Bonding-Psychotherapie zu nennen, ohne die ich weder vom Langzeit-Arbeitslosen zum Geschäftsführer geworden wäre, noch mich von meinem Trauma so weit hätte erholen können, wie dieser Bericht beweist. Den unmittelbaren Umgang mit der Politik überlasse ich in dieser Sache dem Verband.

Kurz zur den Vorteilen von Bonding als Therapieform aus meiner Sicht: Hier geht es nicht nur darum, Wahrheiten zu benennen. Sie bietet die Möglichkeit, uns als ganze Menschen mit all unseren Emotionen zu erleben und an zu nehmen.

Natürlich müssen wir zur Verbesserung unseres Lebens oft unser Verhalten ändern. An solchen Neuentscheidungen sollte das, transaktionsanalytisch gesprochen, Kind-Ich unbedingt beteiligt werden. Deshalb kenne ich keinen besseren Weg als die Bonding-Therapie nach Dan Casriel, Leben zu verbessern, sei es nach frühkindlichen, sei es nach Traumata in unserem späteren Leben - und damit meine ich grade auch Schädel-Hirn-Traumata.

Lassen sie mich noch kurz etwas dazu sagen, wie sinnvoll es ist, sich auch um den Zustand der eigenen Psyche zu kümmern. Dies gilt grade dann, wenn Sie ein erfolgteiches, glückliches Leben führen wollen. Nun halten sich ja genug von uns ein eigenes Auto, dass ich dies als Grundlage eines Bildes dazu nehmen kann.

Nicht ohne Grund ist es inzwischen in vielen Ländern Pflicht, die Funktionsfähigkeit von PKWs mit Hilfe externer Experten überprüfen und notwendigenfalls herstellen zu lassen - wir haben den TÜV. Auch kann es nicht sinnvoll sein, sich zufrieden über ein teures Motoröl zurück zu lehnen und zu meinen: Das Überprüfen des Luftdrucks in meinen Reifen habe ICH doch nicht nötig.

Ganz gewiss sollten wir uns und der Organisation unserer Persönlichkeit nicht weniger Sorgfalt und Liebe gönnen, als unseren Autos.

So weit zu diesem Punkt.

Angesichts der damals noch viel frischeren Erinnerung an die gewaltsame Bundestags-Blockade, der ich so bitter zum Opfer fiel, fand ich noch vor meinem zweiten Reha-Aufenthalt einen Verleger für meinen Bericht. Der hatte damals noch einen anderen Namen, und war wegen meiner frischen Verletzung noch durch und durch stümperhaft formuliert.

Sogar seine ausführliche, nach meinem jetzigen Urteil viel zu nachsichtige Besprechung in einer bundesweit erscheinenden Zeitung konnte ich erreichen. Nun gut, ich war mal selbst Redakteur von "Der Selbständige" gewesen.

Nur dass ich dann von zahlreichen Lesern gefragt wurde, wo eigentlich mein Buch zu kaufen sei. Denn der "Verleger" hatte ihm nicht mal eine ISBN-Nummer verpasst, und so konnte keine Buchhandlung wissen, wo sie mein Buch eigentlich her bekommen konnte.
Und der Verleger? Verriet mir nicht einmal, wie viele Exemplare meines Buches er unter diesen Umständen trotzdem verscherbelt hatte, und zog ohne Angabe seiner neuen Anschrift um.

Natürlich war ich nicht einverstanden damit, dass dieser Politische Skandal und seine schweren wirtschaftlichen Folgen - auf beides werde ich noch gründlicher eingehen - weiterhin unbekannt bleiben sollten. Gegen Ende des letzten Jahrtausends hatte ich mich dann soweit berappelt, dass ich mich selbst daran machen konnte, meine persönliche, auch emotionelle Selbstorganisation mit professioneller Hilfe wieder auf Vordermann zu bringen; denn natürlich war auch die kaputt genug.

Erschreckend, nun mehr und mehr zu erkennen, wie die letzten Jahre an mir vorbei gegangen waren, und dass ich diese ganze Zeit kein guter Mann und Vater hatte sein können! Schmerzhaft auch die Fehler in meinem - nun konnte ich es eigendlich nicht mehr anders als Machwerk nennen.

Also entschloss ich mich, es um den Teil auch über die Zeit nach meinem ersten, sowie meinen zweiten Reha-Aufenthalt erweitert, zu überarbeiten und noch einmal verlegen zu lassen. Diesmal ließ ich es auch von einem Freund gegenlesen, der dann meinte, so sei mein Buch ganz ok.

Allerdings wurde mir schnell klar, dass das Thema in den Augen der Öffentlichkeit nicht mehr aktuell war. Einen Verlag konnte ich jetzt nur noch finden, als ich einen erheblichen Druckkostenzuschuss bezahlte.

Auch dieses Mal kümmerte ich mich persönlich um die Besprechung meines Buches, und hatte in einer bundesweit renommierten Tageszeitung sogar Erfolg. Erfolg? In der kurzen Besprechung wurde hinterfragt, wieso ich annahm, dass mein gewiss tragisches Schicksal für die Öffentlichkeit von irgend einem Interesse sein könne. Oh ja, genau dies werde ich noch ausdrücklicher belegen.

Es vergingen noch etliche Jahre, und ich berappelte mich systematisch mehr und mehr. Vor allem arbeitete ich nochmal und nochmal daran, wieder mehr Zugang zu meinen eigenen Emotionen zu gewinnen. Das hat sich allemal gelohnt!

Als ich nun Anfang des Jahres 2009 die Arbeit an meiner persönlichen, wie ich es verstand, Aufgabe wieder aufnahm, wurden mir schnell zwei Notwendigkeiten klar: Den sicherheitspolitischen Skandal, dem ich zum Opfer gefallen war, nach etlichen Jahren auch unmissverständlich zu benennen, seine volkswirtschaftlichen Folgen auf zu zeigen, und die tiefe, menschliche Tragik des Geschehens möglichst nacherlebbar zu machen.
Denn für einen Skandal halte es schon, wenn tausenden Menschen der Schutz gegen Gewalt verweigert wird. Und an die SPD: Die meisten von uns waren Arbeitnehmer auf dem Wege zu unserer Arbeit! Ich bin davon überzeugt, dass der Verlust von wenigstens hunderttausenden Arbeitsplätzen schon interessant ist, fehlen sie doch hier und heute.
Und mein "gewiss tragisches Schicksal" gibt mir eine hervorragende Gelegenheit, auf die menschlichen Folgen eines politischen Versagens bei der Wahrung gesellschaftlicher Solidarität hin zu weisen - nicht nur für mich, sondern auch für meine Familienangehörigen.

Beides hoffe ich, nun ein Stück weit "mit eingebaut" zu haben. Einen neuen Titel verpasste ich meinem Buch auch. Zuletzt hoffe ich, es noch einmal erheblich flüssiger und so formuliert zu haben, dass ich mich als alter Profi in keiner Weise mehr schämen muss. Ich denke, das ist erst jetzt fertig, und ein neues Buch.

Trotz all meiner jahrelangen Arbeit kann ich natürlich nur ein Mosaikbild vorweisen. Für einen flüssigen Handlungsablauf musste ich daher einfach auch "interpolieren". Einiges habe ich mir dazu notgedrungen einfach einfallen lassen müssen, und unter meinen Einfällen sind gewiss auch Abweichungen von der Realität. So bin ich mir ganz sicher, dass St. Bürokratius nicht ausgerechnet neben meiner Cousine Doro saß.

Ich habe viel recherchiert, selbst in den Bonner Stadtplan habe ich geguckt. Eins möchte ich jedoch klarstellen: Dort, wo Interessen der Allgemeinheit betroffen sind, habe ich nie interpoliert!

Auf jeden Fall hoffe ich, dass ich allen Personen, die in diesem Buch vorkommen, gerecht geworden bin. Bei einem können Sie ganz sicher sein: Ich möchte niemanden verletzen.

Auch niemanden, der sich als "Bimbo" angesprochen fühlen konnte. Diese kleine Geschmacklosigkeit möchte ich mir mit Blick auf die "Edelmenschen", deren "Edelmuth" zwei vollkommen unterschiedliche Maße anlegt, nicht versagen. Ganz im Gegenteil hoffe ich, mein Buch hat auch Ihnen gefallen, Frau bzw. Herr "Bimbo".

Lassen Sie mich hier bitte noch kurz eine ganz persönliche Aussage machen. Ich bin gefragt worden, ob nicht meine Verletzung doch Gutes bewirkt habe. Spätestens wenn ich an meine Kinder denke, muss ich mit einem ganz klaren Nein antworten. Ihnen habe ich viele Jahre lang kein guter Vater sein können - und dies wäre ganz gewiss meine Verantwortung gewesen.

Dies sind die für mich bittersten Folgen der politischen Gewalt gegen mich und ihrer Duldung. Die wichtigste Aufgabe von uns Erwachsenen kann es meiner festen Überzeugung nach nur sein nur sein, unsere Kinder dabei zu begleiten, glückliche Menschen zu werden.

Natürlich war ich halbtot und seelisch verstört nach meiner Verletzung viele Jahre lang nicht einmal in der Lage, zu erkennen, dass ich hierzu in keiner Weise in der Lage war.

Sollten Sie der Ansicht sein, dass ich hier zu viel auf meinem persönlichen Schicksal herumreite, darf ich dazu bemerken, dass Politik durchaus etwas mit dem Leben zu tun hat. Daran werde ich täglich erinnert, und das wird für den Rest meines Lebens wohl auch so bleiben. Das gleiche gilt umgekehrt; und schließlich habe ich nicht um dieses Schicksal gebeten.
Letztlich hat die Verwüstung des Rechtes in zwei Weltkriegen und ihrem Drumherum, wie den "Vorortverträgen", zu meiner Verletzung genauso beigetragen, wie der erste samt Nachspiel Versailles schon - und dies ist ja allgemein anerkannt - zum Aufkommen des Nationalsozialismus. Heute liefern dessen Verbrechen Neurotikern den Vorwand für ihre eigene Gewalttätigkeit unter dem Banner "Antifa".

Ob man es dabei belassen sollte?

Damit kommen wir auch schon zu dem Gesichtspunkt, der mir bei diesem Bericht am wichtigsten scheint. Für mich sind das die volkswirtschaftlichen und politischen Folgen falscher Politik, die auch Sie tragen müssen.

Denn dass für ihre Gewalttätigkeit berüchtigte Idioten von der Firma Antifa ihre Neurosen auf unser aller Kosten aus lebten, ist ein Ding. Ein anderes ist es, dass höchste politische Stellen den Schutz von Landfrieden und Menschenrechten ihren Launen opferten. So etwa nach dem Motto: Hier geht es ja nicht um unsere edlen Ausländer, sondern nur um einfache Deutsche.

Oder sind die Interessen der Allgemeinheit nicht betroffen, wenn der Bundestag blockiert wird und Deutsche mit vielfältiger, brutaler Gewalt am Weiterkommen gehindert werden? Es wird kein bisschen besser dadurch, dass es in den Augen der Täter rein symbolisch gemeint war.

Angesichts der schweren Folgen müssen auch die am Tatort und am Heimatort der Täter geübte Polizeistrategien, die NRW-Linie und das Gewähren lassen à la Schröder, aufs gründlichste hinterfragt werden.

Es reicht nicht, wenn wir uns nur über unser Vorgehen in Kundus Gedanken machen. Das "unser" geht an alle Deutschen Staatsbürger - denn wir müssen hier nicht nur zahlen, sondern sind auch verantwortlich.

Halten Sie es etwa für normal, dass die Polizei erst zahlreiche, schwere Akte von Gewalt nicht einmal zu unterbinden versuchte, die Täter unbehelligt nach Hause fahren ließ, und dann Vera zweimal die Polizei anrufen und persönlich Anzeige erstatten musste, bevor diese endlich die Ermittlungen aufnahm; dann natürlich viel zu spät und ohne Ergebnis?
Warum Sie das interessieren sollte? Weil die Einführung des Landfriedens seit dem Mittelalter und seine Durchsetzung von Anfang an auch volkswirtschaftliche Ziele verfolgte. Sein versäumter Schutz kostete in "meinem" Fall etliche hunderttausend Arbeitsplätze.

Noch nicht einmal, weil ich ein toller Typ bin. Vor allem hatte ich durch meinen Lebenslauf die Gelegenheit gehabt, aus erster Hand mit zu bekommen, wie sehr ein überbordendes Geflecht aus Gesetzen und Verwaltungsvorschriften den Erfolg vieler Investitionen vereitelt und damit zahlreiche Arbeitsplätze vernichtet.

Und ich hatte Erfahrung gesammelt, wie man hier wirksam für Besserung sorgen kann. Genau deswegen hatte mich erst ein gutes halbes Jahr vor meiner Verletzung Minister Helmrich als Geschäftsführer der Gesellschaft zur Förderung der Entbürokratisierung eingestellt.

Ich hatte persönlich schon an einer Vielzahl von Gesetzgebungsverfahren mit gearbeitet. Vorlagen für Stellungnahmen des Bundes der Selbständigen / Deutscher Gewerbeverband formuliert, und den Bundesgeschäftsführer im Gespräch bei der Ausarbeitung der endgültigen Stellungnahme unterstützt. Diese Stellungnahmen wurden dann an die mit der Ausarbeitung neuer Gesetze befassten Fachreferate der zuständigen Ministerien gesandt. Ich wusste, dass sie dort aufmerksam gelesen wurden.

Natürlich hat es mich tief beeindruckt, als ich zum ersten Male persönlich die Position und Argumente der Selbständigen in einer Anhörung vertrat. Sagen wir fünfzig Vertreter aller möglichen Interessengruppen, die Herren alle in hochwertigen Anzügen, und viele von denen sahen so aus, als ob sie sich schon Jahrzehnte auf diesem Parkett bewegten. Alle waren vom Fachministerium eingeladen worden.

Deshalb hatte ich auch nicht gleich beim ersten Male meine eigene Stimme erhoben. Aber als es dann um eine Vorschrift ging, deren Bedeutung für den Selbständigen Mittelstand ich kannte, hatte ich mir ein Herz gefasst und festgestellt, dass die Herren vom Ministerium meinen guten Argumenten gut zu hörten, sich Notizen machten, und mir Fragen stellten, damit ihnen die entscheidenden Punkte ganz klar wurden.

Sie hätten mir wohl kaum Fragen gestellt, wenn diese Punkte nicht mit dafür entscheidend gewesen wären, wie ihr Gesetzesentwurf aussehen würde.

Klar war ich parteilos, aber ich konnte mitten in unseren politischen Apparat hinein wirken. Und wie man mit anderen Verbänden umgeht und sie zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit gewinnen konnte, hatte ich lange genug erfahren können.
Sei es als Teile unserer Volkswirtschaft, sei es als Verbraucher, all diese Interessengruppen und ihre Vertreter litten doch selbst unter dem Dschungel von Gesetzen und anderen Vorschriften, an dessen Entstehung sie mit gewirkt hatten. Unter ihnen gab es eine Vielzahl von klugen Köpfen, denen selbst klar war, wie teuer das alles ist. Wie viele Investitionen unterblieben, und wie viele Arbeitsplätze weg fielen.

Die bereit gewesen wären, ihre eigenen Interessen sinnvoller zu gewichten. Zum Beispiel in einer Arbeitsgruppe von Einzelverbänden zur Entbürokratisierung. Ich kam aus ihrer Mitte. Gehen Sie ruhig davon aus, dass ich vor hatte, die hier bestehenden exzellenten Möglichkeiten zu nutzen.

Glauben Sie etwa, ich hätte meine Stellung als Geschäftsführer erhalten, wenn nicht vorher wieder und wieder aufgefallen wäre, dass ich sehr effektiv arbeiten konnte? Ohne "Politischen Stall" hinter mir, oder auch nur ein Prädikatsexamen?

Denken wir an die vielen Jahre seit 1993 - glauben Sie nicht, dass all diese Minister, Parteifreunde Helmrichs und mächtigen Verbände einiges hätten erreichen können? Oh ja, ich kannte schon ein paar Tasten auf der Politischen Klaviatur. Vor allem aber kannte ich wichtige wirtschafts- und rechtspolitische Wahrheiten, und wusste, wie ich die unseren unterschiedlichen Interessengruppen nahe bringen konnte.

Nun, die GFE hat überlebt. Zeitweise nur, in dem ein Sohn ihres Vorsitzenden die Geschäftsführung übernahm. Heute führt sie den Namen: GFE - GESELLSCHAFT FÜR EFFIZIENZ IN STAAT UND VERWALTUNG und arbeitet am Regierungssitz Berlin.

Trotz aller Anstrengungen ist seit 1993 Vieles, viel zu Vieles versäumt worden. Ich selber bin von mehr als einer Million verlorener Arbeitsplätze überzeugt. Soweit erst mal zu den volkswirtschaftlichen Folgen. Wenn das nicht "von irgend einem Interesse" für Sie ist - nun, ich kann nicht die ganze Welt beglücken.

Politisches Versagen beim Schutz des Landfriedens und seine Folgen sind natürlich ein hochpolitisches Thema. Die CDU/CSU hat zu der gewalttätigen Bundestagsblockade am 26. 5. 1993 eine Dokumentation herausgegeben. Als ich die SPD fragte, warum sie sich an dieser Dokumentation nicht beteiligt habe, und ob ihre Abgeordneten etwa nicht auch beim Zugang zum Bundestag behindert worden seien, bekam ich die vielsagende Antwort: "Wenn die CDU/CSU meint, dazu eine eigene Dokumentation herausgeben zu müssen, so ist das ihre Sache".

Dabei war die Presse damals eine ganze Weile voll mit Fragen des richtigen Vorgehens gegen politische Gewalt. Aber offensichtlich hielt es die SPD nicht für ihre Angelegenheit, sich mit ihrem eigenen Versagen und dessen Folgen auseinander zu setzen.

Wobei für meine Verletzung das Vorgehen gleich von zwei SPD-Landesregierungen, das des Tatortes (NRW) und das des Herkunftsortes der Täter (Niedersachsen) mitverantwortlich ist. Beide drückten selbst bei schwerer Gewalttätigkeit von links beide Augen zu.

Mir persönlich erscheint hierbei die jahrelange, fortgesetzte Duldung von Gewalt durch (damals Ministerpräsident) Gerhard Schröder noch schädlicher als die NRW-Linie (damals Ministerpräsident Johannes) Raus, von deren Folgen an nur einem einzigen Tage ich so schwer betroffen wurde. Beide verantwortlichen Politiker habe ich mehrfach aufs Höflichste angeschrieben, ihnen mein Schicksal geschildert, und sie gebeten, sich für einen zukünftig besseren Schutz des Landfriedens ein zu setzten.

Ich musste ihnen auch mehrfach schreiben, denn auf meinen ersten Brief antwortete mir keiner von beiden.

In meinem zweiten Brief an Bundespräsident Rau erwähnte ich anerkennend seine christliche Überzeugung und seine Distanz von den Nazis, und siehe da: Rau ließ mir immerhin antworten. Nicht, dass er bzw. sein Mitarbeiter auf meine Fragen zur Inneren Sicherheit und seine Rolle als Landesvater dabei eingegangen wären, aber er ließ mich beim Sozialamt vorsprechen und untersuchen, ob ich einen besonderen Entschädigungsbedarf besäße.

Das Ergebnis seiner Reaktion war dann natürlich auch nichts als Pustekuchen.
Und Gerhard Schröder, der als Niedersächsischer Landesvater nie entschieden gegen die Göttinger Politische Gewalt vorgegangen war, die mich auf einer ihrer "Dienstreisen" zum Schwerbehinderten befördert hatten? Dem ich höflich vorschlug, sich für eine Verbesserung unserer inneren Sicherheit ein zu setzten?

In diesem Brief hatte ich nicht einmal sein langjähriges, eklatantes Versagen beim Kampf gegen politische Gewalt benannt. Und das ist nicht etwa meine persönliche Einschätzung.
Es begann ganz harmlos, als mich neben einem Kinderspielplatz ein alter Mann nach dem Grunde meiner auffälligen Verletzung fragte. Als er dann erfuhr, dass die Täter aus Göttingen gekommen waren, sagte er bitter, diese Politischen Gewalttäter hätten jahrelang die Stadt terrorisiert, und die Polizei sei nie entschieden gegen sie eingeschritten.
Er müsse es wissen. Er sei Arzt und komme aus Göttingen.

Bei unterschiedlichen Gelegenheiten bekam ich dann mehrfach erzählt, wie ungehindert die Antifa - angeblich gibt (oder gab) es in Göttingen vier Gruppen davon - hier durch die Stadt ziehen durfte.

Das klang etwa so: "Als ich noch nahe Göttingen lebte, war es eine friedliche Universitätsstadt. Aber das ist gründlich vorbei. Bei meinem letzten Besuch in Göttingen marschierten ganze Horden durch die Stadt, fast wie früher die SA. Die Bürger mussten sich in die Hauseingänge verdrücken." Das, so hörte ich, sei jede Woche so.
Ähnliches erfuhr ich von einem ehemals Göttinger Studenten und einer angesehenen Tageszeitung. Als ich dann auch die Göttinger Polizei um Stellungsnahme bat, hörte ich, es sei zu viel zu tun, um dergleichen Fragen zu beantworten.

Wundert es sie da noch, dass auch Kanzler Schröder mir nie eine Antwort zuteil werden ließ? Wahrscheinlich blieben ihm nur dadurch genug Kräfte, jetzt mit der Ostseepipeline noch mehr Geld zu verdienen.

Dabei ließ grade das vertraute Verhältnis Schröders mindestens zum Umfeld Politischer Gewalt eine besonders kenntnisreiche, gut abgewogene Antwort von ihm erhoffen. Wir erinnern uns: Gerhard Schröder kam selbst aus Göttingen.

Die Göttinger Grünen seines Kabinettskollegen Trittin hatten meinen Informationen nach regelmäßig im gleichen Etablissement getagt, wo sich auch eine für ihre Gewalttätigkeit berüchtigte Göttinger Antifa traf. Ein weiterer seiner Minister kam wiederholt wegen früherer persönlicher politischer Gewalttätigkeit in die Presse, und einer war - lang, lang ists her -Terroristen-Anwalt gewesen.

Dass der oder die Täter im Kabinett von Kanzler Schröder persönlich bekannt waren, will ich hier nicht nahe legen - aber der, der den Buss von Göttingen zur Demo nach Bonn organisiert hatte, das würde mich überhaupt nicht wundern.

Der gewiefte Politiker Schröder wusste gewiss, dass er mit seiner im Ergebnis katastrophalen Politik erst mal seine Chancen bei unserer friedenshungrigen Öffentlichkeit verbessern würde. Dies wurde mir überdeutlich gemacht, als ich versuchte, die Folgen seiner Politik öffentlich zu machen.

Ein paar Monate vor seiner Abwahl wandte ich mich mit einer Presseerklärung an die Mitglieder der Bundespressekonferenz, und damit fast alle überregionalen deutschen Medien. Darin fragte ich unter anderem:

Zur Wahl: Brach G. Schröder Amtseid? Landfrieden schutzlos, Arbeitsplätze weg
Die Bürokratie wuchert ungebremst weiter und zerstört zehntausende Arbeitsplätze - auch, weil Gerhard Schröder schon als Ministerpräsident fortwährend anderes zu tun hatte, als seinem Amtseid zu folgen und die notorisch gewalttätige Göttinger Szene bändigen zu lassen. Genau diejenigen, die 1993 den Geschäftsführer der Gesellschaft zur Förderung der Entbürokratisierung, … fast umbrachten.

Mit jahrelanger Berufserfahrung als Wissenschaftlicher Mitarbeiter des größten und ältesten Verbandes der Mittelständischen Wirtschaft Deutschlands (BDS / DGV) kannte …(ich)… die arbeitsplatzvernichtende Wirkung der Bürokratie und wusste, wie man dagegen vorgehen kann; und als Verbandsgeschäftsführer mit einem Landesjustizminister (H. Helmrich) als Vorsitzendem im Rücken hatte er auch exzellente Möglichkeiten dazu. (gekürzt)

Sogar die persönliche Antwort eines Journalisten erhielt ich nun. Er verbat sich alle weiteren Presseerklärungen meinerseits. (Nicht, dass ich so etwas vor gehabt hätte.) Ich vermute mal, alle anderen Empfänger warfen meine Presseerklärungen unausgewertet weg.

Was an meiner Presseerklärungen kam bei dem erbosten Mitglied der Bundespressekonferenz eigentlich so schlecht an? Seien Sie ganz sicher, dass ich genau weiß, wie so eine Pressemitteilung auszusehen hat. Natürlich etwas anders, als ich es auf der kleineren Fläche einiger Buchabsätze wiedergeben kann.

Dies beginnt mit der fetten Bezeichnung "Presseerklärung" am Seitenanfang, geht weiter über den breiten, leeren Rand für Änderungen durch die Journalisten, und endet mit der ViSP-Angabe (Verantwortlich im Sinne des Presserechtes ist …).

Und meine Ausdrucksweise? Glauben Sie mir, Entwürfe für Presserklärungen habe ich etliche Jahre lang formuliert und die überarbeiteten und von der Verbandsspitze abgesegneten Exemplare in die Fächer der Mitglieder der Bundespressekonferenz in Bonner Regierungsviertel geworfen. Danach veröffentlichten regelmäßig ein paar Zeitungen Artikel auf der Grundlage "meiner" Presseerklärungen.

Das einzige, was mir danach noch als Grund für die erboste Antwort des Journalisten möglich erscheint, sind verfestigte Erwartungshaltungen unserer Hauptstadtkorrespondenten. Sind die Linken nicht immer die Guten?

Grade angesichts dieser weit verbreiteten Einstellung erwarte ich von einem sorgfältigen Redakteur, nicht die Augen vor Tatsachen zu verschließen, die der vor gefassten Meinung vieler Leser oder auch ihrer eigenen widersprechen.

Mit dieser öffentlichen Meinung im Rücken hielten sich dann auch nicht nur unsere höchsten Politiker und die Polizei, sondern auch die Justiz beim Vorgehen gegen politische Gewalt von links bedeckt.

Das war mir klar genug gemacht worden. Noch bevor ich mich an damals sehr geschätzte Politiker in höchsten Positionen heran wagte, hatte ich versucht, mich in zwei laufende Prozesse einzuschalten, einmal gegen Kniesel, zum anderen gegen die Göttinger "Autonome Antifa".

Gegen Kniesel, den Bonner Polizeipräsidenten am 26. Mai 1993. Gegen seine Amtsführung lief ein Prozess (in dem, soweit ich es weiß, seine Duldung der Politischen Gewalt gegen mich keinerlei Rolle spielte - zu unwichtig). Ich schilderte dem zuständigen Gericht, dass den Polizisten verboten worden sei, Bürgern zu helfen, und die für mich katastrophalen Folgen. Eine Antwort erhielt ich nie.

Und das Verfahren gegen die Göttinger "Autonome Antifa"? Sie sollte als Kriminelle Vereinigung verboten werden, wohlweislich vom Schwurgericht Lüneburg und nicht etwa in Göttingen. Dies erfuhr ich aus dem Blättchen der Kommunistischen Plattform der PDS.

Mitglieder der Göttinger "Autonomen Antifa" haben, da bin ich mir sicher, mindestens Beihilfe zu meiner lebensgefährlichen Verletzung geleistet.

Keines der angesprochenen Gerichte, keine der angesprochenen Staatsanwaltschaften; ja, nicht einmal das Landeskriminalamt in Hannover, das gegen die "Autonome Antifa" aus Göttingen ermittelt hatte, und das ich ebenfalls anschrieb, würdigten mich auch nur einer Antwort.

Selbst, von wo aus es zentral gesteuert wurde, zu verhindern, dass Deutsche an diesem Tage in der Nähe des Bundestages ohne Lebensgefahr durchkommen konnten, habe ich höchst wahrscheinlich erfahren. Danach war es die Kneipe Pawlow in der Bonner Nordstadt (Heerstaße 64), von der aus die Blockade per Funk organisiert wurde.

Und die Polizei? Hatte sie denn nichts mit davon mit bekommen? Doch, aber sie betrieb Deeskalationsstrategie. Den Funkverkehr hörte sie fleißig mit, ohne ihrer gesetzlichen Verpflichtung auch nur annähernd nach zu kommen. Die Folgen habe ich hoffentlich deutlich genug geschildert.

Dass das Verhältnis mancher Deutscher nach links oder rechts manche Merkwürdigkeiten aufweist, wurde uns zuletzt am Falle Günter Grass klar. Wobei ich es für eine Sache halte, als Junger Mensch seine Heimat durch Eintritt in eine Elitetruppe verteidigen zu wollen, eine ganz andere, als Politiker erst einen Amtseid ab zu legen, und sich dann die Welt so zurecht zu legen, dass die Hinnahme von rechtswidriger Gewalt zum Normalfall wird.
Wie oft hatten meine Eltern von mir gefordert, jeder Gewalt gegen unser Recht und unseren Staat entgegen zu treten, solange dies noch möglich war. Oder hätte ich doch nicht versuchen sollen, mich hier besser zu verhalten, als viele Deutsche unter der Nazidiktatur?

Ich möchte Sie um Verständnis dafür bitten, dass ich hier, in einer Angelegenheit, die mich ganz elementar berührt, möglichst sorgfältig vorgehe und politisch tiefer schürfe als ´33. Diese hier angewandte Sorgfalt und den hier von mir gewählten Blickwinkel halte ich für die einzige in dieser Sache angebrachte Vorgehensweise. Und natürlich hoffe ich, dass ich Ihnen so etwas für Sie Neues und Interessantes miteilen kann. Das würde mich sehr freuen, selbst wenn Sie dann anders urteilten. Denn ist es nicht richtig: "Die Gedanken sind frei..."

Reinhard Samme für den gesamten Bericht außer den folgenden Nachtrag Bonn den 27. 9. 2010

Am 30.9.´16 noch dieser kleine Nachtrag zu Ehren von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft: Dieser ganze Bericht beschreibt die Folgen des Versagens der NRW Landesregierung, und jetzt komme ich zu Ihrem Versagen, Ihrer Weigerung, mir den Verlust meiner  meiner geliebten Sammler-Les-Paul zu ersetzten, mit der ich hunderte Mal auf vielen Bühnen Spass hatte. Sie können sicher sein, dass ich sie ohne lebensgefährliche Hirnverletzung nicht auf den Sperrmüll hätte bringen lassen. Aber Sie, Frau Kraft, lehnten meine Forderung nach Schadensersatz ab - vollkommen verantwortungslos, nachdem die Landesregierung mich fast hatte um bringen lassen!

Optionen für weitere Angaben:

Entscheiden Sie, ob und wie Sie das hier dargestellte Material nutzen wollen. Bei meiner Visitenkarte als Geschäftsführer wäre die Einfügung in den Text nach der Umwandlung der Namens-Abdeckung in ein Raster problemlos möglich. Das wäre wohl notwendig, wenn sie z. B. unter die Kapitel-Überschrift "Ex und hopp, oder: Antifaschisten schlagen zu" gesetzt werden sollte.

Ein Bild von mir als Kleinkind könnte an den Beginn meines "Lebenslaufes" gesetzt werden; meine Anonymität bliebe trotz dem gewahrt. Ich könnte es Ihnen bei Interesse auch größer als Datei zusenden. Die BDS-Visitenkarte könnte vielleicht auch dazu.

 

 

"Lebenslauf" - z.B. wirtschaftspolitische und Erfahrungen als Autor

"Reinhard Gamme", geboren in Heidelberg am 4. 2. 1955, drei Kinder, Schulzeit 1961 bis 1973 in Bonn, Abschluß: Abitur. Während dieser Zeit singe ich im Chor, spiele Flöte, Geige und Bratsche und lerne dann auch noch Gitarre. 1965 /-66 trete ich vor Konrad Adenauer sowie bei Aufführungen der Oper Carmen im Gassenbubenchor in Bonn und Solingen auf.

1973 - 1983 in Bonn und schönes Leben in Heidelberg; z. B. regionale Auftritte mit "progressiven" Rockbands in Bonn, Koblenz, Heidelberg u. A. Daneben schaffe ich auch noch meine Ausbildung zum Volljuristen. Im Anschluss daran und mit guten Angeboten als Berufsmusiker reise ich 1883 / -84 mit meiner Freundin für u. a. durch den Iran Khomeinis für ein halbes Jahr nach Indien.

Danach geht es doch noch ans Lernen, auch bei einer betriebswirtschaftlichen Kurzausbildung in Frankfurt am Main. Währenddessen (1986 /-87) trete ich mit einer Bluesband viel in Süd- und Westdeutschland auf. Als Erfolg werde ich gleich danach, also 1987 bis 1992 Referent für Öffentlichkeitsarbeit und Wissenschaftliche Mitarbeit beim größten und ältesten Verband der Mittelständischen Wirtschaft Deutschlands (BDS / DGV).

Hier wirke ich durch die Erarbeitung von Stellungnahmen sowie bei Anhörungen an der Verbesserung neuer Gesetze mit und schreibe Zeitungsartikel sowie Presseerklärungen. Ich heirate, bekomme zwei Söhne und spiele regelmäßig bei den Bluessessions in Bonn oder Köln mit.

Meine Arbeit fällt auf, und so werde ich zum Oktober 1992 Geschäftsführer der Gesellschaft zur Förderung der Entbürokratisierung; ein Sahnestückchen!
Doch werde ich am 26. Mai 1993 auf dem Weg zur Arbeit von gewalttätigen Demonstranten gegen die Asylrechtsnovelle vom Fahrrad gerissen und lebensgefährlich verletzt. Mit den Folgen - ich bin seither erwerbsunfähig und schwerbehindert, die Bürokratie wuchert und wuchert… - müssen Sie und ich bis heute leben.

- - - Stand dieser "gemischten Kostprobe": März 2007 - Dez. 2010

"Reinhard Gamme"

Mich erreichen Sie unter rg@deeskalation-so-nicht.de (Einfach draufklicken - mir scheint, jetzt funktioniert es endlich). Verlage bitte ich um Angabe ihrer Postanschrift, Telefonnummer und Homepage.

zum Inhaltsverzeichnis - - - - - - - zur Startseite - - - - - - zum Überblick